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100 Prozent erneuerbare Energie bis 2030? Lobbyisten gefährden mit populistischen Studien Deutschlands Stromversorgung

Lesezeit: 7 min
18.07.2021 10:00
Der Leiter der "Akademie Bergstraße", Henrik Paulitz, nimmt eine kürzlich erschienene Studie der einflussreichen Denkfabrik "EnergyWatchGroup" unter die Lupe.
100 Prozent erneuerbare Energie bis 2030? Lobbyisten gefährden mit populistischen Studien Deutschlands Stromversorgung
Wenn der Strom erst mal regelmäßig ausfällt, wird auch diese junge "Friday for Future"-Aktivistin die Dinge anders sehen. (Foto: dpa)

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Die Ziele der Klima- und Energiewende-Politik werden immer ambitionierter. Nach einer Studie des internationalen Think Tanks „EnergyWatchGroup“ soll der gesamte Energiebedarf Deutschlands schon bis 2030 zu 100 Prozent mit erneuerbaren Energien gedeckt werden können. Wenn man nur schnell genug die Solarenergie und die Windenergie – vor allem auch in Süddeutschland – ausbaut, so das fragwürdige Versprechen, dann sei eine verlässliche Stromversorgung auch in Zukunft sichergestellt, und darüber hinaus seien wir in nur neun Jahren auch elektrisch mobil und würden unsere Gebäude weit überwiegend mit elektrischem Strom beheizen.

Auch unterstellt die EnergyWatchGroup einen rasend schnellen Ausbau von Elektrolyseuren zur Speichergas-Erzeugung sowie Gaskraftwerke zur Wiederverstromung der Speichergase, ohne dies aber im Text deutlich darzustellen – vermutlich aus vorauseilendem Gehorsam, schließlich wird neuerdings auch die Stilllegung der deutschen Gaskraftwerke gefordert. Die Studie der EnergyWatchGroup bestätigt die Analyse der Akademie Bergstraße, wonach die erneuerbaren Energien auf einen vollständigen konventionellen Backup-Kraftwerkspark angewiesen sind.

Intransparente Darstellung

Auf die Studie mit dem Titel „Das Energiesystem der Zukunft – 100 % Erneuerbare Energie für Deutschland bis 2030“ werden sich künftig vermutlich viele berufen, die sich eine schnelle Energiewende wünschen.[1]

Gegenüber früheren Szenarien zur Energiewende sind Aufbau und Didaktik des öffentlich zugänglichen 35-Seiten-Papiers eher intransparent. Am Anfang stehen die propagierten Ziele, potenziellen Erfolge und Zuwachsraten der Solar- und Windenergie. Wichtige Basisdaten und Randbedingungen der „Szenarien“ hingegen muss man, soweit sie überhaupt ausgewiesen sind, in Text, Tabellen und Grafiken mühevoll suchen. Zahlenangaben sind spärlich und unvollständig.

Fragwürdig ist nicht zuletzt, dass Diagramme zu den Themen Kapazitäten der Stromerzeugung (z.B. Photovoltaik), Transport (HGÜ), Kurzeit-Speicherung („Batterien [Pumpspeicher]“), saisonale Speicherung einschließlich der Wiederverstromung („Wasserstoff GuD“) Verbrauch (Wärmepumpe, Elektroheizung) miteinander vermengen und aufsummieren.[2]

Vor diesem Hintergrund hier einige kritische Anmerkungen zu der Studie, auf der Basis der verfügbaren Daten.

Beitrag der Wind‑ und Solarenergie

Die Studie unterstellt einen weiteren Ausbau der Windenergie an Land von aktuell 55 Gigawatt (GW) installierte Leistung auf 110 GW im Jahr 2030. Die Offshore-Windenergie soll von 7 GW auf 40 GW ausgebaut werden. Bei diesem forschen Zeitplan läge die installierte Windleistung in 9 Jahren bei 150 GW.

Ebenso soll auch die Photovoltaik mit einem – wohl unrealistischen – Tempo ausgebaut werden von heute 47 GW auf (vermutlich) rund 780 GW installierte Leistung.

Die gesamten Stromerzeugungskapazitäten Deutschlands sollen 2030 zu mehr als 80 Prozent auf Wind‑ und Solarenergie basieren, deren Gesamtkapazität mit 930 GW angegeben wird.[3]

Da die Sonne nachts nicht scheint und der Wind nicht immer kräftig genug weht, ist die gesicherte Leistung der Photovoltaik und der Windenergie-Anlagen erfahrungsgemäß sehr gering. Nach Angaben der Deutschen Energie-Agentur (Dena) können Wind-Offshore-Anlagen mit fünf Prozent sowie Wind-Onshore-Anlagen mit einem Prozent der installierten Kapazität zur gesicherten Leistung beitragen, während Photovoltaik keinen Beitrag leistet.[4]

Wie der folgenden Tabelle zu entnehmen ist, würden Wind- und Solarenergie demnach im Jahr 2030 mit lediglich drei GW zur gesicherten Leistung beitragen, während der aktuelle Strombedarf bereits bei circa 85 GW liegt (Jahreshöchstlast).

Wie der Studie der EnergyWatchGroup an anderer Stelle zu entnehmen ist, rechnet diese wegen der Elektrifizierung von Wärme und Verkehr offenbar für 2030 mit einem Bedarf an gesicherter Leistung in Höhe von mehr als 200 GW.[5]

Die Wind‑ und Solaranlagen würden also laut EnergyWatchGroup im Jahr 2030 lediglich zu 1,5 Prozent zur gesicherten Leistung beitragen.

Exkurs: Windenergie in Süddeutschland

In der Studie wird vielfach das Ziel eines Windenergie-Ausbaus in Süddeutschland hervorgehoben. Dies ist sogar Dreh‑ und Angelpunkt bei der Aufspaltung der Arbeit in drei Teil-Szenarien.

Wie hoch ist also die Bedeutung der unterstellten Windenergie-Anlagen in Süddeutschland mit einer installierten Leistung von 37 GW? Wie viel Strom kann mit diesen erzeugt werden? Betrachten wir an dieser Stelle kurz nur die erzeugbaren Strommengen in Terawattstunden (TWh).

Da in dem Papier konkrete Zahlen fehlen, können die Strommengen nur anhand eines Diagramms grob geschätzt werden. Demnach würden die süddeutschen Windenergie-Anlagen ab 2030 jährlich etwa 130 TWh Strom erzeugen, während die gesamte Stromerzeugung Deutschlands mit rund 1.930 TWh dargestellt ist.[6]

Sollten diese dem Diagramm entnommenen Zahlen in etwa zutreffen, dann läge die Bedeutung der süddeutschen Windenergie-Anlagen für die gesamte Stromerzeugung bei lediglich rund sieben Prozent, was kaum rechtfertigt, diese Thematik so stark in den Vordergrund zur rücken.

Warum verheimlicht man die notwendigen Gaskraftwerke?

Das sensationellste Ergebnis der Studie ist das, welches nur schwer aus dieser Arbeit herausgelesen werden kann. Es geht um die Frage nach der gesicherten Leistung, zu der – wie oben dargestellt – die Wind‑ und Solaranlagen mit nur drei GW beitragen.

Zu diesem alles entscheidenden Aspekt findet sich im Text der Studie nur ein knapper Hinweis:

„Gesicherte Leistung wird durch Bioenergieheiz- und Bioenergieblockheizkraftwerke, Geothermie, Laufwasser, Wasserstoff (H2), Batterie- und Pumpspeicher bereitgestellt und beträgt 103 GW im Süden und 105 GW im Norden.“

Das liest sich alles sehr schön und klingt wie belangloses Beiwerk, dabei geht es hier um das Kernproblem der Energiewende: Die Sicherstellung der Stromversorgung beim Schwächeln von Wind und Sonne.

Dieser Satz ist von höchster Brisanz, weil sich erstens die für erforderlich gehaltene gesicherte Leistung auf unglaubliche 208 GW summiert – gegenüber einer aktuellen Jahreshöchstlast von 85 GW.

Laut EnergyWatchGroup benötigt Deutschland also gegenüber der aktuellen Höchstlast das 2,5-fache an absolut zuverlässigen Stromerzeugungskapazitäten.

Zweitens stellt sich die Frage, welche der genannten Technologien dabei die maßgeblichen sind. Zahlenangaben dazu fehlen, es gibt auch hier nur die Möglichkeit der Interpretation anhand eines Diagramms: Demnach spielen Bioenergieheiz- und Bioenergieblockheizkraftwerke, Geothermie sowie Laufwasserkraftwerke bei der Bereitstellung gesicherter Leistung nur eine – und zwar deutlich - untergeordnete Rolle.

Maßgeblich sind laut EnergyWatchGroup die Kapazitäten von „Wasserstoff GuD“ sowie von „Batterien“ (siehe Abbildung, Quelle: EnergyWatchGroup).[7]

An anderer Stelle ist einer Tabelle zu entnehmen, welche Technologien sich hinter der Kurzbezeichnung „Wasserstoff GuD“ verbergen:

Wasserstoff-Elektrolyseure, Wasserstoffkompressoren, Wasserstoffspeicher und "Gas- und Dampfkraftwerke" mit Wasserstoffverbrennung.[8].

Es geht also um das ganze Portfolio einer Wasserstoff-Wirtschaft, das sich laut EnergyWatchGroup angeblich mal kurzerhand in nur neun Jahren aufbauen lässt und an dessen Ende nichts anderes als Gaskraftwerke erforderlich sind.

Quantitative Angaben zu den erforderlichen Elektrolyseuren zur Wasserstoff-Produktion und zur notwendigen Gesamtkapazität an Gaskraftwerken (GuD-Kraftwerke) zur Wiederverstromung der Speichergase werden nicht gemacht.

Dem Diagramm ist zu entnehmen, dass bis zu rund 100 GW Gaskraftwerkskapazität notwendig werden könnte, wobei die EnergyWatchGroup davon ausgeht, den anderen Teil an erforderlicher gesicherter Leistung durch Kurzzeitspeicher (Batterien) abdecken zu können, was sicherlich diskussionswürdig ist.

Entscheidend ist jedenfalls, dass ein solches Energie-System jenseits von Wind- und Solarenergie gesicherte Stromerzeugungskapazitäten von mehr als 200 GW erforderlich machen würde, wovon der Großteil durch Gaskraftwerke abgedeckt werden müsste.

Gaskraftwerke wirklich stilllegen?

Das ist insofern äußerst brisant, als Umweltverbände und Teile der Politik seit einiger Zeit die Forderung erheben, neben Atom- und Kohlekraftwerken schnellstmöglich auch Gaskraftwerke stillzulegen.

Hinzu kommt, dass die EU-Kommission auf Druck dieser Verbände bis Ende des Jahres 2021 entscheiden möchte, ob sie in ihrer fragwürdigen „Taxonomie-Verordnung“ Erdgaskraftwerke möglicherweise als „nicht nachhaltig“ qualifiziert, was einem faktischen Verbot gleichkommen und für die deutsche Energieversorgung zum Riesen-Problem werden könnte.

Und nun diese Studie, in der der Windenergie-Ausbau in den Vordergrund gerückt wird, während die als notwendig erachteten Gaskraftwerke lediglich verklausuliert kurz angesprochen werden.

Transparenz war stets ein Anliegen der Energiewende-Bewegung. Dass man nun anfängt, nicht mehr offen über Probleme zu sprechen und „unbequeme Wahrheiten“ unter den Tisch fallen lässt, irritiert.

Dabei ist doch längst klar und nachgewiesen, dass die Wind- und Solarenergie einen vollständigen konventionellen Backup-Kraftwerkspark benötigt.

Auch befindet sich die Wasserstoff-Wirtschaft nach wie vor in den Kinderschuhen; Elektrolyseure zur Wasserstoff-Erzeugung wurden beispielsweise von der so genannten Kohlekommission lediglich als Thema für „Forschung und Entwicklung“ qualifiziert.

Es ist völlig abwegig, in nur neun Jahren eine umfassende Wasserstoffwirtschaft realisieren zu wollen.

Selbst Prof. Volker Quaschning, auf den sich die Energiewende-Politik maßgeblich beruft, mahnte am 19. März 2021 im „Deutschlandfunk“:[9]

„Man verspricht, dass irgendwann mal grüner Wasserstoff kommt. Der ist aber sehr teuer, sehr ineffizient herzustellen, und dieses Versprechen wird nicht aufgehen. Deswegen habe ich da sehr, sehr große Sorge, dass man jetzt schon wieder auf das falsche Pferd setzt.“

Fazit

Es ist wichtig, gerade auch der jungen Generation, von der Teile Sympathien für eine möglichst schnelle und radikale Energie‑ und Klimapolitik hegen, nüchterne Sachinformationen über die tatsächliche Machbarkeit an die Hand zu geben.

Es ist nicht hilfreich, Illusionen über einen angeblich möglichen Umbau des Energiesystems bis 2030 zu verbreiten.

Und mit Blick auf die schwindende Versorgungssicherheit steht nicht die Auseinandersetzung um die Windenergie in Süddeutschland im Vordergrund. Sehr viel überlebenswichtiger für diese Gesellschaft und Volkswirtschaft ist die Frage, wie es gelingen kann, dass ein zwingend erforderlicher Backup-Kraftwerkspark erhalten bleibt und gegebenenfalls ausgebaut wird.

[1] EnergyWatchGroup: Das Energiesystem der Zukunft. 100 % Erneuerbare Energie für Deutschland bis 2030. Von Thure Traber, Hans-Josef Fell, Franziska Simone-Hegner. Mai 2021.

[2] Vgl. u.a. Abb. 5, S. 18.

[3] Vgl. Tab. 1 S. 13, sowie S. 18.

[4] Deutsche Energie-Agentur: dena-Leitstudie Integrierte Energiewende. 2018. Teil B. S. 34.

[5] Vgl. S. 18, Angaben zur angenommenen gesicherten Leistung in Nord- und Süddeutschland.

[6] Anhang C, Abb. 11, S. 33, Szenario 3. Hinweis: Unschärfen in der Darstellung aufgrund einer fehlenden Trennung zwischen Primär- und Sekundärenergieträgern (Strom aus Speichern).

[7] Vgl. Abb. 5, S. 18.

[8] Tabelle „Technologieübersicht“, S. S. 18.

[9] Deutschlandfunk: Klimakrise. Die Coronakrise ist eigentlich Kindergarten. Volker Quaschning im Gespräch mit Georg Ehring. 19.03.2021.

Henrik Paulitz ist Gründer und Leiter der "Akademie Bergstraße für Ressourcen-, Demokratie- und Friedensforschung". Er ist der Autor mehrerer Bücher, darunter "StromMangelWirtschaft - Warum eine Korrektur der Energiewende notwendig ist" (2020). 

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