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Die Senioren sind in der Fortschrittsfalle gefangen

Lesezeit: 7 min
07.11.2021 10:56
Die Menschen werden immer älter und deshalb immer kränker. Doch gegen Letzteres tun sie nichts. Warum das so ist, zeigt DWN-Kolumnist Ronald Barazon in einer scharfsinnigen Analyse auf.
Die Senioren sind in der Fortschrittsfalle gefangen
Papst Franziskus hat einen Basketball geschenkt bekommen, den er bei seiner wöchentlichen Generalaudienz in der Vatikanischen Audienzhalle einer Seniorengruppe präsentiert. (Foto: dpa)

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Die Angst vor dem Tod hat während der Corona-Pandemie enorm zugenommen. Ist diese Angst begründet? Dumme Frage, werden viele einwenden, und sie haben vollkommen Recht: Es ist natürlich, sich vor dem Tod zu fürchten, und deshalb ist es ganz selbstverständlich und absolut nachvollziehbar, den Virus als zusätzliche lebensbedrohliche Gefahr wahrzunehmen.

Die Debatte brauchen wir also nicht. Aber: Eine andere Debatte über den Tod, die brauchen wir, sie ist hochaktuell, ja längst überfällig. Warum es geht? Um die Frage, wann und in welchem Zustand wir sterben müssen.

Tatsache ist: Die Medizin hat es geschafft, das Sterbealter um Jahre hinauszuzögern. Allerdings hat dieser Erfolg zu Veränderungen geführt, die für viele Ältere nicht nur Freude, sondern enorme Belastungen bedeuten. Viele leiden nämlich unter Krankheiten, die vergangene Generationen nicht erlebt haben, weil sie früher starben. Mehr noch: Eine nähere Analyse des modernen Alters zeigt Herausforderungen für alle auf, stellt letztlich das Selbstverständnis jedes Einzelnen auf den Prüfstand.

Im Jahr 1975 starben mehr Menschen in Deutschland als im Corona-Jahr 2020

Ein Blick auf die Entwicklung der Sterbefälle zeigt erstaunliche Fakten: Im Corona-Jahr 2020 starben laut Statistischem Bundesamt in Deutschland 985.620 Menschen, davon 39.758 durch oder mit Covid-19 (entspricht fast genau vier Prozent aller Todesfälle), sowie 338.001 an Herz-Kreislauferkrankungen (entspricht 34,3 Prozent). Die Zahl 985.620 wird vielfach als Rekord bezeichnet und als Folge von Covid-19 angesehen. Doch wie erklärt man sich, dass im Jahr 1975, also 45 Jahre früher, sogar 989.640 Todesfälle zu beklagen waren, also etwas mehr, und das bei einer geringeren Bevölkerung? Übrigens: In den Folgeperioden bewegte sich die Zahl der Toten auf ähnlich hohem Niveau. Erst ab den neunziger Jahren begann ein ständiger Rückgang, und erst in den letzten Jahren findet ein dramatischer Anstieg statt, der weithin unbemerkt schon vor Corona zu Rekordwerten führte. Was steckt hinter diesen erstaunlichen Zahlen?

Die geringste Zahl an Todesfällen wurde im Jahr 2004 mit 818.271 Verstorbenen verzeichnet. Wie kann das sein, angesichts der Tatsache, dass 2004 die Bevölkerung gegenüber dem Jahr mit dem traurigen Spitzenwert – also 1975 - um circa vier Millionen größer war, es also eigentlich mehr Tote hätte geben müssen? Zudem war 2004 ein Schaltjahr, also musste ein Tag mehr gezählt werden, und dennoch war der geringste Wert zu verzeichnen?

Die medizinischen Erfolge bringen viele zusätzliche Jahre – und neue Leiden

Die Antwort liegt in den Erfolgen der Medizin, die im letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts sensationelle Fortschritte bei der Bekämpfung der großen Volkskrankheiten erzielt hatte. Und diese neuen Techniken kamen in den Jahren nach 2000 voll zum Einsatz: Bei der Behandlung von Herzerkrankungen, von Krebs, von Diabetes und von anderen Krankheiten. Tatsache ist: Die moderne Medizin hat entscheidend zur Verlängerung der Lebenszeit beigetragen. Die damals 65- bis 75-Jährigen profitierten von den Innovationen, und genauso taten und tun es die ihnen nachfolgenden Jahrgänge.

Ein Grund zur Freude? Ja – aber auch nein. Denn je älter die Menschen werden, desto eher geraten sie in eine Situation, die man als Fortschrittsfalle bezeichnen kann. Zwischen 75 und 85 und später erleiden die Menschen vielfach Krankheiten, die frühere Generationen gar nicht kennengelernt haben, weil sie bereits in jüngeren Jahren verstarben. Zu nennen sind Krankheiten wie Demenz, Inkontinenz, Schlaganfall, Parkinson oder Arthrose, die kaum zu heilen sind.

Um noch mal auf die geringen Todesfallzahlen Anfang der 2000er Jahre zurückzukommen: In konsequenter Folge dieses Phänomens stieg die Zahl der Todesfälle zehn Jahre später, das heißt ab 2015 (925.200 waren es) wieder an (denn die Menschen, die aufgrund der besseren medizinischen Leistungen kurz nach der Jahrtausendwende nicht gestorben waren, leb(t) ja nicht ewig, sondern starben und sterben eben zehn oder noch ein paar Jahre später). Seither entsprechen die Todesraten wieder den zwischen 1970 und 1990 üblichen Raten von deutlich über 900.000.

  • Zur Orientierung: 1970 gab es in Deutschland 1,5 Millionen Menschen über 80, im Jahr 2015 waren es bereits 4,7 Millionen und im Jahr 2020 5,6 Millionen. Die Zahl steigt weiter.
  • Derzeit leben in Deutschland 83,16 Millionen Menschen. 24 Millionen davon sind über 60, was einem Anteil von 29 Prozent entspricht. Auch diese Zahl wird weiter steigen.

Bis zum 75. Lebensjahr sind die meisten fit, dann beginnen die Probleme

Im Vordergrund steht die Frage, ob die Menschen die gewonnenen Jahre im Alter genießen können. Eine brauchbare Antwort liefert in diesem Zusammenhang die Statistik der Pflegebedürftigen. Bis zum 70. Lebensjahr tritt das Problem recht selten auf, und auch in der Gruppe der 70- bis 74Jährigen sind nur acht Prozent pflegebedürftig. Danach geht die Zahl nach oben, ab 80 steigt die Bedürftigkeit dann dramatisch an. Mit Anfang 80 sind etwa 25 Prozent auf Hilfe angewiesen, ab 90 brauchen bereits drei Viertel (76) Prozent der Menschen Pflege.

Die Konsequenz: Man muss davon ausgehen, dass etwa drei Millionen der insgesamt 5,6 Millionen über 80Jährigen Probleme haben, ein zur Gänze selbstbestimmtes Leben zu führen. Und umgekehrt die gute Nachricht: 2,6 Millionen können das hohe Alter sehr wohl genießen. Und die zweite gute Nachricht: Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung ist bis zum 75. Geburtstag durchaus fit.

Die Erfolge der Medizin halten also bis 75. Doch: Was dann?

Kann man mit einem neuen Schub an medizinischen Erkenntnissen rechnen, die dafür sorgen, dass die meisten Menschen ein weiteres Jahrzehnt nach ihrem 75. Geburtstag genießen können? Tatsächlich wird weltweit an Mitteln gegen Demenz, gegen die Degeneration der Gelenke und gegen alle anderen Leiden eifrig geforscht. Vielleicht wird man in zehn oder zwanzig Jahren in einem Artikel zu diesem Thema schreiben, dass die Probleme (erst) ab 85 auftreten.

Die Rezepte für ein gesundes Altern sind bekannt, werden aber nur von wenigen genutzt

Im Grunde müsste man nicht erst Jahrzehnte warten, bis dieser Zustand eintreten kann. Auch ohne neue sensationelle medizinische Erkenntnisse bestünde die Möglichkeit, eine erhöhte Widerstandsfähigkeit in der Bevölkerung aufzubauen, die vor allem im Alter die Menschen vor den schlimmsten Folgen der Krankheiten bewahren würde. Um diesen Zustand zu erreichen, müsste es für alle zur Selbstverständlichkeit werden, bis ins hohe und höchste Alter Sport zu treiben und sich gesund zu ernähren. Nachdem dies jedoch nicht in genügendem Maße geschieht, ist man gegenüber den meisten Krankheiten nicht gerüstet.

Zur Untermauerung dieser Feststellung genügt ein Blick auf die Fettleibigkeit: In Deutschland sind 67 Prozent der Männer und 53 Prozent der Frauen übergewichtig. Jeder vierte Erwachsene ist stark übergewichtig, also adipös. Der Anteil der Adipositas nimmt mit dem Alter zu, wie die Deutsche Adipositas-Gesellschaft betont.

Überzeugt sind alle Experten auch, dass eine rege geistige Tätigkeit im Alter für mehr Widerstandskraft sorgt und dazu beiträgt, dass man länger gesund bleibt. Also sind alle Kurse, Studien und sonstigen intellektuellen Aktivitäten als Rezepte gegen Demenz und Alzheimer zu preisen. Landauf, landab wird das antike Motto „mens sana in corpore sano“ den Menschen ans Herz gelegt – aber viele hören nicht zu.

Die Grundmuster der Erziehung und des Alltags-Verhaltens erweisen sich im Alter als Hemmschuh

Wenn das alles so einfach ist, warum befinden sich die Senioren nicht reihenweise in Sprachschulen und in Fitnesszentren, diskutieren mit Philosophen und stürmen die Berggipfel? Tatsächlich folgen viele ältere Mitbürger diesen Rezepten, und nicht wenige 80jährige Doktoranden erreichen die Promotion. Doch bilden diese eine Minderheit - während die meisten zwar um die guten Ratschläge wissen, können sie sich nicht zu einer dauerhaften körperlichen und geistigen Tätigkeit entschließen. Warum?

Weil diese Aktivitäten nicht in die Programmierung der Mitteleuropäer passen. Man ist vom ersten Lebenstag an konditioniert, eine Leistung zu erbringen und dafür belohnt zu werden. Als Baby wird man gefeiert, wenn der angebotene Brei verzehrt wird, und auch der Abschluss des Stoffwechsels führt zu einem elterlichen Bravo. Im Kindergarten bekommt man für halbwegs erträgliches soziales Verhalten und die Produktion von einfachen Zeichnungen großes Lob von den Erzieherinnen. In der Schule geht es weiter, die erledigte Hausaufgabe, die korrekte Schularbeit sichern den Aufstieg in die nächste Klasse. In der Lehre und an der Universität kennt man das System schon, man weiß, wie man die Lehrenden zufrieden stellt. In den Unternehmen ist es nicht anders - wenn man die Vorgesetzten lange genug glücklich macht, endet man vielleicht sogar ganz oben. Und dann: Die Rente. Man muss keine Kindergärtnerin mit kindlichem Charme überhäufen, keinen Abteilungsleiter erfreuen. Was immer man tut, es gibt kein Lob, keine Anerkennung, nicht einmal einen Tadel oder eine Zurückweisung, die wenigstens zeigen könnten, dass man zur Kenntnis genommen wird. Nichts. Was immer man tut, es ist allen egal.

Solange man unter all den Autoritäten leidet, sieht man in der Rente einen paradiesischen Zustand der Freiheit. Doch genau mit dieser Freiheit wissen dann die meisten wenig oder häufig auch gar nichts anzufangen. Die Freude, dass keine Hausaufgabe und kein Bericht über ein Projekt mehr abzuliefern sind, führt theoretisch zu einem erfüllten Leben, zur Umsetzung persönlicher Wünsche und Ziele. Das stimmt auch für manche, die das Tun genießen und sich ohne Anerkennung von außen freuen können, wenn sie mit 70 oder 80 einen Gipfel erklommen oder einen altgriechischen Text verstanden haben. Aber das gilt nicht für alle, ja, es gilt nur für wenige.

Mehr noch: Die ersten Monate, vielleicht sogar die ersten Jahre der Rente werden als Befreiung von den vielen Zwängen genossen. Nach einiger Zeit macht sich jedoch die Leere breit, und man wäre sogar daran interessiert, all die empfohlenen Aktivitäten zu entfalten. Meist ist es aber unendlich schwer, wieder in einen Arbeitsrhythmus zu finden, der zudem nicht mehr von einem Betrieb diktiert wird und den man selbst definieren und einhalten muss. Dazu sind viele noch eher knapp nach dem Ausscheiden aus dem Arbeitsleben in der Lage, aber nicht, wenn sie sich bereits viele Jahre fragen, warum sie denn morgens das Bett verlassen sollen.

Nur eine vollständig neu definierte Position jedes Einzelnen könnte das Problem lösen

Erwartet werden Lösungen von der Wirtschaft, die den Älteren entsprechende Arbeitsplätze anbieten soll, wobei der Begriff der Altersteilzeit sehr beliebt ist. Diese Modelle sind in vielen Betrieben jedoch nur schwer zu realisieren und auch für die Betroffenen nicht unbedingt attraktiv. Gefordert sind auch die spezialisierten Geronto-Psychologen und Geronto-Psychiater, die mit Personen arbeiten müssen, die meist nur eine geringe Bereitschaft zur Kooperation zeigen. In der Medizin ist jedoch generell die Mitarbeit der Patienten für den Erfolg der Heilung wichtig, in der Psychologie und nicht zuletzt in der Alten-Psychologie ist dieser Faktor sogar besonders entscheidend.

Die medizinischen Erfolge, die die Menschen Jahrzehnte länger leben lassen, bewirken, dass sich viele aufgrund ihrer Konditionierung als Leistungserbringer und Lobempfänger nicht mehr zurechtfinden. Die Problematik erweist sich aktuell als unlösbar. Langfristig würde sich ein Bekenntnis zur eigenständigen Persönlichkeit empfehlen, das sich durch alle Lebensphasen ziehen müsste.

Nur ist leider Skepsis am Platz: Welche Kindergärtnerin möchte schon eine Truppe von Individualisten betreuen? Welcher Professor ist begeistert, wenn ein Student mit tatsächlich neuen Ideen auftritt? In welchem Unternehmen werden die Querköpfe gefeiert? Es geht zudem nicht nur um jene, die aufgrund ihrer Position als Autoritäten agieren und ihre Tätigkeit mit möglichst geringem Gegenwind ausüben wollen. Viele sind sehr zufrieden, wenn sie klare Aufgaben bekommen, und überlassen gerne Entscheidungen den „Oberen“ und delegieren so auch die Verantwortung für die Ergebnisse nach „oben“.

In diesem Umfeld werden weiterhin nur wenige mit einem kraftvollen Konzept in den letzten Lebensabschnitt wechseln. Wahrscheinlich ist eine Verlängerung der Arbeitszeit die realistischste und brauchbarste Lösung des Problems, eine Lösung, die dafür sorgt, man einige Jahre länger im gewohnten Leistung-Lob-Schema bleibt, ja, bleiben darf.

                                                                            ***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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