Politik

Geopolitik-Experte: Europa darf seine Kräfte nicht weltweit verschwenden - es muss in seinem Hinterhof für Ordnung sorgen

Anstatt seine Ressourcen in weit entfernten Gegenden für US-Interessen zu verschleudern, sollte Europa lieber seinen eigenen geopolitischen Hinterhof im Auge behalten, schreibt ein Analyst der "Freien Universität Brüssel". Ein eminent wichtiger Beitrag.
24.09.2021 11:04
Aktualisiert: 24.09.2021 11:04
Lesezeit: 4 min
Geopolitik-Experte: Europa darf seine Kräfte nicht weltweit verschwenden - es muss in seinem Hinterhof für Ordnung sorgen
Wilhelmshaven, 2. August 2021: Die Besatzung winkt von Bord der Fregatte «Bayern», die zu einer mehrmonatigen Reise in den Indischen und Pazifischen Ozean aufbricht. Das Kriegsschiff mit 232 Soldaten wird sieben Monate lang im Seegebiet zwischen dem Horn von Afrika, Australien und Japan unterwegs sein. (Foto: dpa) Foto: Sina Schuldt

Jonathan Holslag, ein Professor für internationale Politik an der "Freien Universität Brüssel", skizziert die Machtlosigkeit europäischer Staaten im Indischen und Pazifischen Ozean. Ein verstärktes Engagement in dieser weit entfernten Groß-Region könnte die Kräfte des Kontinents überdehnen und Europa als Machtfaktor insgesamt ausschalten, warnt Holslag:

Im EU Observer schreibt er:

Australien hat vergangene Woche seine Großbestellung französischer U-Boote zurückgezogen, um stattdessen ein Projekt mit den Vereinigten Staaten zu lancieren. Der Vorgang verweist auf eine dringliche Realität für Europa: Es ist keine indo-pazifische Macht mehr. Und es wird keine indo-pazifische Macht werden. Und wenn es seine geopolitischen Ambitionen weiter übertreibt, könnte Europa seine machtpolitische Glaubwürdigkeit vollständig verlieren.

Wenn Europa geopolitischer werden will, muss es zuallererst das wichtigste Diktum der Geopolitik respektieren: Die Geografie sagt dir, wo du deine Prioritäten setzen musst. Für Europa liegen diese nicht im ‚Indo-Pazifik‘, sondern in seinem geografischen Hinterhof.

Europa profiliert sich weiterhin als indopazifische Macht. Länder wie Frankreich tun dies, aber auch die EU, welche kürzlich eine eigene ‚Indo-Pazifik‘-Strategie veröffentlicht hatte. Diese Strategie präsentiert Europa im Wesentlichen als wirtschaftliche Großmacht und ‚Soft Power‘ für die Region.

Aber die Wirtschaftskraft Europas ist nicht beeindruckend. Europa, Großbritannien eingeschlossen, kauft nur 15 Prozent der Exporte der Region. Das ist weniger als die Einfuhren der USA und wird zudem bald von China überholt werden. Europas Entwicklungshilfe für die Region stagniert und seine Investitionen fließen hauptsächlich nach China.

Auch Europas moralische Macht hat Grenzen. Europa behauptet, Regeln durch fortschrittliche Handelsabkommen durchsetzen zu können, welche auch soziale und ökologische Vorschriften und Normen beinhalten. Aber diese Normen sind nach wie vor schwer durchzusetzen und Handelsabkommen decken immer noch weniger als 30 Prozent des europäischen Handels mit der Region ab. Beispielsweise verfügt Europa auch über kein solches Abkommen mit China.

Eine kürzlich in südostasiatischen Ländern durchgeführte Umfrage bestätigte, dass die Bürger dort Europa für seinen Einsatz für Rechtsstaatlichkeit und Maßnahmen zum Klimawandel schätzen, aber seine Fähigkeit, echte Führungsstärke zu zeigen, in Frage stellen.

Auch zwischen dem Enthusiasmus der Politiker, Debatten um den ‚Indo-Pazifik‘ zu führen und ihrer tatsächlichen Bereitschaft, die Länder der Region zu besuchen, klafft eine deutliche Lücke.

Seit Jahrzehnten beklagen asiatische Diplomaten das mangelnde Interesse europäischer Staatsoberhäupter an der Region und ihre Zurückhaltung, an Gipfeltreffen regionaler Organisationen wie der ASEAN teilzunehmen.

Betrachtet man zum Beispiel die offiziellen Besuche des französischen Präsidenten und der deutschen Kanzlerin, dann statteten beide nur rund 15 Prozent ihrer Besuche außerhalb Europas in Ländern entlang des Indischen und Pazifischen Ozeans ab und China war am häufigsten Ziel ihrer Besuche.

Zudem ist Europas militärische Präsenz unbedeutend.

Frankreich beispielsweise, das europäische Land mit der größten militärischen Präsenz in der Region, hat die Zahl der Truppen dort von rund 10.000 im Jahr 2020 auf aktuell 2.700 reduziert.

Dabei handelt es sich nicht um Expeditionstruppen; sondern die Einheiten wahren lediglich die Sicherheit in französischen Überseegebieten wie Kaledonien und Martinique. Dort verfügt Frankreich über drei kleine Fregatten, um die ausschließliche Wirtschaftszone um diese Inseln herum zu patrouillieren. Berichten zufolge decken die französischen Geheimdienstsatelliten nicht einmal das gesamte Gebiet ab.

Großbritannien verfügt über ein paar hundert Soldaten im ‚Indo-Pazifik‘, die meisten davon sind in einer Ausbildungsstätte für den Dschungelkrieg in Brunei stationiert. London hatte allerdings vor Kurzem beschlossen, zwei größere Patrouillenschiffe für einen längeren Zeitraum zu entsenden.

Diese beiden Schiffe sollen den gesamten ‚Indopazifik‘ patrouillieren. Chinesische Medien machten sich bereist über den Einsatz dieser „eher weniger leistungsfähigen Kriegsschiffe“ lustig. Die Entsendung des Flugzeugträgers Queen Elizabeth in der Region bleibt ein rein symbolischer Akt. Eine dauerhafte Präsenz des Flugzeugträgers in der Region kann Großbritannien schlichtweg nicht aufrechterhalten.

All dies erklärt teilweise, warum Australien die bestellten französischen U-Boote durch eine Bestellung für amerikanische U-Boote ersetzt hat. Abgesehen davon, dass die amerikanischen U-Boote viel leistungsfähiger sind, geht es Australien auch nicht primär um U-Boote; sondern es sucht eine geopolitische ‚Lebensversicherung‘.

„Vertrauenswürdig, aber impotent“

In den vergangenen zehn Jahren verharrten Europas jährliche Rüstungsexporte konstant bei rund 2 Milliarden Euro. Trotz eines Waffenembargos liegen die jährlichen Rüstungsexporte nach China interessanterweise immer noch bei rund 260 Millionen Dollar pro Jahr. Dieser Umstand erklärt die Wahrnehmung Europas in Asien als opportunistischer Merkantilist und eben nicht als ein starker Sicherheitspartner.

Europa bleibt eine kurzlebige Macht im Indopazifik. Es wird als vertrauenswürdiger, aber auch impotenter Partner eingestuft. Einige Globalisten entgegnen, dass Macht heutzutage unweigerlich vergänglich sei, dass es um Normen und Netzwerke gehe, weniger um Kriegsschiffe und große Investitionen; darum, ein neutraler Makler und kein arroganter Tyrann zu sein.

Nur etwa zwei Prozent der Befragten in Südostasien bezeichnen Europa als den mächtigsten Akteur der Region, weit hinter China, den USA, Japan, ASEAN und knapp vor Südkorea.

Europas ‚Indo-Pazifik‘-Strategie ist daher so fadenscheinig, dass sie trivial wird.

Der Aktivismus im ‚Indo-Pazifik‘ geht auf Kosten viel dringenderer Herausforderungen im Hinterhof Europas. Denn während die USA ihre Kräfte verstärkt in den ‚Indopazifik‘ verlagern, verursacht das dadurch entstehende Machtvakuum in Osteuropa, dem Nahen Osten und Afrika neue Instabilität.

Hier sollte Europa zur Stelle sein. Europa sollte in diesen drei Regionen Investitionen, Handelsgeschäfte, Diplomatie und Sicherheitskapazitäten konzentrieren, wenn es nicht völlig überflüssig werden möchte.

Wenn Europa dort Terrorismus, Piraterie und Staatsversagen bekämpft und eine regionale Machtpolitik entfaltet, wird das seine Partner entlang des Indischen und Pazifischen Ozeans mehr beeindrucken, als wenn es hin und wieder ein Marineschiff durch das Südchinesische Meer schickt.

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