Politik

Wer frei sein darf, bestimmen wir: Wie sich die ganze Welt an die amerikanische Verfassung halten muss - nur nicht die USA

Lesezeit: 5 min
07.08.2021 10:19  Aktualisiert: 07.08.2021 10:19
DWN-Kolumnist Rüdiger Tessmann zeigt auf, wie die Gründerväter der Vereinigten Staaten eine wunderbare Verfassung schufen - ihre Nachkommen aber nicht im Geringsten daran denken, den eigenen hehren Idealen gerecht zu werden.
Wer frei sein darf, bestimmen wir: Wie sich die ganze Welt an die amerikanische Verfassung halten muss - nur nicht die USA
Angehörige des "52nd Fighter Wing" (52. Jagdgeschwader) in einem Hangar der US-Airbase in Spangdahlem (Eifel). (Foto: dpa)
Foto: Boris Roessler

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Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, die die theoretische Grundlage des Unabhängigkeitskampfes der 13 Kolonien (und späteren ersten 13 US-Bundesstaaten) gegen die britische Kolonialherrschaft darstellt, wurde größtenteils von Thomas Jefferson verfasst, dem späteren dritten US-Präsidenten (1801-1809). Zwei Prinzipien, die nach dem Willen Jeffersons im Sinne der Aufklärung und einer humanistischen Ethik für die neugegründeten Vereinigten Staaten von Amerika verbindlich sein sollten, könnten weltweit Vorbild für eine gerechte Gesellschaftsordnung und Staatsführung sein.

Hier Auszüge aus der im Juli 1776 im „Pennsylvenischen Staatsboten“ veröffentlichten deutschen Fassung:

1) „Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit.

2) Daß zur Versicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingeführt worden sind, welche ihre gerechte Gewalt von der Einwilligung der Regierten herleiten; daß sobald eine Regierungsform diesen Endzwecken verderblich wird, es das Recht des Volks ist, sie zu verändern oder abzuschaffen, und eine neue Regierung einzusetzen, die auf solche Grundsätze gegründet, und deren Macht und Gewalt solchergestalt gebildet wird, als ihnen zur Erhaltung ihrer Sicherheit und Glückseligkeit am schicklichsten zu seyn dünket“.

Dieser programmatische Text stellt ein humanistisches Idealziel dar. In der Realität waren die 13 Kolonien zu dieser Zeit allerdings noch weit von diesem Ideal entfernt. Thomas Jefferson selbst ließ auf seinen Feldern schwarze Sklaven arbeiten. In Europa war die Führung der Staatsgeschäfte den Adeligen der Königs- und Fürstenhäuser vorbehalten, wobei sie ihren Machtanspruch auf den Willen Gottes zurückführten. Der Klerus erhob Anspruch darauf, das Denken der Menschen zu bestimmen, weil angeblich nur er die unumstößlichen Absichten Gottes kannte. Die Französische Revolution änderte zwar kurzzeitig etwas an dieser Gesellschaftsordnung, aber nicht für lange Zeit, denn die Restauration brachte die Fürsten wieder zurück an die Macht. Erst im 20. Jahrhundert gingen sie dieser verlustig, und es entstanden die – nach wie vor unvollkommenen - Demokratien, wie wir sie heute kennen.

Mit ihrer Unabhängigkeitserklärung haben sich die Vereinigten Staaten von Nordamerika hohe Ziele gesteckt, und wir können der Frage nachgehen, wie nahe sie der Verwirklichung dieser hohen Ideale nach 245 Jahren, also knapp einem Vierteljahrtausend, gekommen sind.

1. Betrachten wir den ersten Grundgedanken der Erklärung: Die These, dass alle Menschen gleich geschaffen sind und die gleichen Rechte genießen. Wobei die Ureinwohner, die sogenannten „Indianer“, damals überhaupt keine Rechte hatten und als sogenannte „Wilde“ fast ausgerottet wurden. Die als Sklaven aus Afrika eingeführten Hausdiener und Feldarbeiter hatten ebenfalls keine Rechte, sondern waren Eigentum derer, der sie auf dem Sklavenmarkt gekauft und wie eine Ware bezahlt hatten. Die spanisch sprechenden „Latinos“ aus Mexiko, die den Westen des Kontinentes (also die heutigen Bundesstaaten New Mexiko, Arizona und Kalifornien) bewohnt hatten, bis diese Gebiete im Amerikanisch-Mexikanischen Krieg 1848 von den USA erobert und annektiert wurden, galten lange als Menschen zweiter Klasse. Auch der Antisemitismus war in den USA noch lange Zeit spürbar. Manche eleganten Clubs waren für Juden bis ins 20. Jahrhundert hinein nicht zugänglich. Die ethnische Herkunft mit der Bezeichnung: „weiß, angelsächsisch, protestantisch“ galt in den USA lange als selbstverständliche Voraussetzung für berufliche und politische Aufstiegs-Chancen.

Es wird auch in Zukunft schwierig sein, die Gesamtheit der Menschen davon zu überzeugen, dass wir alle gleich sind und gleiche Rechte haben. Wir sehen das in diesen Tagen an den hässlichen Reaktionen im eigentlich doch so liberalen Großbritannien, wenn ein britischer, aber schwarzhäutiger Fußball-Nationalspieler einen für den Sieg im Europameisterschaftsfinale entscheidenden Elfmeter verschießt, und wir sahen es in einem Videomitschnitt aus den USA, wo in Minneapolis (Bundesstaat Minnesota) ein weißer Polizist in lässiger Haltung mit einer Hand in der Hosentasche neun Minuten auf dem Hals eines Afroamerikaners kniet, bis dieser tot ist.

Ein Wunsch nach Distanz zu andersartigen Individuen liegt tief in der menschlichen (und auch in der tierischen) Natur und kann - wie wir fast täglich sehen - durch humanistische Belehrung und gerichtliche Strafandrohung nur schwer ausgelöscht werden.

2. Der zweite Grundgedanke der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung ist die Behauptung, dass ein Volk das Recht besitzt, eine Regierung abzusetzen, wenn diese Regierung nicht seinen gerechten Ansprüchen auf Sicherheit und Glück entspricht, und sich eine neue Regierung nach eigenen Wünschen zu wählen. Aus eben diesem Grund hat das nordamerikanische Volk die englische Kolonialherrschaft abgeschüttelt und sich anschließend nach demokratischen Regeln eine eigene Regierung gewählt. Das galt lange Zeit als das vorbildliche Ideal für die Welt in aller Zukunft.

Die Außenpolitik der USA in den Jahren seit dem Zweiten Weltkrieg gibt uns jedoch Anlass zu der Frage, ob diese Forderung nur für die USA und ihre gefolgstreuen Verbündeten gilt, oder auch für andere Völker mit einer anderen Geschichte, anderen Traditionen, Werten und Wunschvorstellungen. Die zahlreichen Fälle von Regierungswechseln (regime-changes), die von der amerikanischen Regierung, privaten Geldgebern und dem Geheimdienst CIA organisiert und erzwungen wurden, lassen den Gedanken aufkommen, dass die Völker sich von einer ungeliebten Regierung nur dann befreien dürfen, wenn dies den USA in den Kram passt, und dass die USA sich aufgrund ihrer angeblichen Unvergleichbarkeit („American exeptionalism“) das Recht herausnehmen, anderen Völkern eine Regierung aufzuzwingen, die amerikanischen wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen entsprechen. In der USA-konformen Presse, gerade auch in Deutschland, wurde und wird bis heute diese Methode dargestellt als der „Kampf des Guten gegen das Böse“. Zu Zeiten des Kalten Krieges lautete das Credo, man müsse die Ausbreitung des Kommunismus verhindern und alle Staaten mit kommunistischen Tendenzen von dieser falschen Ideologie befreien. Im Falle Russlands, das ja nun mal kein kommunistischer Staat mehr ist, lässt sich diese Parole heute nicht mehr anwenden, aber man erinnert nur allzu gern an die Vergangenheit des russischen Präsidenten als KGB-Agent der Sowjetunion, um ihn zu dämonisieren.

Im Falle Chinas wird die – angebliche - Bedrohung durch eine kommunistische Diktatur noch gerne heraufbeschworen, aber ganz offensichtlich handelt es sich um ein falsches Gleichnis – schließlich ist China heute in vielerlei Hinsicht eine Marktwirtschaft und allein deshalb schon nicht mit der Sowjetunion von einst zu vergleichen.

In den muslimisch-arabischen Staaten, die wegen ihres Ölreichtums für den Westen wichtig sind, werden Unabhängigkeitsbewegungen als terroristische Gefahr gebrandmarkt und bekämpft, und zwar mit – welch Ironie – terroristischen Methoden. Der Anschlag auf die Zwillingstürme in New York wurde gar zum Anlass genommen, einen „Krieg gegen den Terror“ ausgerufen – der circa einer Million Menschen das Leben kostete und seinen Höhepunkt im völkerrechtswidrigen Irak-Krieg fand.

Was Lateinamerika angeht: Dort sind die USA sehr stark an Investitionen für die Entwicklung der Infrastruktur beteiligt, sodass bei Übernahme durch sozialistische Regierungen eine Verstaatlichung der Industrie und Landwirtschaft und die damit einhergehenden Verluste der beteiligten US-Unternehmen drohen. Anzumerken ist hierbei allerdings, dass die US-Unternehmen im Zuge ihrer Investitionstätigkeiten die Bevölkerungen der jeweiligen Länder in der Regel rücksichtslos ausplündern. Zudem pochen die USA weiterhin auf die Gültigkeit der (erweiterten) Monroe-Doktrin, nach der sie eine Beeinflussung auch auf dem lateinamerikanischen Kontinent durch nicht-amerikanische Staaten mit allen Mitteln bekämpfen dürfen.

Zur Durchsetzung ihrer weltweiten wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen haben die USA militärische Planungszentren und Militärstützpunkte auf allen Kontinenten errichtet, um sie als Sprungbretter für rasche Interventionen zu nutzen. Der idealistischen Vorgabe von Thomas Jefferson entspricht das nicht, denn ihr zufolge sollten die Völker sich selbst die Regierungsform erschaffen, die ihnen „Sicherheit und Glück“ verheißen. Die geostrategischen Spin-Doktoren der USA und viele westliche Medien stellen die Geschehnisse jedoch so dar, als litten diese anderen Völker in Wirklichkeit unter einer autoritären Herrschaft und fänden ihr „Glück“ erst, wenn die USA und die anderen westlichen Staaten sie mit einer Regierungsform „beglückt“ hätten, die mit westlichen Maßstäben und Vorstellungen kompatibel ist.

Wir Deutschen haben es 1945 ja auch so erlebt, dass die US-Armee und ihre Alliierten uns von der Hitler-Diktatur befreiten, und uns dann mit Freiheit und Demokratie viele Jahre „Glück und Sicherheit“ ermöglichten. Die Amerikaner wurden von uns als Freunde empfunden. Eine alte Regel lautet: Wenn eine siegreiche Besatzungsmacht bei dem besiegten Volk dessen Kultur respektiert und festigt, wird sie von den Besiegten als Freund empfunden. So hat es Alexander der Große in Persien, Indien und Ägypten gemacht, deren Kulturen er respektierte und pflegte. In Deutschland war das Bild der parlamentarischen Demokratie durch die Revolution von 1848 und durch die Frankfurter Paulskirche schon vorgeformt und wurde nun 100 Jahre später durch den Sieg der Amerikaner Realität. Es handelte sich also nicht um das Aufzwingen einer fremden, sondern um die Rückbringung der eigenen erwünschten Kultur.

Lesen Sie morgen den zweiten Teil der Analyse von Rüdiger Tessmann:

  • Wer sagte: „Wir können einem unvernünftigen Volk nicht zubilligen, eine marxistische Regierung zu wählen!“
  • Wer sagte: "Der Preis war es wert" - und um welch schrecklichen Preis es ging
  • Wer sagte: „I think, Klitsch is not the right man, our man is Jatze! Fuck the EU!“


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