Deutschland

Täter sitzen in Verkehrsministerium und Bundeskanzleramt: Die Bahn ist faktisch pleite

Misswirtschaft und Korruption haben die Deutsche Bahn ruiniert. Im Gespräch mit den Deutschen Wirtschaftsnachrichten beschreibt der Bestseller-Autor Arno Luik die Stationen des Niedergangs, benennt die Verantwortlichen und sagt, was zu tun ist - damit gerettet werden kann, was noch zu retten ist.
03.07.2021 11:25
Aktualisiert: 03.07.2021 11:25
Lesezeit: 6 min
Täter sitzen in Verkehrsministerium und Bundeskanzleramt: Die Bahn ist faktisch pleite
Bei der Bahn ist so manches ziemlich merkwürdig. (Foto: dpa)

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Der Untertitel Ihres Buches „Schaden in der Oberleitung“ lautet „Das geplante Desaster der Deutschen Bahn“. Wie groß ist dieses Desaster, und inwiefern ist es geplant?

Arno Luik: Die Deutsche Bahn ist in den vergangenen 25 Jahren so zerstört worden, dass sie sich heute in einem fast irreparablen Zustand befindet. Die Bahnreform von 1994, die die Bahn an die Börse bringen sollte, hat das Desaster ausgelöst. Und dieser Kurs, der als Ziel die Privatisierung hatte, war gewollt – von ganz oben, speziell vom Bundeskanzleramt. Die Bahn sollte für die Börse fit gemacht, für die Börse sexy werden. Also wurde gespart und gespart – an Menschen, Material, Reparaturen. Dieser Raubbau fiel lange nicht auf, denn: Die Substanz der Bahn war gut, nahezu perfekt. Aber nun rächt sich diese destruktive Politik gnadenlos. Wir haben eine unverantwortliche Zerstörung der Infrastruktur erlebt und eine Verschleuderung von Volksvermögen, das über Generationen aufgebaut wurde. Wie volkswirtschaftlich unverantwortlich die Bahn noch heute agiert, zeigt sich ganz aktuell und beispielhaft an dem Stolz der Bahn AG, ihren neuen ICE-4-Zügen: Enge, unbequeme Sitze ließ sie in diese Züge einbauen. Doch diese Quäl-Sitze ärgerten die Kunden so sehr, dass die Bahn nun insgesamt 60.000 Sitze auswechseln und menschenfreundlicher gestalten muss. Die Gesamtkosten dieser Sanierungsarbeiten, die durch die DB-AG-typische Unfähigkeit oder Gleichgültigkeit provoziert worden sind: rund 50 Millionen Euro. Dazu kommt noch dies: Bei diesen fast nagelneuen ICE-4-Zügen müssen jetzt auch noch 1.000 schadhafte Achsen ausgetauscht werden – eine Überforderung für die eh schon überlasteten und zusammengesparten Bahnbetriebswerke. Wiederum Zusatzkosten in Millionenhöhe, wiederum Zugausfälle, wiederum Ärger mit Reisenden. Kurz: Die Bahn befindet sich in einem Zustand, der für ein Hochtechnologieland erbärmlich ist.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Übertreiben Sie da nicht ein wenig?

Arno Luik: Ich übertreibe ganz und gar nicht, leider. Diese Deutsche Bahn ist, wie Schweizer Zeitungen spotten, in einem „pitoyablen Zustand“. Schauen Sie sich einfach ein paar Zahlen an: Wenn die Bahn, was der Mindestanspruch für das Hochtechnologieland Deutschland sein muss, ein so perfektes Netz wie die Schweiz betreiben wollte, müsste sie sofort 25.000 Kilometer Strecke zusätzlich haben. Ein Ding der Unmöglichkeit, denn: Hier wurde nicht nur sehr viel Bahnland verkauft, hier

wurden auch Gleise im großen Stil abgebaut. Heute haben wir in Deutschland noch 33.000 Kilometer – gut 20 Prozent weniger als noch vor 25 Jahren. Im selben Zeitraum ist die Zahl der Straßenkilometer um über 50 Prozent gewachsen – um über 300.000 Kilometer. Da bleibt wenig bis gar nichts von dem Versprechen der Politik, mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen. Wie grotesk, nein, frech dieses Versprechen der Politik ist, dokumentieren noch ein paar andere Zahlen: Gab es 1994 noch 12.000 Gleisanschlüsse für die Industrie, sind es heute noch knapp über 2000. Hatte die Bahn 1994 noch über 130.000 Weichen und Kreuzungen, sind es heute gerade noch 70.000 Stück. Aber jede rausgerissene Weiche oder stillgelegtes Gleis hat Folgen: Züge können sich nicht mehr überholen, es gibt keine Ausweichmöglichkeiten mehr. Auf weniger Gleisen ballt sich mehr Verkehr, das System ist überlastet und überfordert – es gibt Staus, Verspätungen werden zum Normalfall. Fahrplan ade. Das Desaster, gefördert durch Inkompetenz, Vernachlässigung, Schlamperei, hat noch in einer anderen Beziehung katastrophale Ausmaße. Die Bahn-Chefs haben innerhalb von einem Vierteljahrhundert Schulden in Höhe von 35 Milliarden Euro angehäuft. Die Bahn AG ist faktisch pleite.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wer sind die maßgeblich Verantwortlichen für diese Entwicklung?

Arno Luik: Die Verantwortlichen für das Fiasko, also die Täter, sitzen seit vielen Jahrzehnten im Verkehrsministerium, darüber hinaus natürlich im Berliner Bahn-Tower, aber vor allem im Bundeskanzleramt. Dort wurden und werden die Weichen gestellt, dort wird beschlossen, wer Verkehrsminister sein darf, wer Bahn-Chef wird. Letztendlich wird auch dort entschieden, wie die Verkehrspolitik aussehen soll. Und da hieß und heißt es unbeirrbar: Vorfahrt Auto. Deutschland, fast vergessen, war mal ein Bahnland, Vorbild für fast alle Länder. Die Deutsche Bundesbahn funktionierte wie ein Uhrwerk, nicht ohne Grund gab es diesen Spruch: „Pünktlich wie die Eisenbahn!“ Das ist längst vorbei. Spätestens in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde – politisch gewollt – die Zerstörung der Bahn eingeleitet. Ein Beispiel: In den 70ern Jahren gab es in NRW unter der SPD/FDP-Regierung von Ministerpräsident Heinz Kühn für Kommunen oft nur Kredite, wenn diese zusagten, ihre Bahnhöfe schließen zu lassen. Aber so richtig kaputt gemacht wurde die Bahn unter der rotgrünen Regierung von Schröder/Fischer. Sie brachten Hartmut Mehdorn an die Macht – ein Mann aus der Auto- und Luftfahrt-Industrie. Ein Mann, der keine Ahnung vom komplexen System Bahn hatte, ein Bahn-Azubi, der vor allem eins schaffte: sein Gehalt um viele Hundert Prozent zu steigern, allein in den Jahren 2005/2006 hat er es verdoppelt – auf 3,18 Millionen Euro. Und der es gleichzeitig schaffte, natürlich wieder mit der Unterstützung der Politik, die Bahn systematisch zu demontieren und ruinieren. Wie oft wird diese Weiche gebraucht?, fragte er seine Bahner. Was? Nur zehnmal im Jahr! Raus damit. Und wieder war eine Ausweichmöglichkeit verschwunden.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wie kann es sein, dass sich all diese Probleme über die Jahre angehäuft haben? Warum hat die Politik nicht gegengesteuert?

Arno Luik: Die Regierenden, sie fast alle, verachteten die Bahn. Beispielhaft für diese Haltung steht der ehemalige Verkehrsminister Franz Müntefering (SPD). Für ihn war die Bahn das Resteverkehrsmittel für jene, die sich ein Auto nicht leisten konnten. Dass dieser Staatskonzern ein wichtiges Mittel sein könnte für eine bessere Klima- und Ökopolitik, das ignorierten fast alle regierenden Politiker. Ein Zufall in diesem autoverrückten Autoland? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Heute ist es ja schick, die Bahn als Klimaschützer zu bejubeln. Aber trotz all der freundlichen Sprüche für die Bahn, ihre Zerstörung geht weiter. Ein kleines Beispiel: Eine stillgelegte Bahnstrecke bei Kitzingen und Schweinfurt verkaufte die Bahn für ein Schnäppchen an einen Schrotthändler im Frühsommer 2019 – obwohl Regionalpolitiker, Kommunen und die regionalen IHKs diese Strecke reaktivieren wollten. Staatssekretär Gerhard Eck (CSU) lehnte diese mögliche Reaktivierung ab mit den Worten, diese Bahnstrecke sei „aus der Zeit gefallen“. Ein anderes Beispiel: Seit zehn Jahren regieren die Grünen in Baden-Württemberg. Sie hatten also sehr viel Zeit, etwas Gutes für die Bahn zu tun. Nur: Bis heute haben sie nicht einen einzigen Kilometer Bahnstrecke für den Alltagsbetrieb reaktiviert. Auch bei ihnen heißt es umweltschädigend: Weiter so! Vorfahrt Auto! Beispielhaft für dieses antiquierte Denken steht der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Im Frühherbst 2019 eröffnet Porsche ein E-Autowerk. Kretschmann lässt sich vor dem neuen Porsche-Modell „Taycan“ fotografieren, ein Elektro-Hochgeschwindigkeitsgeschoss auf vier Rädern: 761 PS, in 2,8 Sekunden auf 100, die Batterie wiegt 650 Kilo. Kretschmann, zur Erinnerung: ein Grüner, jubelt: „Toll, den Aufbruch in ein neues Zeitalter der Mobilität zu erleben!“ Und: „Porsche zeigt, dass genau hier in Baden-Württemberg die Mobilitätsrevolution stattfindet!“ Das hat nichts mehr mit Vernunft zu tun.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Im Mai 2015 gab es eine Anhörung im Deutschen Bundestag zum Projekt Stuttgart 21, bei der auch Sie als Experte befragt wurden. Wie steht es um dieses Projekt? Und für wie sinnvoll halten Sie es?

Arno Luik: Dieses Projekt ist nicht sinnvoll, und es wird nie sinnvoll sein. Bei Stuttgart 21 findet sich alles, was den Bahnverkehr zerstört. S21 ist der Meilenstein im Niedergang der Bahn. Es ist die Chiffre für den strukturellen Unsinn der Bahn: wie überehrgeizige Bahnmanager und ignorante Politiker sich ein unfassbar teures Denkmal (derzeitige, aber stets weiter steigende Kosten: 10 Milliarden Euro) setzen wollen. Auf Kosten des Bahnverkehrs. Auf Kosten der Bürger. Auf Kosten der Sicherheit. Auf Kosten der Umwelt.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Sagen Sie doch mal ganz konkret, was Sie an S21 besonders stört?

Arno Luik: Für S21 und diesen Tiefbahnhof werden unter Stuttgart Dutzende von Kilometer Tunnel gebohrt. Nur: Dafür gibt es noch keinen genehmigungsfähigen Brandschutz. Die Fluchtwege in der Tiefe sind an manchen Stellen nur 90 Zentimeter breit. Im Katastrophenfall werden sich die verzweifelt fliehenden Menschen dort stauen, Panik wird um sich greifen, und Rollstuhlfahrer haben sowieso überhaupt keine Chance. Ich bin sehr erstaunt, dass die Behindertenverbände nicht wegen S21 rebellieren. Für mein Buch habe ich Brandschutzexperten das vorliegende S21-Brandschutzkonzept analysieren lassen. Die waren geschockt. Ein Fachmann sagte: „Es ist eine Katastrophe mit Ansage. Im Fall eines Unfalls haben Sie die Wahl: Will ich ersticken? Oder zerquetscht werden? Oder verbrennen?“ Und der international bekannte Brandschutzexperte Hans-Joachim Keim, der gerufen wird, wenn passiert ist, was eigentlich nie hätte passieren dürfen, wie etwa die Tunnelkatastrophe von Kaprun, bei der am 11. November 2000 155 Menschen ums Leben kamen, sagte nach der Analyse des S21-Schutzkonzepts: „S21 hat das Potenzial, Europas größtes Krematorium zu werden“.

Info zur Person: Arno Luik, geb. 1955, war Reporter für Geo und den Berliner Tagesspiegel, Chefredakteur der taz, Vize-Chef der Münchner Abendzeitung und langjähriger Autor des Stern. Für seine Berichterstattung in Sachen Stuttgart 21 erhielt er 2010 den »Leuchtturm für besondere publizistische Leistungen« der Journalistenvereinigung „Netzwerk Recherche“. 2015, bei der Anhörung des Deutschen Bundestags zum Thema »Offene Fragen zum Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 aufklären«, war Luik als Sachverständiger geladen. Sein Buch „Schaden in der Oberleitung – das geplante Desaster der Deutschen Bahn“ ist im Westend Verlag erschienen.

Lesen Sie im zweiten Teil des Interviews:

  • Welcher Bahnhof von einigen Lokfahrern aus Sicherheitsgründen nicht angefahren wird
  • Welches politisch gut vernetzte Unternehmen von den Tunnelarbeiten der Bahn besonders profitiert
  • Was die Bahn mit Zentralasien, Afrika und der Karibik zu tun hat

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