Technologie

WHO empfiehlt deutlich strengere Grenzwerte für Luftschadstoffe

Lesezeit: 3 min
25.09.2021 10:13  Aktualisiert: 25.09.2021 10:13
Die EU ist bei den Grenzwerten für Luftschadstoffe gemessen an den Standards der Weltgesundheitsorganisation kein Musterknabe. Jetzt verschärft die WHO ihre Empfehlungen noch. Die EU ist unter Zugzwang.
WHO empfiehlt deutlich strengere Grenzwerte für Luftschadstoffe
Weißer nebliger Rauch aus Schornsteinen hängt über der Innenstadt von Mailand. (Foto: dpa)

Mehr zum Thema:  
Benachrichtigung über neue Artikel:  

Schlechte Luft schadet der Gesundheit stärker als lange angenommen, und die bestehenden Grenzwerte für Schadstoffbelastungen sind nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu lasch. Sie hat ihre Richtwerte für die maximale, gesundheitlich noch vertretbare Belastung deshalb deutlich verschärft. Es geht unter anderem um Feinstaub und Stickstoffdioxid (NO2). Auch bei der Coronapandemie spiele die Luftverschmutzung eine Rolle, so die WHO. Wer aufgrund von schlechter Luft eine Atemwegserkrankung habe, laufe größere Gefahr als ein gesunder Mensch, bei einer Infektion mit dem Coronavirus schwer zu erkranken.

Die neuen Richtwerte seien niedriger als erwartet und das Ziel, sie zu erreichen, sei ehrgeizig, meinte Tamara Schikowski vom Leibniz-Institut für umweltmedizinische Forschung an der Universität Düsseldorf (IUF).

Die WHO passt die Richtwerte erstmals seit 2005 an, weil Studien gezeigt haben, wie stark die Gesundheit unter Luftverschmutzung leidet. Eine Überschreitung der neuen Grenzwerte sei mit erheblichen Gesundheitsrisiken verbunden. Jedes Jahr sterben nach WHO-Schätzungen weltweit sieben Millionen Menschen frühzeitig infolge von Luftverschmutzung. Millionen Menschen würden gesunde Lebensjahre geraubt. Bei Kindern könne das Wachstum der Lungen gestört werden und es könnten verstärkt Asthma-Symptome auftreten. Bei Erwachsenen könne Luftverschmutzung Herzkrankheiten und Schlaganfälle begünstigen.

Die Belastung mit Stickstoffdioxid, das in Ballungsräumen vor allem aus Diesel-Autos kommt, soll statt wie bislang höchstens 40 künftig nur noch 10 Mikrogramm pro Kubikmeter betragen. Die EU erlaubt zurzeit 40. Selbst die 40er Grenze wurde in Deutschland 2019 aber noch verletzt, wie die EU-Umweltagentur EEA in Kopenhagen gerade berichtete. „Insbesondere die jährlichen Konzentrationen für NO2 sind überraschend niedrig und es wird schwer sein, diese niedrigen Werte auch in Deutschland zu erreichen“, meinte Schikowski.

Feinstaub, der in die Lunge und den Blutkreislauf eindringen kann, sei von besonderer Bedeutung, so die WHO. Er entsteht etwa durch Verbrennungsprozesse im Verkehr, in der Energiewirtschaft, Haushalten, Landwirtschaft und auf Mülldeponien. Sehr hoch sei die Belastung in Südostasien und im östlichen Mittelmeerraum, so die WHO.

Bei Feinstaub liegen die EU-Richtwerte, die auch für Deutschland gelten, deutlich höher als die WHO-Empfehlungen von 2005. Der EU-Grenzwert für Feinstaub mit Partikelgröße 2,5 Mikrometer (PM 2,5) liegt bei 25 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft. Die WHO empfahl bislang 10 und senkte diese Zahl nun auf 5 Mikrogramm. Bei Feinstaub mit der Partikelgröße 10 Mikrometer erlaubt die EU sogar 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft, während die WHO den Richtwert von 20 auf 15 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft senkt.

Schon die Anwendung des alten WHO-Richtwerts bei Feinstaub (PM 2,5) hätte bedeutet, dass in der EU drei Viertel der Stadtbewohner höheren Feinstaubbelastungen ausgesetzt sind als gesundheitlich vertretbar, wie das gemeinnützige Science Media Center für unabhängige Wissenschaftsberichterstattung berechnet hat. Weltweit war die Lage noch schlimmer: mehr als 90 Prozent der Weltbevölkerung lebte nach WHO-Angaben 2019 in Gebieten, die die WHO-Grenzwerte für Feinstaub (PM 2,5) von 2005 überschritten. Die EU will ihre Luftqualitätsnormen im kommenden Jahr anpassen.

Nach Angaben des Umweltbundesamtes in Dessau ermittelten 2020 im Jahresmittel 83 Prozent aller Messstationen in Deutschland einen Stickstoffdioxid-Wert, der oberhalb des neuen WHO-Grenzwertes lag. Beim Feinstaub der Partikelgröße PM10 waren es demnach 36 Prozent, bei PM 2,5 ganze 99 Prozent.

Bundesumweltministerin Svenja Schulze sagte, die Luftqualität sei in Deutschland zwar in den vergangenen Jahren besser geworden. „Dennoch bleibt noch viel zu tun.“ Verbesserungen bei Feinstaub würden in den nächsten Jahren vor allem durch den Kohleausstieg, den Umstieg auf eine weniger intensive Landwirtschaft und die Verkehrswende hin zu mehr Elektromobilität erreicht. „Bis 2030 will Deutschland den Ausstoß von Luftschadstoffen erheblich senken“, so Schulze.

„Die neuen Air Quality Guidelines der WHO sind ein großer Schritt nach vorne, da sie Richtwerte vorgeben, die in der Lage sind, die Gesundheit der Bevölkerung wirkungsvoll zu schützen“, lobte die Leiterin des Instituts für Epidemiologie am Helmholtz Zentrum München, Annette Peters. „Alle diese Werte sind aus neuen großen Studien abgeleitet.“

Klar sei, dass es keine „ungefährliche Luftverschmutzung“ gibt, sagte dagegen Barbara Hoffmann, vom Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin der Universität Düsseldorf. „Daraus leitet sich ab, dass die Luftverschmutzung überall verringert werden muss – auch dort, wo sie schon relativ niedrig ist. Das lohnt sich auch finanziell, denn die Krankheitskosten, die durch Luftverschmutzung entstehen, sind höher als die Kosten für Luftreinhaltung.“

Die WHO-Leitlinien enthalten auch Empfehlungen für Ozon (O3), Schwefeldioxid (SO2) und Kohlenmonoxid (CO). Sie sind nicht verbindlich, sondern gelten als Richtschnur für Länder und Staatenverbünde wie die EU. „Luftverschmutzung trifft am stärksten die Menschen in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen“, sagte WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus.


Mehr zum Thema:  

Anzeige
DWN
Panorama
Panorama Kostenloses Experten-Webinar: Die Zukunft der personalisierten Medizin aus der Cloud - und wie Sie davon profitieren

Eine individuelle Behandlung für jeden einzelnen Menschen - dieser Traum könnte nun Wirklichkeit werden. Bei der personalisierten Medizin...

 

DWN
Weltwirtschaft
Weltwirtschaft OWZE-Prognose 2024: Minimales Wirtschaftswachstum für Deutschland erwartet
02.05.2024

Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OWZE) geht von einem minimalen Wirtschaftswachstum für Deutschland...

DWN
Finanzen
Finanzen Deutschland im Investitionstief: Rückgang setzt Wirtschaft unter Druck
02.05.2024

Deutschlands Attraktivität für ausländische Investitionen schwindet weiter: 2023 markiert den niedrigsten Stand seit 2013. Manche...

DWN
Politik
Politik 1.-Mai-Demonstrationen: Gewerkschaften fordern dringend Gerechtigkeit
02.05.2024

Am Tag der Arbeit kämpfen Gewerkschaften für bessere Arbeitsbedingungen. Ihre Spitzenvertreter betonten die Notwendigkeit von...

DWN
Politik
Politik Militärhistoriker Lothar Schröter im DWN-Interview: Die Folgen des Massenmords von Odessa 2014
02.05.2024

Der Militärhistoriker Lothar Schröter ordnet im DWN-Interview den Massenmord in Odessa vom 2. Mai 2014 ein. Dabei geht er auch auf die...

DWN
Politik
Politik DWN-Interview: Ukraine-Krieg - Zehn Jahre nach dem Massenmord von Odessa
02.05.2024

Am 2. Mai 2014 ist es in der ukrainischen Stadt Odessa zu einem Massenmord gekommen, bei dem fast fünfzig Menschen qualvoll ums Leben...

DWN
Technologie
Technologie Infineon vor herausforderndem Quartal: Augenmerk auf Zukunftsaussichten
02.05.2024

Der Chiphersteller Infineon sieht schwieriges Quartal voraus, mit moderaten Rückgängen und angespanntem Automobilmarkt. Wie geht es...

DWN
Finanzen
Finanzen Bitcoin als Geldanlage: „Das ist gleichzusetzen mit einem Besuch im Casino“
02.05.2024

Bitcoin entzweit trotz neuer Kursrekorde die Anlegergemeinschaft. Die einen halten große Stücke auf den Coin, die anderen sind kritisch....

DWN
Immobilien
Immobilien Balkonkraftwerk mit Speicher: Solarpaket könnte Boom auslösen - lohnt sich der Einbau?
01.05.2024

Balkonkraftwerke aus Steckersolargeräten werden immer beliebter in Deutschland. Insgesamt gibt es aktuell über 400.000 dieser sogenannten...