Seit Jahrtausenden streiten die Historiker darüber, ob die menschliche Geschichte bestimmten Gesetzmäßigkeiten folgt und welche dies sind. Doch wie immer man diese Fragen beantworten mag, es herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass immer wieder auch einzelne herausragende Personen den Lauf der Geschichte entscheidend beeinflusst haben.
Eine dieser herausragenden Personen in unserer Zeit ist sicherlich Wladimir Putin, der Russland seit dem Beginn seiner ersten Präsidentschaft im Jahr 2000 zu einer globalen Macht umgeformt hat. Dies sagen nicht nur seine Verbündeten, sondern auch seine Gegner. Während die ersteren Putins entscheidenden Einfluss loben, sehen die letzteren seine Rolle höchst kritisch.
Doch hier soll es weniger um Putin selbst, als vielmehr um seine entscheidende Mitwirkung an einer der wohl größten Überraschungen der russischen Geschichte gehen, nämlich am Wiederaufstieg des orthodoxen Christentums seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1990, der sich nicht nur an der Restauration und am Neubau tausender Kirchen zeigt.
Dass diese Entwicklung in einem Land stattfindet, dass über mehr als sieben Jahrzehnte kommunistisch und somit atheistisch geführt wurde, ist nur auf den ersten Blick überraschend. Denn auch in anderen Ländern des einstigen Ostblocks haben die Menschen viel stärker am Christentum und an anderen bewährten Traditionen festgehalten als im liberalen Westen.
Unerwartet kam der Wiederaufstieg des Christentums in Russland aber sicherlich deshalb, weil der neue Herrscher Putin selbst von 1975 bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion in hoher Position für den Auslandsgeheimdienst KGB arbeitete. Von 1985 bis 1990 war er in Dresden tätig, wo er zuletzt immerhin den Dienstgrad eines Oberstleutnants erreichte.
Doch Putins Karriere beim KGB bedeutet eben nicht, dass er ein glühender Kommunist gewesen wäre. Mit 18 Monaten wurde er von seiner Mutter heimlich getauft. „Der Vater, der Mitglied der Kommunistischen Partei war, wusste nichts“, berichtete Putin 2015 im Rahmen einer Fernsehdokumentation. Ein kleines Kreuz, das ihm seine Mutter einst schenkte, trägt er offenbar stets bei sich.
Der russisch-orthodoxe Bischof Tichon, der Putin auf vielen Reisen begleitet hat und wohl auch dessen geistlicher Ratgeber ist, sagte Ende 2001 in einem Interview, dass Putin „ein wahrhaftiger orthodoxer Christ“ sei, der zum Beispiel auch die Beichte ablegt. Doch nicht nur Putin, sondern eine riesige Zahl von Russen beschäftige sich nach Jahren atheistischer Ideologie nun wieder mit dem Glauben.
Freilich ist Putin nicht nur Christ, sondern auch Nationalist, und regelmäßig weist er darauf hin, dass Russland ein säkularer Staat ist. Doch welch ein Glücksfall Putin für die Kirche ist, zeigt sich gerade auch im Vergleich mit früheren Herrschern. Peter I. etwa war ein Freimaurer. Seine Nachfolgerin Katharina I. war eine ehemalige Prostituierte, die Peter als Kriegsbeute aus Deutschland mitgebracht hatte.
Peter III. war eigentlich Lutheraner und wurde nach nur sechs Monaten als Zar unter Beteiligung von Zarin Katharina II. ermordet, die den orthodoxen Glauben ebenfalls nur für den Schein annahm. Alexander I. wurde von einem Freimaurer erzogen und trat dem Bund später selbst bei. Verheerend war auch, dass viele Monarchen immer wieder Atheisten und Freimaurer an die Spitze der Synode setzten.
Der vorübergehende Niedergang des russischen Christentums begann also nicht erst mit der kommunistischen Revolution im Oktober 1917. Vielmehr war der Atheismus spätestens im 19. Jahrhundert eine starke Strömung in den russischen Eliten, vor dessen schlimmen Auswirkungen auf die Moral der russischen Gesellschaft etwa die Romane von Fjodor Dostojewski eindringlich warnten.
Seit seiner Machtübernahme vor mehr als zwei Jahrzehnten hat Putin nicht nur entscheidend zum Wiederaufstieg der Orthodoxen Kirche beigetragen, sondern in seiner Rhetorik stellt er auch regelmäßig Russland als den Verteidiger christlicher Werte gegen den vermeintlich nihilistischen Westen dar. Daher betrachten ihn heute viele Konservative in den USA durchaus mit Wohlwollen.
Putins Kritiker hingegen werfen ihm vor, dass er das Christentum lediglich instrumentalisiert, um seine geopolitischen Ambitionen voranzutreiben. Tatsächlich hat das orthodoxe Christentum in Osteuropa nach dem Ende des Kalten Kriegs einen deutlichen Aufschwung erlebt. Die Verwendung des orthodoxen Christentums durch den Kreml ist also auch machtpolitisch sinnvoll.
In neun von Russlands Nachbarstaaten – Moldawien, Griechenland, Armenien, Georgien, Serbien, Rumänien, Ukraine, Bulgarien und Weißrussland – bekennen sich laut Zahlen von Pew Research mehr als 70 Prozent der Menschen zum orthodoxen Glauben. Und dieses Wiederaufleben der Orthodoxie geht meist einher mit einer pro-russischen Stimmung.
Pew Research stellte bereits im Jahr 2017 fest, dass in den neun mehrheitlich orthodoxen Ländern der ehemaligen Sowjetunion mit Ausnahme der Ukraine mehr als die Hälfte der Befragten der Meinung sind, dass „ein starkes Russland notwendig ist, um den Einfluss des Westens auszugleichen.“ Zudem zeige die orthodoxe Identität auch Gefühle des Stolzes und der kulturellen Überlegenheit.
Viele osteuropäische Staaten stehen heute am Scheideweg: verstärkte Integration in den Westen oder verstärkte Kooperation mit Russland. Mithilfe des orthodoxen Christentums erreicht Putin gleich zwei Ziele. Einerseits schafft er eine kulturelle Nähe zwischen Osteuropa und Russland und andererseits eine kulturelle Entfremdung zwischen Osteuropa und dem Westen, der sich zuletzt immer weiter von traditionellen Werten entfernt hat.