Der hauptsächliche Auslöser der Ukraine-Krise, die mögliche Präsenz von Nato-Truppen auf ukrainischem Boden, stellt kein wirkliches Problem mehr dar. Doch sowohl der Westen als auch Russland halten das Thema weiter am Kochen. Wobei das gar nicht nötig wäre. Zur Erinnerung: Moskau will nicht, dass die Ukraine NATO-Mitglied wird und die westliche Militärallianz dadurch bis an die russische Grenze vorrückt. Der Haupttreiber der Anti-Russland Politik, NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, hat dann auch erklärt, dass keine NATO-Kampftruppen in der Ukraine entsendet werden, und zwar selbst dann nicht, wenn Russland einmarschieren sollte. Moskau hat sein wichtigstes Ziel also erreicht und könnte zufrieden sein - hört aber dennoch nicht auf, zu zündeln. Fast schon makaber: Ein westlicher Spitzenpolitiker nach dem anderen umarmt den ukrainischen Präsidenten herzlich - und versichert ihm gleichzeitig, dass der Westen nichts für die Ukraine tun werde.
Selenskij erklärt den NATO-Beitritt für derzeit nicht aktuell
Lästig für Moskau war bis zum vergangenen Donnerstag die ukrainische Politik. Der ukrainische Präsident, Wolodymyr Selenskij, hielt stur an EU- und NATO-Beitritt seines Landes fest. Bestes Beispiel: Zu Beginn der Woche hatte der ukrainische Botschafter in London, Vadim Pristajko, erklärt, die Ukraine werde nicht der NATO und der EU beitreten, und bekam prompt einen Rüffel aus der Präsidentenkanzlei. Pristajko ist nicht irgendwer, er war Außenminister und auch Leiter der ukrainischen Delegation bei den Gesprächen mit der NATO. Immerhin: Offenbar sickerten in der Folge bei Selenskij die Signale aus dem Westen und aus seiner eigenen Botschaft in London dann doch durch.
Das zeigt sich an dem Interview, das der ukrainische Präsident am Mittwoch gab, und das Donnerstag in den russischen Zeitungen groß gebracht wurde. Es besagte, dass die Ukraine eine Garantie für ihre Sicherheit und Unabhängigkeit wolle, und zwar sowohl von Seiten des Westens als auch von Seiten Russlands. Diese Botschaft kommt erstmals seit Beginn der Krise den russischen Wünschen entgegen und bietet somit die Basis für eine diplomatische Lösung. Allerdings stellte Selenskij in dem Interview die Brücke zu Moskau auch gleich wieder in Frage: Er erklärte, dass der NATO-Beitritt nicht aktuell sei, dass die Allianz aber eine offene Türe habe und man in Zukunft weitersehen werde.
Der russische Außenminister Sergej Lawrow pflegt unumwunden seine nicht sehr schmeichelhafte Meinung über Selenskijs politische Kompetenz zu äußern. Es habe, so sagte er kürzlich in einer Pressekonferenz, keinen Sinn, mit dem ukrainischen Präsidenten zu verhandeln. Nach Selenskijs Interview diese Woche könnte Lawrow seine Meinung allerdings korrigieren.
Putin und Lawrow haben den Einmarsch in die Ukraine vorerst abgesagt
In Moskau zelebrierte Wladimir Putin eines seiner regelmäßig stattfindenden, im politischen Leben Russlands schon fest verankerten Fernseh-„Interviews“, bei denen sich der russische Präsident als eine Art Journalist inszeniert und jeweils eine prominente Persönlichkeit befragt beziehungsweise ihr Steilvorlagen liefert, die sie dann aufnimmt und die vorher abgesprochenen, gewünschten Antworten gibt. In der Regel geschieht dies an einem kleinen antiken Tisch, diesmal, Corona-bedingt, an einer extrem langen Tafel. Am Ende der Tafel saß dieses Mal Außenminister Sergej Lawrow und verkündete, dass er die Möglichkeit einer diplomatischen Lösung noch sehe. Putin nickte mit überlegter Mine und unterschrieb in der Folge einen Brief an US-Präsident Joe Biden, die seine Reaktion auf die Vorschläge Washingtons enthielt.
Auf den Straßen Kiews wurde unterdessen am Mittwoch voller Hohn und Spott der sogenannte Tag des „Ukrainischen Kriegs“ gefeiert. Geschminkte Komödianten schwenkten tanzend und lachend für die Pressefotografen Fahnen mit den ukrainischen Farben blau und gelb. Wie gesagt: Für Mittwoch hatte der amerikanische Geheimdienst CIA den Einmarsch der russischen Armee in der Ukraine prophezeit.
Die Duma hat die Anerkennung von Donezk und Luhansk als eigenständige Staaten beschlossen
Gleichzeitig wurde allerdings in der Duma, dem russischen Parlament, wieder Stärke demonstriert. Die Abgeordneten beschlossen die Anerkennung der von Separatisten beherrschten Regionen Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine als unabhängige Staaten, obwohl eigentlich seit 2014 nur über eine größere Autonomie der beiden Gebiete innerhalb des ukrainischen Staates diskutiert wird (anzumerken ist, dass die Bekämpfung der moskaufreundlichen Abtrünnigen durch die ukrainische Armee bisher erfolglos verlief). Die Entscheidung der Duma bedeutet aus Sicht Russlands nun, dass die beiden Regionen ganz offiziell den Nachbarstaat Russland um militärische Hilfe bitten können. Zwar hatte Moskau auch bereits vorher interveniert, dies aber nie zugegeben, sondern einfach erklärt, die in Donezk und Luhansk aktiven russischen Soldaten würden als Privatpersonen ihren Freunden in „Kleinrussland“ zur Seite springen (die Bezeichnung „Kleinrussland“ war im Zarenreich für das Gebiet vom Dnjepr-Fluss bis zur russischen Grenze üblich).
Die Botschaft der Duma (der der Kreml nicht widersprochen hat) ist also klar. Die Ukraine hat moskaufreundlich zu agieren und sich nicht der NATO oder der EU anzubiedern. Wenn doch, wird der Zusammenhalt aller Russen, der Großrussen im eigentlichen Russland, der Weißrussen in Belarus und der Kleinrussen in der Ukraine mit Gewalt hergestellt. Und übrigens: Donezk und Luhansk könne man in Kiew abschreiben - sie sind faktisch bereits ein Teil Russlands.
Die jeweiligen Motive Moskaus, Kiews und Washingtons sind folgende:
- Der Kreml will die westliche Militärallianz weit weg von seinen Grenzen halten, weswegen die Ukraine nicht in die NATO darf (und auch nicht in die EU, die seit den Lissabonner Verträgen 2009 die Zusammenarbeit mit der NATO in ihren Statuten verankert hat). Außerdem soll die NATO die Raketenbasen, die sie an der EU-Ostgrenze errichtet hat, wieder abbauen.
- Die Selenskij-Regierung will einen unabhängigen Staat, den die NATO verteidigen und die EU finanzieren soll.
- Der Westen will die Wiederherstellung der Sowjetunion verhindern.
All diese Ziele sind nicht zuletzt historisch begründet.
Putin will ein neues Jalta
Putin träumt von Jalta, einem Badeort auf der von Russland 2014 annektierten ukrainischen Halbinsel Krim im Schwarzen Meer. In Jalta wurde vom 4. bis zum 11. Februar 1945 zwischen dem US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt, dem britischen Premier Winston Churchill und dem russischen Herrscher Josef Stalin die Teilung Deutschlands beschlossen und damit die Trennung der Welt in Ost und West vereinbart. Der Westen war in diesen Tagen, als der Weltkrieg noch nicht beendet war, gegenüber Stalin sehr großzügig, weil man verhindern wollte, dass Russland sich auf die Seite von Japan schlägt, das als Verbündeter Deutschlands im Pazifikkrieg - trotz aussichtsloser Lage - weiterhin erbitterten Widerstand leistete.
Szenenwechsel zu heute: Putin will wieder eine Aufteilung in West und Ost und hat, sogar ohne es laut auszusprechen, ein für den Westen entscheidendes Angebot parat: Wenn der Westen Russlands Wünsche anerkennt, könnte Moskau die seit längerem gepflegte Verbindung zu China korrigieren und sich mit dem Westen verbinden. Dieser Aspekt wird in Washington kaum beachtet, weil man - geprägt durch den Kalten Krieg - Russland bestenfalls als Konkurrenten, schlimmstenfalls als Feind sieht. Der Umstand, dass heute China die entscheidende Gefahr für den Westen darstellt und man daher Russland sowie auch Indien als Verbündete gewinnen sollte, wird derzeit nur gelegentlich, etwa in Diskussionen im außenpolitischen Ausschuss des US-Senats, hervorgehoben. Es klingt beinahe wie ein Treppenwitz, dass ausgerechnet Japan diese Woche an die westlichen Regierungen appelliert hat, doch endlich den Aktivitäten Chinas Beachtung zu schenken und zu realisieren, dass Chinas Herrscher Xi die Eroberung von Taiwan vorbereitet. Die im Gegensatz zum kommunistischen Festlandchina demokratische Republik Taiwan steht seit 1949 unter dem Schutz der USA.
Die Ukraine feiert den Nationalismus des 19. Jahrhunderts
Noch weiter zurück in der Geschichte liegen die Ereignisse, die heute die Reaktionen vieler Ukrainer bestimmen. Im neunzehnten Jahrhundert, als der Westen der heutigen Ukraine vom österreichischen Kaiser und der Osten vom russischen Zaren regiert wurde, kam der europaweit grassierende Nationalismus auch in dieser Region an. Der aus dem westlichen Teil stammende Iwan Franko und der aus dem Osten kommende Taras Schewtschenko, zwei sehr erfolgreiche Literaten, schafften es, die ukrainische Nation gleichsam zu erfinden und im Bewusstsein der von Wien und Moskau beherrschten Bevölkerung zu verankern, obwohl die Ukraine in der Geschichte als selbstständiger Staat bestenfalls in bescheidenen Ansätzen existiert hat. Historisch bedeutsam war Kiew vor allem im 10. Jahrhundert als Zentrum des ersten russischen Staates, des „Kiewer Rus“. Beide Schriftsteller wurden von den damaligen Herrschern mehrmals eingesperrt und gelten bis heute als Nationalhelden. Dass Franko antisemitische Hetzschriften verfasst hat, die beim Massenmord der Nationalsozialisten an den Juden in der Westukraine auch von Ukrainern zitiert wurden, spielt im heutigen Bewusstsein übrigens keine Rolle.
Nach dem Zusammenbruch von Österreich-Ungarn im Jahr 1918 und der Übernahme der Macht in Russland durch die Kommunisten im Jahr 1917 entstanden in der Ukraine zwei Staaten, einer im Westen und einer im Osten, die im Jahr 1919 fusioniert wurden. Der neue Nationalstaat konnte sich jedoch nicht lange halten und wurde bereits 1922 Teil der Sowjetunion. Es dauerte fast 70 Jahre, bis die Ukraine nach dem Ende der UdSSR im Dezember 1991, wieder als unabhängiger Staat entstand. In den vergangenen dreißig Jahren bemüht man sich um die ukrainische Nation, pflegt die ukrainische Sprache (die ursprünglich als russischer Dialekt eingestuft wurde) - und wendet sich gegen Russland.
Auch diese Haltung ist historisch begründet. Die Ukraine war die Kornkammer der Sowjetunion. Als Stalin die Kollektivierung der Landwirtschaft in Kolchosen erzwang, wurden Millionen Bauern von der Geheimpolizei ermordet, ein Blutbad, unter dem die Ukrainer besonders stark zu leiden hatten. In der Folge kam es zu einer katastrophalen Hungersnot, an der ebenfalls Millionen zugrunde gingen. Insgesamt gab es geschätzt sieben Millionen Opfer allein in der Ukraine und viele weitere Millionen in der übrigen Sowjetunion. Die Ereignisse werden in der Ukraine als „Holodomor“, „Tod durch Hunger“, bezeichnet. Viele Ukrainer sind der Überzeugung, dass der Massenmord geplant war, und wollen den Holodomor international als Völkermord eingestuft sehen.
Osteuropa will Nationalstaaten, lehnt Europa ab
Mit dieser Geschichte im Hintergrund und den sonstigen Erfahrungen als Untertanen der sowjetischen Diktatur ist es für ukrainische Politiker naturgemäß schwer, unbefangen mit Vertretern Russlands zu verhandeln, zumal Putin die Auflösung der Sowjetunion als historischen Irrtum bezeichnet. Aber: Es wird der ukrainischen Politik nichts anderes übrigbleiben, als Gespräche mit dem übermächtigen Nachbarn zu führen. Nicht nur, weil der Westen der Ukraine keinen militärischen Beistand leisten wird - denn das könnte im schlimmsten Fall zum Atomkrieg und damit zur Zerstörung eines großen Teils der Welt, wie wir sie kennen, führen. Nein, die Ukraine muss verhandeln, weil dem Westen allmählich klar wird, dass das ukrainische Interesse an einem Beitritt zur NATO und zur EU nicht auf der Begeisterung für die Demokratie, den liberalen Verfassungsstaat und die europäische Integration fußt. Nein, mit Hilfe des Westens sollen die nationalistischen Träume aus dem neunzehnten Jahrhundert umgesetzt werden. Das zeigt sich nicht nur in der Ukraine, sondern auch in anderen ehemaligen Satellitenstaaten der Sowjetunion, die heute EU-Mitglieder sind, wie etwa Polen oder Ungarn. Nicht zufällig hat der ungarische Regierungs-Chef, Viktor Orbán, vor wenigen Tagen den Austritt seines Landes aus der EU angedroht, weil Brüssel Ungarn zwingen will, die Verletzung rechtsstaatlicher Grundsätze zurückzunehmen und sich an die EU-Regeln zu halten.
Vor dem Westen liegen viele schwierige Entscheidungen.