Für die nächste Bundesregierung wird unabhängig von ihrer Zusammensetzung gelten, was ein Wahl-Slogan der FDP bereits vor vier Jahren propagierte: „Digital first. Bedenken second!“ So will Digital-Staatsministerin Dorothee Bär, im „Team Laschet“ für Digitalisierung zuständig, ausdrücklich etwas tun gegen „Bedenkenträger“. Eines steht fest: Der Titel eines Buches der Managerin Marie-Luise Wolff, die sich für eine nachhaltige statt überstürzte Digitalpolitik einsetzt, beschreibt die Partei-Programme perfekt: „Die Anbetung: Über eine Super-Ideologie namens Digitalisierung“.
Wer bei den Bundestagswahlen seine Stimme abgab, hatte in Sachen kulturverändernde Digitalisierung nicht die Qual der Wahl – höchstens die Qual, das er keine echte Wahl hatte. Alle Parteien nämlich, die Chancen auf ein Überschreiten der Fünf-Prozent-Hürde hatten, taten in ihren Wahlprogrammen so, als gäbe es an der Digitalisierung nichts Wesentliches zu kritisieren. Die Notwendigkeit der digitalen Transformation wurde und wird allenthalben hingenommen, als handle es sich um ein unabwendbares Naturereignis, ja um eine höchst begrüßenswerte Kulturentwicklung. Mit dieser Grundeinstellung aber gehen die Parteien über mannigfaltige Digitalisierungskritik in unserer Gesellschaft ignorant hinweg. Solche Kritik spiegelt sich beispielsweise in Dutzenden von Büchern und zeugt somit, wenn nicht von künstlicher, so doch jedenfalls von menschlicher Intelligenz. Beispielsweise betont der Theologe Ulrich Hemel, Direktor des Weltethos-Instituts in Tübingen, am Ende seines Buches „Kritik der digitalen Vernunft“: „Die digitale Welt öffnet bislang ungeahnte Möglichkeiten, schafft aber auch neue Abgründe.“ Warum verschweigt die Politik diese Abgründe weithin, statt sie ernsthaft zu debattieren und Bedenkenträger am liebsten zu diskriminieren? Im Folgenden werden einschlägige Buchtitel und Problempunkte benannt, um sie mit den meist so ganz anders gepolten Wahlprogrammen zu konfrontieren.
Digitale Bildung: Segen oder Fluch?
Alle Parteien, auch die meisten Splitterparteien, sprechen sich für eine intensivierte Digitalisierung der Schulen aus. „Wir geben dem DigitalPakt Schule neuen Schwung“, wirbt beispielsweise die CSU; die FDP fordert sogar „einen Digitalpakt 2.0“. Auch die GRÜNEN wollen „den DigitalPakt zu einem echten gemeinsamen Vorhaben nachhaltig und dauerhaft weiterentwickeln“. Riesensummen sind für den „Digitalpakt#D“ vorgesehen. Der Weg zu einer „Lernfabrik 4.0“ steht gerade seit der Pandemie außer Frage. Als wäre zur Problematik digitaler Bildung nicht bereits auch viel Kritisches gesagt und geschrieben worden – etwa von Gerald Lembke und Ingo Leipner das Buch „Die Lüge der digitalen Bildung“ oder von Professor Ralf Lankau die Broschüre „Kein Mensch lernt digital“. Namentlich der Ulmer Hirnforscher Professor Manfred Spitzer warnt beharrlich vor den ablenkenden Seiten der digitalen Medien bei Kindern und Jugendlichen. Doch der Allvernetzungswahn macht gerade vor denen nicht halt, die sich am wenigsten gegen seine Durchsetzung wehren können – eben den Minderjährigen. Was Industrie und Wirtschaft freut und die Politik immer mehr fördert, hat höchst ambivalenten Charakter. Nicht von ungefähr votiert der Lehrer Arne Ulbricht in seinem Buch „Schule ohne Lehrer? Zurück in die Zukunft“ dafür, Schule sollte besser Alternativen zum dauerhaften Internetkonsum aufzeigen. Die Wahlprogramme aber erweisen sich in dieser Hinsicht auf merkwürdige Art erstaunlich alternativlos. Fazit: Der Tanz ums digitale Kalb hat Zukunft.
Das Dunkle im Netz
Das neue digitale Zeitalter umfasst ein besonders dunkles Kapitel: das sogenannte Darknet. Diese besonders finstere Seite des Internets wird gern für allerlei kriminelle Machenschaften und Geschäfte in Anspruch genommen. Ohne passende Software oder eine bestimmte Browser-Konfiguration entzieht sich das Darknet dem Zugriff gewöhnlicher Internetnutzer. Deshalb wird es auch als Teil des versteckten, „unsichtbaren“ Netzes bezeichnet. Dessen Problematik ist in den digitalisierungseuphorischen Wahlprogrammen bezeichnenderweise kein Thema. James Bridle aber hat ein Buch geschrieben, das sogar unser ganzes digitales Zeitalter als New Dark Age bezeichnet; der Untertitel lautet: „Der Sieg der Technologie und das Ende der Zukunft“. Der einflussreiche Autor hat über Künstliche Intelligenz seine Doktorarbeit geschrieben und weiß: „Unsere Technologien sind an den größten Herausforderungen, vor denen wir heute stehen, beteiligt: einem außer Kontrolle geratenen Wirtschaftssystem, das viele Menschen ins Elend stürzt und die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer werden lässt; dem Zusammenbruch des politischen und gesellschaftlichen Konsenses überall auf der Welt, was wachsende Nationalismen, gesellschaftliche Spaltungen, ethnische Konflikte und Schattenkriege zur Folge hat; und einem Klimawandel, der uns alle existenziell bedroht.“ Nicht zuletzt warnt Bridle vor der verharmlosend als Wolke bezeichneten Cloud, in der gern alles Mögliche ausgelagert und gespeichert wird: „Die Cloud ist eine Machtbeziehung, und die meisten Menschen sind dabei nicht obenauf.“ Die weltweit spürbaren Auswirkungen der digitalen Technologie haben laut Bridle bereits alle unsere Lebensbereiche erfasst und „sind potentiell katastrophal“. Nicht nur das Darknet, sondern auch das „New Dark Age“ mit all seiner Problematik – kein Thema für digitalisierungsbegeisterte Wahlprogramme?
Cyberkriege und analoge Kriegsgefahr
Kürzlich wurden die gern verdrängten militärischen Aspekte der Digitalisierung von US-Präsident Joe Biden ins Licht der Weltpolitik gerückt: Unüberhörbar warnte er vor einem Krieg als Folge eines Cyberangriffs. An großangelegten Hackerangriffen auf die USA könne sich ein umfassender Krieg entzünden: „Wenn wir in einem Krieg, einem echten Krieg mit einer Großmacht enden, dann als Folge eines Cyberangriffs von großer Tragweite.“ Dass er dies anlässlich seines ersten Amtsbesuches im Büro der US-Geheimdienst-Koordination feststellte, ist kein beruhigender Umstand. Die Fähigkeiten für einen solchen Digit-Angriff nehmen nach seiner Überzeugung aktuell stark zu. Auch Klaus Schwab warnt als Präsident des Weltwirtschaftsforums (WEF) vor digitalen Massenvernichtungswaffen. Doch die Wahlprogramme der größeren Parteien gehen entweder gar nicht oder nur relativ vage auf diese brisante Thematik ein. Die SPD schreibt ähnlich wie andere Parteien: „Autonome Waffensysteme senken die Schwelle für kriegerische Handlungen, Kernwaffen erleben ein Comeback, digitaler Fortschritt macht uns verwundbar für Cyberangriffe. Dafür werden wir auf parlamentarischer Ebene einen Mechanismus einrichten, durch den neue Programme, Gesetze, Vorhaben daraufhin überprüft werden, ob sie friedenspolitischen Zielen widersprechen.“ Ob damit aber wirklich Abhilfe geschaffen werden könnte, darf angesichts der internationalen Problematik bezweifelt werden. Digitale Bedrohungslagen auf militärischer Ebene lassen sich kaum wirksam regulieren oder gar verbieten. Digitalisierungskritische Konsequenzen zieht aus dem besorgniserregenden Befund keine einzige Partei.
Digitalisierung ohne Ethik?
Statt noch weitere kritische Punkte in Sachen Digitalisierung mit den Wahlprogrammen zu vergleichen, sei hier einfach perspektivisch festgestellt: Die problematischen Aspekte der digitalen Transformation werden fast durchweg kleingeredet oder ignoriert – gleichsam zugunsten einer „Anbetung des Digitalen“. Das gilt übrigens großenteils auch in den Kirchen hierzulande. Immerhin hat die EKD „Zehn Gebote“ im Blick auf die Digitalisierung formuliert, spricht aber im Untertitel ausdrücklich nur von den Chancen statt auch von den Risiken. Hier und da erklingen heutzutage zwar Rufe nach einer Ethik fürs Digitale, aber selbst die muten angesichts der zum Teil paradoxen Vielstimmigkeit ethischer Konzepte und der geringen Überprüfbarkeit etwa von Algorithmen beinahe naiv an. Eine digitale Fortschrittsfalle baut sich auf, ohne dass dies im Wahlkampf eine Rolle gespielt hätte. Der TV-bekannte Astrophysiker Harald Lesch und der Moraltheologe Thomas Schwartz kritisierten bereits voriges Jahr in ihrem Buch „Unberechenbar. Das Leben ist mehr als eine Gleichung“ (2020) mit Recht den „ausufernden Technikwahn(sinn)“: Der Mensch habe mit Forschung und Technik Möglichkeiten geschaffen, derer er nicht mehr Herr werde, und es sei „weit und breit kein alter Hexenmeister zu entdecken, der dem Spuk ein Ende bereitet.“ Das gilt auch für den hinter uns liegenden Wahlkampf: Der Umgang mit dem Thema Digitalisierung ist im Grunde erschreckend zukunftsblind. Wird der immer wieder zu hörende Spott über die „Apokalyptiker des Digitalen“ vielleicht schon im Laufe der kommenden Legislaturperiode verstummen?
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