Finanzen

Wie gefährlich ist der Lira-Kollaps für Europas Banken?

Die dramatische Währungskrise in der Türkei könnte auch Europas Finanzsystem in Mitleidenschaft ziehen. Wie hoch ist das Risiko?
19.12.2021 11:00
Lesezeit: 5 min
Wie gefährlich ist der Lira-Kollaps für Europas Banken?
März 2012: Premierminister Recep Tayyip Erdogan stellt das neue Lira-Symbol vor. (Foto: dpa) Foto: Riza Ozel / Anadolu Agency

Grafik: Der exponentielle Wertverfall der türkischen Lira gegenüber dem Dollar auf Sicht der vergangenen zehn Jahre. (Quelle: Tradingeconomics)

Der Wertverfall der türkischen Landeswährung Yeni Lira nimmt bedrohlich Ausmaße an. Beinahe täglich markiert der Wechselkurs gegenüber dem US-Dollar und dem Euro historische Tiefstände. Im Vergleich zu beiden Währungen hat sich der Außenwert der türkischen Landeswährung seit Jahresbeginn mehr als halbiert. Die Lira ist damit weltweit zur Währung mit den höchsten prozentualen Wertverlusten im Jahr 2021 aufgestiegen, sieht man einmal vom venezolanischen Bolivar ab.

Wenig bekannt ist, dass die Krise in dem bedeutenden Schwellenland theoretisch nach Europa übergreifen könnte. Experten aus der Finanzbranche verweisen als Grund insbesondere auf die Engagements europäischer Banken in der Türkei.

So sind spanische Banken derzeit im Umfang von rund 60 Milliarden US-Dollar in der Türkei investiert. In den Büchern französischer Banken sind Aktiva von rund 26 Milliarden Dollar verbucht. Deutsche und britische Finanzinstitute haben immerhin noch je rund 13 Milliarden Dollar investiert. Italienische Banken erreichen rund 7 Milliarden Dollar, wie aus aktuellen Zahlen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich hervorgeht.

Mit Blick auf einzelne Geldinstitute verfügt die niederländische ING über ein Kredit-Exposure von rund 8.7 Milliarden Euro (3.4 Milliarden Euro Retailgeschäft und 5.3 Milliarden Euro Wholesale Banking), die französische BNP Paribas hat 9.4 Milliarden Euro Kredite in der Türkei ausstehend und die HSBC hat bei HSBC Turkey insgesamt 4.6 Milliarden US-Dollar ausstehend. Zudem hält die spanische BBVA 50 Prozent der Anteile an der Garantie-Bank und es läuft gerade eine Tender Offer zum Erwerb der restlichen 50 Prozent. Die italienische UniCredit wird ihren Anteil von 20 Prozent an der Yapi Bank im ersten Quartal 2022 verkaufen.

Käme es in Folge der sich zuspitzenden Währungskrise zu einer Finanzkrise oder breit angelegten Zusammenbrüchen von Firmen, müssten europäische Banken wohl in bedeutendem Umfang Abschreibungen vornehmen.

Diese Annahmen beruhen freilich auf einem Worst Case-Szenario. „Obwohl der Umfang der Auslandskredite der Türkei sich bereits den Verbindlichkeiten der berüchtigten Investmentbank Lehmann Brothers annähert, deren Kollaps unter einem Schuldenberg von 613 Milliarden US-Dollar im Jahr 2008 die Weltfinanzkrise auslöste, sind sich Experten bezüglich des Fallouts einer türkischen Schuldenkrise uneinig. Tatsächlich scheinen die Folgen massenhafter Kreditausfälle am Bosporus für die Finanzbranche der Eurozone verkraftbar; doch besteht eine ernste Gefahr darin, dass Zusammenbrüche in der Türkei eine globale Kettenreaktion im instabilen Weltfinanzsystem auslösen“, kommentiert der Blog German Foreign Policy.

Dr. Michael Teig, Bankenanalyst bei UniCredit, kommt in einer den DWN vorliegenden Stellungnahme jedoch zu dem Schluss: „Zusammenfasend ist das Türkeiexposure für den EU-Bankenmarkt nicht so hoch, dass wir systemische Risiken sehen, auch wenn einzelne Banken stärkeres Exposure haben.“

Die Meinungen gehen auseinander. Ein von der Tagesschau befragter Fondsmanager befürchtet beispielsweise, dass die Türkei-Krise im schlimmsten Fall zu einer neuen europäischen Bankenkrise führen könnte. Im High-Yield-Bereich - also bei Anleihen von Unternehmen und Staaten mit schlechter Kreditwürdigkeit - gebe es bei türkischen Anleihen schon erste Anzeichen für eine Krise. Die Kosten für Kreditausfall-Versicherungen seien zuletzt massiv gestiegen. „Natürlich hätte eine ausgewachsene Bankenkrise in der Türkei negative Auswirkungen auf das Bankensystem der Eurozone“, zitierte die Tagesschau Ökonomen der Berenberg-Bank - doch die Gefahren für die Eurozone seien insgesamt begrenzt.

Deutsche Wirtschaft besorgt

Der Kurssturz beunruhigt inzwischen aber auch die deutsche Wirtschaft. „Die Entwicklung der türkischen Lira besorgt uns“, sagte der Präsident des Außenhandelsverbandes BGA, Dirk Jandura, der Nachrichtenagentur Reuters. „Weil dadurch Waren aus dem Ausland teurer werden, verringert sich die Nachfrage in der Türkei und deutsche Exporte leiden darunter.“ So seien die Ausfuhren in die Türkei beispielsweise alleine im August um 30 Prozent eingebrochen. Betroffen seien vor allem Exportwaren wie Maschinen, Autos und Autoteile sowie chemische Produkte. Deutschland ist wichtigster Handelspartner und einer der größten ausländischen Investoren in der Türkei: 2020 betrug das bilaterale Handelsvolumen 36,6 Milliarden Euro.

Für den BGA kommt die Krise nicht unerwartet. „Die Entwicklung der Lira ist nach den vergangenen Monaten keine große Überraschung“, sagte Jandura. „Geldpolitisch hat die türkische Regierung es verpasst, rechtzeitig gegenzulenken. Durch die Leitzinssenkung im November wurde diese Entwicklung noch beschleunigt.“

Die Zentralbank hat rapide an Ansehen bei Investoren verloren. Dazu hat Präsident Recep Tayyip Erdogan beigetragen, der immer wieder Zinssenkungen gefordert und drei Notenbankchefs binnen zweieinhalb Jahren verschlissen hat, was die Unabhängigkeit der Währungshüter massiv infrage stellt. Am Freitag hatte die Zentralbank die Leitzinsen trotz einer aus dem Ruder laufenden Inflation erneut gesenkt.

Offiziell beträgt die jährliche Geldentwertung in der Türkei derzeit rund 20 Prozent. Unabhängige Beobachter wie die im Format ENAG zusammengeschlossenen Akademiker rechnen allerdings damit, dass die aufs Jahr hochgerechnete Inflation im Oktober in Wahrheit um den Wert von 50 Prozent pendelt.

Geringverdiener am schwersten betroffen

Am schwersten vom Währungsverfall getroffen werden aber die Türken selbst, weil die Preise für all jene Güter stark steigen, die entweder importiert werden oder welche einen bedeutenden Anteil von importierten Vorprodukten in ihren Zulieferketten aufweisen.

Besonders Geringverdiener - die in etwa die Hälfte der türkischen Arbeitnehmer ausmachen und deren durchschnittlich pro Monat zur Verfügung stehendes Budget umgerechnet etwa 230 US-Dollar beträgt - bekommen die Lira-Schwäche bei einem galoppierenden Preisauftrieb zu spüren. Ihr Einkommen verliert deutlich an Wert. Wohlhabende Türken können hingegen auf Investments in ausländischen Währungen, Kryptowährungen oder Edelmetalle ausweichen und sich somit teilweise dem Sog entziehen.

Bei der Versorgung mit Grundnahrungsmitteln trifft es die gesamte Bevölkerung. Die Milchindustrie forderte bereits eine Anhebung der Preise um bis zu 55 Prozent. Denn durch die Abwertung steigen die Kosten, zum Beispiel für Futter. Auch in anderen Branchen ist die Lage angespannt.

Viele türkische Hersteller sind für die Produktion stark von importierten Rohstoffen und Vorprodukten abhängig. Inmitten der weltweit steigenden Rohstoffpreise belastet die Schwäche der Lira die lokalen Unternehmen erheblich. Da die Wechselkurse so stark schwanken, verkaufen einige ihren Waren nicht mehr auf Pump oder schließen vorerst gar keine neuen Geschäfte mehr ab. Einige Anbieter verweigern sogar Barverkäufe, weil sie fürchten, ihre Lager nur zu deutlich höheren Kosten wieder auffüllen zu können. Dies könnte laut türkischen Herstellern bald zu Produktengpässen führen.

Am schlimmsten trifft es Firmen, die den Löwenanteil ihres Geschäfts in der Türkei machen aber ihre Rechnungen in Dollar bezahlen müssen. Exportunternehmen mit Umsätzen in harten Devisen trifft es weniger hart. Jedoch könnten die Profite schrumpfen, da Kunden angesichts der Lira-Krise verstärkt nach Rabatten fragen dürften.

Ans Eingemachte geht es bei hoch verschuldeten Unternehmen. Ende September stand der private Sektor im Ausland insgesamt mit 171,6 Milliarden Dollar in der Kreide, wie Zentralbankdaten zeigen. Etwa 60 Prozent davon waren Firmen außerhalb des Finanzsektors. Ein Großteil dieser Schulden muss innerhalb von zwölf Monaten zurückgezahlt werden, sagte Ökonom Haluk Burumcekci Ende November der Nachrichtenagentur Reuters. Besonders bedrohlich: der reale Gegenwert der Auslandsschulden hat sich aufgrund der Währungskrise seit Jahresbeginn um rund 50 Prozent erhöht.

Einem von der Tagesschau befragten Professor an der Hochschule Aalen für Finanzierung und Volkswirtschaftslehre zufolge belaufen sich die Schulden türkischer Unternehmen im Ausland auf rund 240 Milliarden Dollar. Die gesamten Auslandsschulden der Türkei den Berechnungen zufolge sogar auf ungefähr 580 Milliarden Dollar.

Auch den Banken droht durch die Dollar-Aufwertung Ungemach. Der Wechselkursanstieg der Weltleitwährung treibt den Lira-Wert von Fremdwährungskrediten, was sich negativ auf das verfügbare Kapital der Geldhäuser auswirkt. Dann könnte es beim Kapitalpuffer eng werden - bei der sogenannten Kapitaladäquanzquote müssen die Banken nach Vorgabe der türkischen Finanzaufsehern auf eine Quote von über zwölf Prozent kommen. Schwierigkeiten hätten vor allem die Banken, die nicht genügend nachrangige Fremdwährungskredite aufnehmen könnten, heißt es aus Branchenkreisen.

BBVA mit fragwürdigem Erfolg

Vor diesem Hintergrund ist das Engagement europäischer Banken in der Türkei kritisch zu betrachten. Vor allem die spanische BBVA machte vor Kurzem mit einem fragwürdigen Erfolg von sich reden.

Der Absturz der Lira kommt dem Geldhaus entgegen. Die Übernahme der türkischen Bank Garanti kostet die Spanier nun gut 400 Millionen Euro weniger, wie BBVA-Chef Onur Genc Ende November sagte. Statt der ursprünglich angenommen 2,25 Milliarden Euro müsse BBVA für den Kauf von 50,15 Prozent an Garanti inzwischen nur noch 1,8 Milliarden Euro auf den Tisch legen. Auch werde die in Lira abgeschlossene Transaktion weniger Kapital binden.

BBVA ist bereits an Garanti beteiligt und hat die Übernahme der restlichen 50,15 Prozent Mitte November angekündigt - als der Lira-Absturz bereits in vollem Gange war. BBVA bietet den Garanti-Aktionären 12,20 Lira. Seit der Offerte geht der Kurs nach unten, aktuell notiert die Aktie bei rund 11,40 Lira. Im ersten Qaurtal 2022 soll die Übernahme abgeschlossen werden.

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