Der Nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden, Jake Sullivan, verkündete vergangenen Freitag, Russland könne „jeden Tag“ einen Angriff auf die Ukraine starten. Nach CIA-Informationen soll die Invasion angeblich am morgigen Mittwoch beginnen. Selenskyj hat in einer Ansprache an die Nation seine Landsleute dazu aufgefordert, morgen die Fahnen herauszuhängen und die Nationalhymne zu singen. Er halte die Wahrscheinlichkeit einer russischen Attacke für weitaus geringer, als es der Westen tue, so der ukrainische Präsident, und warnte vor Panikmache.
Recht hat er. Es wird keinen Angriff geben. Nicht morgen und nicht in näherer Zukunft. Die circa 130.000 russischen Soldaten, die derzeit in Russland und in Weißrussland in der Nähe der ukrainischen Grenze stehen, werden früher oder später ihre Zeltlager und Barracken verlassen und wieder in ihre Kasernen zurückkehren, ohne einen einzigen Schuss abgefeuert zu haben.
Warum die CIA die Meldung verbreitet hat? Weil sie und das Weiße Haus einen Plan verfolgen. Einen guten Plan.
Warum hat Putin die Truppen an der ukrainischen Grenze zusammengezogen? Nicht, um einen Krieg zu beginnen. Sondern, um eine politisch-militärische Drohkulisse aufzubauen. Um den Westen vor sich herzutreiben. Um die westlichen Verbündeten, die alle unterschiedliche Meinungen zum russisch-ukrainischen Konflikt haben, die alle einen unterschiedlichen Ansatz in ihrer jeweiligen Russland-Politik vertreten und die alle unterschiedliche Interessen verfolgen, auseinanderzudividieren. Sein schlussendliches Ziel: Dem Westen Zugeständnisse abzuringen in Sachen weiterer NATO-Osterweiterung sowie der Stationierung von Truppen in NATO-Staaten, die an Russland grenzen.
Doch die Geheimagenten aus Langley, Virginia, setzten dem russischen Präsidenten die Pistole auf die Brust. Entschlösse er sich tatsächlich dazu, seine Truppen in Marsch zu setzen, hätte er seine Karten endlich aufgedeckt. Er könnte den Westen nicht mehr in Unsicherheit wiegen, nicht mehr darauf hoffen, die Verbündeten gegeneinander auszuspielen. Natürlich will der Westen keinen Krieg in der Ukraine. Aber wenn es doch dazu käme, wäre es eben ein Ende mit Schrecken, kein Schrecken ohne Ende mehr. Man wüsste, woran man wäre; könnte politische Gegenmaßnahmen sowie wirtschaftliche Sanktionen konzipieren und in die Wege leiten.
Entschiede sich Putin jedoch gegen eine Invasion, würde das eine massive Einschränkung seines Drohpotentials bedeuten. Als Schwätzer, als Prahlhans hätte er sich entpuppt. Als einer, der große Reden schwingt, in der Stunde der Entscheidung jedoch klein bei gibt. Im Endeffekt könnte der Westen die Ukraine-Krise also als Sieg verkaufen - gemeinsam sei es gelungen, den großen Widersacher in Schach zu halten.
Nun weiß man aber, dass es Putin extrem wichtig ist, nicht das Gesicht zu verlieren. Viel zu oft hat der Westen, allen voran Amerika, nach dem gewonnenen Kalten Krieg Russland gedemütigt. Man denke nur an Bücher wie das 1992 erschienene „Das Ende der Geschichte“ des amerikanischen außenpolitischen Strategen und Politikwissenschafts-Professor Francis Fukuyama, in dem dieser postulierte, das westliche Politik- und Gesellschaftsmodell habe den endgültigen Sieg davongetragen und werde in kurzer Zeit überall auf der Welt dominieren. Oder an Barack Obamas höchst unkluge Aussage, Russland sei nicht mehr als eine „Regionalmacht“.
Und genau dieser Fehler, nämlich die Demütigung des russischen Bären, wird mit der Meldung über den angeblich baldigen Kriegsausbruch nicht wiederholt. Denn auch wenn sie dem Westen die Möglichkeit gibt, der Weltöffentlichkeit das Ausbleiben des Krieges als Erfolg, vielleicht sogar als Sieg zu verbuchen, so überlässt sie doch Putin einen gesichtswahrenden Ausweg.
Russlands Präsident kann nämlich geltend machen, er habe ja nie einen Krieg gewollt (und Tatsache ist nun mal, dass er - mittels des Truppenaufzugs - zwar de facto, aber niemals verbal einen Krieg angedroht hat). Er kann sich der Weltöffentlichkeit, dem russischen Volk, dem Westen gegenüber als Bewahrer des Friedens, als rationaler, Vernunft walten lassender Staatenlenker präsentieren, dessen einziges Ziel es ist, mit dem Westen in konstruktive Gespräche einzutreten.
Und diese Gespräche sind notwendig. Sie müssen die Interessen aller Beteiligten, das heißt Russlands, des Westens, der NATO-Staaten an der russischen Grenze sowie der Länder, die einst zur Sowjet-Union gehörten, nun aber unabhängig sind, berücksichtigen. Sie müssen auf Augenhöhe geführt werden. Und sie müssen so rasch wie möglich beginnen.
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