Die deutsche Wirtschaft meldet mehr Personal-Engpässe als vor der Corona-Krise. Wie aus dem am Montag vorgelegten Bericht des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) hervorgeht, können mehr als die Hälfte der Unternehmen derzeit offene Stellen zumindest vorübergehend nicht besetzen. „Der Fachkräftemangel in den Betrieben ist zurück: schneller und in größerem Umfang als von vielen erwartet“, so der stellvertretende DIHK-Hauptgeschäftsführer Achim Dercks. Bei den Arbeitskräften sei der Zenit erreicht. In den kommenden Jahren werde es für die Unternehmen ein immer mühsameres Geschäft, mit den Fachkräfte-Engpässen zurechtzukommen.
Der DIHK-Bericht beruht auf den Antworten von rund 23.000 Unternehmen. 51 Prozent davon können offene Stellen zumindest teilweise nicht besetzen, weil sie keine passenden Arbeitskräfte finden. „Und das, obwohl die Krise und die wirtschaftlichen Schwierigkeiten in vielen Betrieben nicht überstanden sind und der Konjunkturaufschwung schwächelt“, sagte Dercks. Im Herbst 2019, also vor Ausbruch der Pandemie in Deutschland, hatten „nur“ 47 Prozent der Betriebe Schwierigkeiten beim Anheuern neuer Mitarbeiter.
Durch Engpässe in einzelnen Bereichen könnten weite Teile der Wirtschaft in Mitleidenschaft gezogen werden, warnt der DIHK: „Fehlen beispielsweise IT-Experten, betrifft dies auch Mittelständler, die Geschäftsprozesse digitalisieren oder sich um eine bessere Cybersicherheit kümmern möchten.“ Damit erweise sich der Fachkräftemangel als „enorme Wachstumsbremse.“
Analyse - es fehlen qualifizierte Arbeitskräfte
Fünf Millionen Arbeitslose, Hunderttausende weitere in Qualifizierungen und Weiterbildungen versteckt - Deutschlands Arbeitsmarkt kannte vor gut 15 Jahren nur ein Ziel: Stellen schaffen, wo immer es geht. Doch schon damals war für die Wissenschaft absehbar, was heute bittere Realität ist. Nicht die Arbeitsplätze sind längerfristig das Problem, sondern die Arbeitskräfte. Dem deutschen Arbeitsmarkt fehlen die Leute, und das Problem dürfte sich in den nächsten Jahren verschärfen. Schon jetzt hat sich die Arbeitslosigkeit halbiert - trotz Corona.
„Die Fachkräfte werden das Hauptthema werden“, sagt der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele. Den Mangel an geeignetem Personal hält er für die entscheidende Wachstumsbremse für die Konjunktur in Deutschland. Doch wo sollen die Fachleute herkommen, die in den kommenden Jahrzehnten den Ruf von „Made in Germany“ hochhalten, Werkzeugmaschinen und Autos bauen, chemische Produkte herstellen und die Digitalisierung vorantreiben?
Weiterbildung
„Unser Eindruck ist, dass wir vor einer Dekade der Weiterbildung und Qualifizierung stehen“, sagt Scheele. Die Erkenntnis ist so einfach wie erschreckend. „Jeden Menschen, der uns aus dem Erwerbsleben rausfliegt, werden wir teuer bezahlen, wenn wir versuchen, einen anderen zu finden: Der ist nämlich nicht da“, betont er. Die einzige inländische Reserve ist die eine Million Langzeitarbeitslose. Sie zu qualifizieren und ins Arbeitsleben zurückzuholen, ist schwierig, aber nicht unmöglich. Längere Ausbildungszeiten und modulare Ausbildungen wären für Scheele Möglichkeiten, um auch Menschen den Weg zu ebnen, die eine Ausbildung am Stück nicht schaffen. Es brauche auch einen Imagewandel bei Hartz-IV. Jobcenter dürften nicht länger als „Hort der Drangsalierung“ wahrgenommen werden.
Das Teilhabechancengesetz, das Fördermöglichkeiten für die Einstellung von Langzeitarbeitslosen vorsieht, solle in einem entscheidenden Teil von der neuen Bundesregierung verlängert werden, fordert Scheele. Das sei teuer - knapp eine Milliarden Euro pro Jahr - aber sinnvoll. Wie steinig der Boden ist, den die BA pflügt, belegt eine Studie des IAB: Demnach hat die Hälfte der Langzeitarbeitslosen eine Beschäftigungswahrscheinlichkeit von weniger als 20 Prozent.
Ein weiteres Ziel ist es, mehr Menschen von Minijobs in höherwertige, sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse zu bringen. Minijobs seien für Studenten oder Rentner ein gangbarer Weg, wenn es darum geht, etwa dazuzuverdienen. Für Zweitverdiener aber müsse es bessere Möglichkeiten geben, sagt etwa Christina Ramb von der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA).
Ausbildung
Der Leiter des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), Bernd Fitzenberger, hat für die Situation auf dem Ausbildungsmarkt nur eine Beschreibung: „Enttäuschend!“ 40 Prozent der Ausbildungsplätze, die die Wirtschaft gerne besetzt hätte, waren im September noch frei. Besonders eklatant ist die Situation am Bau und in kleineren Betrieben. Der natürliche Motor der Fachkräftegewinnung - der eigene Nachwuchs - stottert gewaltig.
Das liegt auch an der Corona-Krise, aber wohl nicht nur. Es fehlten Bewerber, vor allem geeignete, klagen die Betriebe laut einer Umfrage des IAB. Im Klartext bedeutet dies: Viele junge Menschen hierzulande sind intellektuell nicht mehr in der Lage, anspruchsvolle Tätigkeiten auszuüben.
Fitzenberger kontert: Die Unternehmen müssten deutlich kompromissbereiter werden. „Wir können es uns eigentlich nicht leisten, Jugendliche, die sich bewerben, nicht einzustellen.“
Die Arbeitnehmerseite hält eine staatliche Ausbildungsgarantie für ein gebotenes Mittel, wie DGB-Vorstand Monika Piel vorschlägt. Für BDA-Expertin Ramb ist dagegen die regionale Kluft zwischen Angebot und Nachfrage das entscheidende Problem. „Das werden wir mit einer Ausbildungsgarantie nicht lösen.“
Zuzug aus dem Ausland
Die Zuwanderung von Arbeitskräften aus EU-Ländern und auch aus Drittstaaten ist in der Corona-Krise praktisch zum Erliegen gekommen. Sie ist aber bitter nötig, um das Fachkräftepotenzial zu stützen - und längerfristig auch die Sozialversicherung in Deutschland nicht zu gefährden. Die EU-Arbeiter bleiben aus, weil vor allem in den unteren Lohngruppen die Bezahlung in Heimatländern wie Polen inzwischen praktisch gleich ist. Mit einer Reihe von Projekten versucht die Bundesagentur für Arbeit, Menschen aus Drittstaaten zu gewinnen - Mexiko, Indonesien oder die Philippinen sind Beispiele.
Die deutsche Sprache ist ein Hindernis, sagt BA-Vorstandsmitglied Daniel Terzenbach, die Anerkennung ausländischer Abschlüsse sei in Deutschland noch immer holprig. Deutschland habe aber im Wettbewerb um Arbeitskräfte auch erhebliche Vorteile zu bieten, etwa bei den Arbeitsbedingungen. Wenn bei Präsentationen im Ausland von 30 Tagen Urlaubsanspruch und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gesprochen werde, könnten das die Interessierten kaum glauben.
Was Terzenbach mit Verweis auf die „deutsche Sprache“ nicht sagt beziehungsweise nur andeutet: In den vergangenen Jahren kamen vor allen unqualifizierte Zuwanderer in großer Zahl nach Deutschland, deren Qualifikation und Ausbildungsstand sich auf sehr niedrigem Niveau bewegt und welche dementsprechend auch nur in Berufsbildern im Niedriglohnbereich wie Kurierfahrern oder Hilfsköchen unterkommen. Die hochqualifizierten Arbeitsmigranten zieht es derweil vor allem in die USA, die Schweiz, nach Australien, Kanada und Großbritannien - wo viel striktere Einwanderungsbestimmungen als in Deutschland herrschen.
Demografie
Der Zuzug aus Drittstaaten macht eher einen kleinen Teil bei der Fachkräftegewinnung aus - aber einen notwendigen. Bald werden geburtenstarke Jahrgänge in den Ruhestand verabschiedet. Würde überhaupt kein Hebel in Bewegung gesetzt, weder im Inland noch im Ausland, würden bis 2035 sieben Millionen Arbeitskräfte fehlen, rechnet Terzenbach vor. Deswegen müsse gegengesteuert werden: Mit längeren Lebensarbeitmodellen, mit mehr Wochenstunden für Frauen, mit Qualifizierung von Langzeitarbeitslosen und auch mit Einwanderung.