Politik

Streit mit der EU: Die Schweiz steuert auf den Schwexit zu

Erst Brexit, jetzt Schwexit? Im Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU ist ein tiefer Riss entstanden - ob er sich kitten lässt, ist mehr als fraglich.
27.06.2021 13:05
Aktualisiert: 27.06.2021 13:05
Lesezeit: 4 min
Streit mit der EU: Die Schweiz steuert auf den Schwexit zu
EU-Hauptquartier in Brüssel, 26. Mai dieses Jahres: Guy Parmelin, Bundespräsident der Schweiz, und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen geben auf einer Pressekonferenz bekannt, dass die Schweiz die Verhandlungen über ein von Brüssel gewünschtes Rahmenabkommen zu den bilateralen Beziehungen beendet hat. (Foto: dpa) Foto: Francois Walschaerts

Der unlängst erfolgte Rückzug der Schweizer Regierung aus den langjährigen Verhandlungen über ein Rahmenabkommen mit der Europäischen Union hat eine tiefe Krise in den bilateralen Beziehungen ausgelöst. Für die EU sind die Folgen überschaubar: Die wirtschaftlichen Beziehungen werden beschädigt, aber die Union wird weitermachen. Für die Schweiz könnten die Konsequenzen dramatischer sein. Da der künftige Zugang der Schweiz zum EU-Binnenmarkt gefährdet ist, könnte der Verhandlungsabbruch für die Schweizer ein Überdenken ihrer Beziehung zur EU erfordern, das ähnlich grundsätzlich ist wie im Vereinigten Königreich nach dem Brexit-Referendum 2016.

Die Schweiz ist kein EU-Mitgliedstaat, kommt dem aber in vielerlei Hinsicht sehr nahe. Durch rund 120 bilaterale Abkommen ist die Schweiz Mitglied des grenzfreien Schengenraums, ist in Bereichen wie Verkehr, Forschung und dem Erasmus-Studentenaustauschprogramm eng mit der EU verflochten und genießt in Sektoren von Finanzen bis hin zu Pharmazeutika vollen Zugang zum Binnenmarkt.

Alles in allem profitiert die Schweiz wahrscheinlich mehr vom Binnenmarkt als jedes andere europäische Land und zahlt wenig als Gegenleistung. Eine Studie der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 2019 ergab, dass der EU-Binnenmarkt das jährliche Pro-Kopf-Einkommen der Schweizer um 2.900 Euro pro Jahr erhöht – weit über dem EU-Durchschnitt in Höhe von 1.000 Euro –, während der entsprechende finanzielle Beitrag der Schweiz (wenn er denn gezahlt wird) die Schweizer faktisch weniger als 14 Euro pro Kopf und Jahr kostet.

Doch die Schweiz erfreut sich nicht nur wirtschaftlich am „Free Lunch“. Das Hauptproblem des „bilateralen Weges“, an dem die Schweizer seit ihrem „Nein“ zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) in einem Referendum 1992 festhalten, ist die fehlende kontinuierliche Aktualisierung des Binnenmarktrechts in der Schweiz. Die Öffentlichkeit in der Schweiz vertritt seit langem die Ansicht, dass „fremde Richter“ keine Rolle bei der Auslegung der Gesetze des Landes spielen sollten. Dies kollidiert jedoch mit der Erfordernis des Binnenmarktes nach einer einheitlichen Anwendung der supranationalen Regeln.

Das Institutionelle Rahmenabkommen (IFA), das die EU und die Schweiz 2018 nach fünfjährigen Verhandlungen erzielten, war ein verspäteter Versuch, die bilateralen Beziehungen auf eine nachhaltige Basis zu stellen und den Weg für einen weiteren Zugang der Schweiz zum EU-Markt zu ebnen. Um diese Einigung zu erreichen, machte die EU angesichts der Schweizer Bedenken hinsichtlich ihrer Souveränität erneut erhebliche Zugeständnisse.

Anstatt eine automatische Übernahme der Rechtsvorschriften für den Binnenmarkt zu verlangen, billigte die EU der Schweiz drei Jahre zu, um diese in innerstaatlichen Verfahren zu verabschieden (einschließlich möglicher Referenden). Und anstatt auf die alleinige Zuständigkeit des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) zu bestehen, stimmte die EU einem schiedsgerichtlichen Streitbeilegungsmechanismus zu, der den EuGH nur bei der Auslegung von Begriffen des EU-Rechts einschalten würde.

Bezeichnenderweise räumte die EU auch ein, dass das IFA nur für fünf Marktzugangsabkommen gelten würde, vom Verkehr bis zur Personenfreizügigkeit. Das bilaterale Freihandelsabkommen von 1972 blieb tabu. Beide Seiten gaben lediglich eine Erklärung ab, in der sie sich politisch zu dessen zukünftiger Modernisierung verpflichteten.

Allen diesen Zugeständnissen zum Trotz – die die gleichen Wettbewerbsbedingungen des Binnenmarktes gefährden würden – hat der Schweizer Bundesrat das IFA nie unterzeichnet oder auch nur verteidigt. Im Gegenteil, die Schweiz verfolgte stets die Strategie, mehr zu fordern – bis sie den Verhandlungstisch verließ.

Die Gespräche waren aufgrund von Unstimmigkeiten über die Regeln für staatliche Beihilfen schwierig geworden. Im Rahmen des IFA bot die EU eine Zwei-Säulen-Vereinbarung an, bei der die EU-Regeln in der Schweiz gelten würden, aber durch einen autonomen Schweizer Überwachungsmechanismus mit Befugnissen, die denen der Europäischen Kommission entsprechen, umgesetzt werden würden. Doch als die EU ihre Beziehung mit dem Vereinigten Königreich nach dem Brexit aushandelte, waren einige in der Schweiz der Meinung, dass das Vereinigte Königreich einen „besseren“ Deal für staatliche Beihilfen erhielt.

Dieser „Brexit-Neid“ ist durch nichts zu begründen. Während der Brexit den vollständigen Austritt des Vereinigten Königreichs aus dem Binnenmarkt bedeutete, bestand der Hauptzweck des IFA darin, den Zugang der Schweiz zu erhalten.

Ein noch größerer Dorn im Auge der EU waren die Proteste der Schweiz gegen die mit der Freizügigkeit verbundenen Ansprüche von EU-Bürgern auf Schweizer Sozialleistungen und die Sorge um einen Abwärtsdruck auf das heimische Lohnniveau. Auch hier haben die Schweizer keine überzeugenden Argumente.

Nach dem Schweizer Referendum 2014 „gegen Masseneinwanderung“ räumte die EU ein, dass das Schweizer Recht von Schweizer Arbeitgebern verlangen kann, einheimischen Arbeitssuchenden Vorrang zu geben. Das IFA gewährt Ausnahmen – sofern diese nicht diskriminierend und verhältnismäßig sind – um das Schweizer Lohnniveau zu schützen. Und der EuGH hat anerkannt, dass die Freizügigkeit nicht absolut ist und dass nicht erwerbstätige EU-Bürger von den Sozialleistungen anderer Mitgliedsstaaten ausgeschlossen werden können.

Mehr könnte die EU nicht zugestehen. Gerade weil diese heiklen Fragen nicht nur die Schweiz betreffen, kann die EU den Schweizern keinen Freifahrtschein geben. Alle Länder gleich zu behandeln, ist nicht nur für die Integrität des Binnenmarktes wichtig, sondern auch für die politische Überlebensfähigkeit der EU. Wenn die EU Drittstaaten Privilegien einräumen würde, die selbst ihre Mitgliedsländer nicht genießen, könnten weitere Länder den Austritt anstreben. Die EU und die Schweiz müssen Lösungen innerhalb eines gemeinsamen Regelwerkes finden, nicht außerhalb.

Viele Schweizerinnen und Schweizer verkennen ihre ungeheuren Privilegien gegenüber der EU und dass diese Rosinenpickerei nach dem Brexit nicht weitergehen kann. Alles in allem hat die Schweizer Regierung wenig Interesse an einer fairen Binnenmarktregelung mit der EU gezeigt und sieht sich nach dem Abbruch der Gespräche mit unmittelbaren wirtschaftlichen Konsequenzen konfrontiert.

Zunächst einmal ist der künftige Zugang zum Binnenmarkt in den Bereichen Strom und Gesundheit vom Tisch. Zudem verlor die Schweiz am 26. Mai den Zugang zum EU-Markt für neue Medizinprodukte, weil das Abkommen über die gegenseitige Anerkennung zwischen der EU und der Schweiz nicht aktualisiert wurde. Maschinen und Chemikalien sind als nächstes an der Reihe. Stück für Stück werden sich die beiden Volkswirtschaften in diesen Sektoren entkoppeln, was die Schweiz schätzungsweise bis zu 1,2 Milliarden Euro pro Jahr kosten wird.

Die EU muss bald weitere schwierige Entscheidungen treffen, nicht zuletzt in Bezug auf die Teilnahme der Schweiz am EU-Forschungsprogramm „Horizon Europe“. Forschungszusammenarbeit ist offensichtlich für beide Seiten von Vorteil. Aber da die Schweiz ihre finanziellen Beiträge zurückhält und Bemühungen um tragfähige institutionelle Lösungen von sich weist, hat die EU anscheinend keine andere Wahl, als mit der Faust auf den Tisch zu hauen.

Der Bruch zwischen der EU und der Schweiz erfolgt zu einem Zeitpunkt, an dem auch die britische Regierung der Europäischen Union unverfroren die Stirn bietet, indem sie von wichtigen Bestimmungen des Irland-Nordirland-Protokolls abrückt und die EU auffordert, sich anzupassen. Es rumort in mehreren der umfassenderen Wirtschaftspartnerschaften der EU, da auch die norwegische Unterstützung für den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) immer brüchiger wird.

Doch die schwierigsten Entscheidungen kommen auf die Schweizer zu. Eine kürzlich durchgeführte Meinungsumfrage ergab, dass sich mehr als 60 Prozent der Schweizer für das IFA aussprechen. Ähnliche Mehrheiten unterstützen allerdings das EWR-Modell oder sogar das Modell der Abkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich und der EU und Kanada.

Wie die Kommission den Schweizer Bundesrat nach dem Abbruch der Verhandlungen erinnerte, ist eine Modernisierung der bilateralen Beziehungen dringend erforderlich. Stattdessen beginnt nun eine Reise ins Ungewisse.

Georg E. Riekeles ist stellvertretender Direktor der Denkfabrik "European Policy Centre".

Aus dem Englischen von Sandra Pontow

Copyright: Project Syndicate, 2021.

www.project-syndicate.org

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