Der Umstand, dass die Taliban innerhalb weniger Tage ganz Afghanistan erobern konnten, sorgt allseits für große Verblüffung. Was die wenigsten nicht wissen: Tatsächlich hatten die Islamisten viele Jahre Zeit, systematisch und mit unglaublicher Brutalität die Rückkehr an die Macht vorzubereiten. Seitdem die Steinzeit-Krieger im Jahr 2001 durch die US-Armee aus der Hauptstadt Kabul vertrieben wurden, hielt sie landesweit Gebiete unter Kontrolle und verübten tausende Morde an der Zivilbevölkerung. Weiterhin verprügelten sie westlich gekleidete Frauen und Männer und entführten junge Frauen, um sie mit Islamisten zwangszuverheiraten. So lebte und lebt die gesamte Bevölkerung in ständiger Angst. Dieser Terror brach auch die Kampfbereitschaft der einst mächtigen Stammesfürsten. Was die Armee anging: Sie wurde mit Sympathisanten unterwandert. Der Abzug der US-Truppen überließ das Land den barbarischen Horden, die bei ihrem Marsch auf die Hauptstadt keinen nennenswerten Widerstand überwinden mussten. Diese Faktoren ergeben allerdings keine ausreichende Erklärung für den Triumph einer Gruppe, die übrigens bereits von 1995 bis 2001 an der Macht war und das Land in ein unbeschreibliches Elend gestürzt hat. Was sind die weiteren Gründe für den Erfolg der radikalen Glaubenskrieger?
Das schlechte Gewissen der liberalen Muslime nützt den Taliban
Eine psychologisch perfide Wirkung hat die Religion. Fast ausnahmslos alle Afghanen sind Muslime (die meisten Sunniten, nur wenige Schiiten), wobei sie verschiedenen Auslegungen des Islams folgen. Keineswegs alle sehen sich als Gotteskrieger, im Gegenteil – viele neigen einer liberalen Lebensweise zu. Dies zeigt sich auch an der Tatsache, dass bis in die siebziger Jahre das Land unter dem vierzig Jahre lang regierenden König Mohammed Zahir Schah ein blühender, moderner Staat war. Allerdings haben Muslime, die nicht streng nach den religiösen Regeln leben, ein latent schlechtes Gewissen und fragen sich oft, ob sie den rechten Weg gehen. Somit werden die fundamentalistisch agierenden Islamisten nicht selten als Respekt gebietende Autorität gesehen. Dieses Phänomen hemmt den Widerstand gegen die streng gläubigen Taliban, auch wenn diese massenweise weniger Strenggläubige sowie Anhänger einer anderen Glaubensrichtung ermorden. Die Taliban sind Verfechter des sunnitischen Islam und orientieren sich an der wahabitischen Auslegung der Saudi-Araber und an den Vorgaben der Scharia. Die Bewegungsfreiheit der Frauen ist minimal, tatsächliche oder vermeintliche Verletzungen der religiösen Regeln werden mit dem Tod - meist per öffentlicher Steinigung - geahndet, Dieben wird die Hand abgehackt.
Geldsorgen haben die Taliban nicht - das Geschäft mit Kokain und Heroin blüht
Die Eroberung der Macht in Afghanistan sorgt naturgemäß für Begeisterung bei den anderen Extremisten in der islamischen Welt:
- Bei den Saudis, die die Taliban auch finanziell unterstützen, wobei diese Begeisterung nicht uneingeschränkt ist, da sich das Königshaus generell vor Terroristen fürchtet, da sie seine Macht in Frage stellen könnten.
- Auch aus Pakistan, dem Nachbarland Afghanistans, kommt Applaus, aber ebenfalls nicht ohne Vorbehalte. Die Taliban wurden und werden zwar von Pakistan unterstützt und auch in kritischen Phasen beherbergt, doch scheuen die Islamisten aus Afghanistan nicht davor zurück, auch in Pakistan aktiv zu werden.
- Zu erwähnen ist vor allem der Emir von Katar, der, im Gegensatz zu den anderen islamischen Herrschern und Regierungen, die Terrororganisationen der „Muslimbrüder“ und der palästinensischen „Hamas“ finanziert und auch die Taliban unterstützt. Nicht zufällig ist das Hauptquartier der Taliban in Doha, der Hauptstadt von Katar, einer Halbinsel im Persischen Golf.
Die finanziellen Zuwendungen der befreundeten Länder sind den Taliban zwar willkommen, doch gar nicht unbedingt erforderlich. Afghanistan verfügt nämlich über die größte Opiumproduktion der Welt und dominiert den globalen Heroin-Markt. Die Gotteskrieger kassierten bislang schon Milliarden aus diesem kriminellen Geschäft, durch die Übernahme des ganzen Landes ist ihre Position nun noch stärker. Der Abbau von Eisenerz, Marmor, Kupfer, Gold, Zink und Seltenen Erden sorgt für weitere Einnahmen, wobei die Taliban die Unternehmen in der Regel nicht selbst betreiben, aber „Schutzgelder“ erpressen. Als offizielle Regierung können sie künftig die Schutzgelder als Steuern bezeichnen.
Die bemerkenswerte Rolle eines Taliban-Gegners von 1980 bis 2001
Die Taliban stehen heute als uneingeschränkte Sieger dar, doch hatten sie auch Gegner, die sie wirkungsvoll bekämpften. Vor allem die Bewegung unter Ahmad Schah Massoud erwies sich höchst schlagkräftig.
Rückblick: Nach der Beseitigung des Königshauses im Jahr 1973 übernahmen die Kommunisten die Macht in Afghanistan und wurden dabei aktiv durch die Sowjetunion unterstützt, die das Land unter das Diktat von Moskau bringen wollte. Massoud, der ein streng gläubiger Muslim war, aber kein Extremist, sondern ein überzeugter Anhänger der Demokratie, führte den Widerstand gegen die russische Besatzung an und wurde dabei von den USA unterstützt.
In dieser Phase gab es keinen Unterschied zwischen den unterschiedlichen muslimischen Richtungen, alle kämpfen gemeinsam als Mudschaheddin für die Befreiung ihrer Heimat. Die finanzielle und militärische Hilfe der USA kam allen zugute. 1989 wurden die russischen Besatzer erfolgreich vertrieben, wobei die zunehmende Desintegration der Sowjet-Union den Sieg der Mudschaheddin erleichterte beziehungsweise umgekehrt die Niederlage in Afghanistan den Zusammenbruch der Sowjet-Union beschleunigte.
Die anschließend gebildete Mehrparteien-Regierung stand prompt unter dem Druck von Pakistan, das Afghanistan beherrschen wollte. Als die ersten Versuche misslangen, unterstütze Islamabad die Gründung der Taliban und unternahm zusammen mit ihnen einen Feldzug gegen die Hauptstadt Kabul, wobei zwei Drittel der Teilnehmer pakistanische Soldaten waren. 1996 übernahmen die Taliban die Regierung, und Massoud zog sich mit seinen Truppen in den Norden des Landes zurück, von wo aus er die Taliban in Zusammenarbeit mit anderen Organisationen bekämpfte.
Am 9. September 2001 wurde Massoud ermordet, womit der entscheidende Motor des Widerstands ausgeschaltet war. Allerdings hatten die am 11. September 2001 – also wenige Tage nach der Ermordung Massouds – erfolgten Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon in den USA dramatische Folgen für Afghanistan. Nachdem die Al-Kaida von Osama bin Laden ihr Hauptquartier bei den Taliban hatte, marschierten die USA in Afghanistan ein, setzten mit Unterstützung von Massouds Nord-Allianz die Taliban-Regierung ab und ermöglichten in der Folge Parlaments – und Präsidentschaftswahlen.
In zwanzig Jahren entstand keine politische Struktur, die den Taliban Widerstand leisten könnte
Während jedoch die Taliban in den 20 Jahren, die auf ihre Vertreibung aus Kabul folgten, eine schlagkräftige Organisation aufbauten, ist es der afghanischen Regierung und der westlichen Allianz nie gelungen, eigenständig funktionierende demokratische Einrichtungen in Afghanistan zu schaffen. Massoud hatte nie einen entsprechenden Nachfolger. Angemerkt sei, dass seit einigen Monaten sein heute 32jähriger Sohn sich bemüht, eine Opposition aufzubauen, doch steckt diese Initiative erst in den Anfängen.
Die peinliche Tatsache bleibt bestehen, dass es den Taliban gelang, innerhalb weniger Tage die zwanzigjährige Arbeit der USA zunichte zu machen. Die USA nehmen für sich in Anspruch, dass sie die Voraussetzungen für eine freie Politik geschaffen, Milliarden investiert, das Militär ausgebildet und mit Waffen ausgestattet hatten. Washington besteht darauf, es wäre Sache jener Afghanen gewesen, die sich nicht dem Terror der Taliban beugen wollen, in dieser langen Periode von sich aus nachhaltige Strukturen aufzubauen.
Diese Rechtfertigung seitens der USA kann man schwerlich so stehen lassen. Nach einem zwanzigjährigen Engagement ist man nicht mehr in der Rolle eines Gastes, der gehen kann, wenn ihm das Menu nicht passt. In der langen Zeit entstehen Verantwortung und die Verpflichtung, den Tatsachen Rechnung zu tragen. Schon die größte Weltmacht des 19. Jahrhunderts, die Briten, hielten sich nicht an dieses Prinzip - die Folgen davon kann man ablesen an der Entwicklung, die die früheren Kolonien nach ihrer von heute auf morgen erfolgten Entlassung in die Unabhängigkeit in Kombination mit dem vollständigen Abzug der Briten nahmen. Bis heute sind die blutigen, nicht enden wollenden Krisen in Indien, im Nahen Osten, in Afrika Folgen des chaotischen Abzugs und des mangelnden Pflichtbewusstseins des Britischen Empire.
Der Sieg der Taliban bleibt nicht ohne regionale und globale Folgen
Der nun erfolgte Abzug der USA wird noch lange in Afghanistan, aber auch in den Nachbarstaaten Krisen heraufbeschwören. Die Taliban werden
- wie schon bisher in Pakistan für Unruhe sorgen,
- in Tadschikistan die von der muslimischen Regierung verbotenen Islamisten unterstützen,
- in China den verfolgten muslimischen Uiguren helfen,
- im muslimischen Süden Russlands die im Nordkaukasus zahlenmäßig dominierenden Glaubensgenossen zu Protesten anstacheln,
- als erfolgreiche Sunniten den schiitischen Iran herausfordern,
- den Muslimbrüdern und der Hamas neuen Auftrieb geben,
- für einen neuen Flüchtlingsstrom sorgen - in Europa läuten bereits die Alarmglocken.
Das Abkommen von Doha und die Illusion, Katar sei ein verlässlicher Partner der USA
Eins steht fest: Das Versprechen der Taliban, künftig keinen US-feindlichen Organisationen wie der Al-Kaida Unterschlupf zu gewähren, sollte man nicht zu ernst nehmen. Wie auch die Vereinbarung, die zum Abzug der US-Truppen geführt hat, von den selbsternannten Gotteskriegern nicht eingehalten werden wird. Im Abkommen von Doha, das von US-Präsident Donald Trump im Februar 2020 geschlossen und nun von US-Präsident Joe Biden umgesetzt wurde, ist neben dem US-Truppenabzug die Bildung einer gemeinsamen Regierung der Taliban und des aktuellen Kabinetts sowie anderer politischer Gruppen vorgesehen. Doch davon ist jetzt schon nicht mehr die Rede – die Taliban verlangen die bedingungslose Kapitulation ihrer Gegner und reklamieren für sich die Alleinherrschaft. Hier zeigt sich, wie schon so oft, dass man mit Terroristen keine Vereinbarungen treffen kann und darf. Zumindest bis auch der zweite Teil des Abkommens, die Bildung einer Regierung auf breiter Basis, erfüllt worden wäre, hätten die US-Truppen im Land bleiben müssen.
Die Verhandlungen zwischen den USA und den Taliban fanden in Doha statt, der Hauptstadt von Katar, das derzeit der größte Sponsor von Terroristen im islamischen Raum ist und nicht zufällig das Hauptquartier der Taliban beherbergt. Der großen Weltmacht USA ist nichts Besseres eingefallen, als die heiklen Verhandlungen an diesem Ort abzuhalten und nicht darauf zu bestehen, dass ein für beide Seiten neutraler Ort gewählt wird. Damit nicht genug, Katar agierte als Moderator der Gespräche.
Allerdings hielt man in Washington Doha für einen geeigneten Ort für die Verhandlungen: In Katar befindet sich der größte Stützpunkt der US-Streitkräfte im Nahen Osten mit geschätzt 10.000 Soldaten und einer Armada von Flugzeugen. Von Katar aus wurden die Einsätze der US-Armee im Afghanistan-Krieg geflogen.
Wie um die Weltmacht zu verhöhnen, wurden die Taliban bei den Verhandlungen in Doha von ihrem radikalen Vize-Chef, Abdul Ghani Baradar, vertreten. Baradar lebte die vergangenen zwanzig Jahren in Katar im Exil und flog vor wenigen Tagen mit einer katarischen Militärmaschine vorbei am US-Stützpunkt „Al Udeid Air Base“ in Doha nach Kandahar. Er dürfte der neue Präsident oder Premierminister von Afghanistan werden.
Eine Bemerkung an Rande: Hält die internationale Gemeinschaft tatsächlich Katar für den geeigneten Ort, um die Fußball-Weltmeisterschaft 2022 abzuhalten?
Das Vietnam-Trauma ließ die USA die Blamage in Afghanistan hinnehmen
In den USA löst naturgemäß ein zwanzig Jahre dauerndes und offenkundig erfolgloses Engagement Erinnerungen an den Vietnam-Krieg aus, der nach ebenfalls rund zwanzig verlustreichen Jahren mit einer Niederlage Amerikas und dem Sieg der nordvietnamesischen Kommunisten endete. Der weitere Verbleib in Afghanistan schien aufgrund der Erfahrungen in dem südostasiatischen Land sinnlos, zumal die Taliban mit Anschlägen in den USA drohten und schließlich der 11. September 2001 von Afghanistan aus organisiert wurde. Da nimmt man den Gesichtsverlust in Kauf, bringt die Soldaten nach Hause und verhindert ein zweites 9/11. Dass die großen Gegner, China und Russland, jetzt das Ende der Weltherrschaft der USA feiern, mag manchen Politiker oder General ärgern, den Durchschnittsamerikaner Johnny Average berührt es kaum.