Er wurde 1842 im sächsischen Hohenstein-Ernstthal als Sohn bettelarmer Weber geboren und schaffte es dennoch, einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Schriftsteller zu werden. Vor zwei Tagen, am 25. Februar, feierte seine Anhängerschaft seinen 180. Geburtstag. Aller Erfolg - die Auflage seiner Werke beträgt weltweit schätzungsweise rund 200 Millionen -, reichte jedoch nicht, um die Deutsche Post davon zu überzeugen, ihn anlässlich seines 100. Todestags am 30. März 2012 mit einer Briefmarke zu würdigen. Das dürfte damit zusammenhängen, dass immer noch Halbwahrheiten um seine Vergangenheit als angeblicher „Räuberhauptmann“ und "Schwerkrimineller" kursieren. Seit langem werden die Vorstellungen, welche die Öffentlichkeit von ihm und seinen Romanen hat, von den schönen Kinoverfilmungen mit Lex Barker und Pierre Brice geprägt – doch verdienen diese Vorstellungen nicht einmal die Bezeichnung „Halbwahrheiten“. In vielfacher Hinsicht ist Karl May immer noch ein Unbekannter.
Man kennt ihn als den Erfinder von Superhelden wie Winnetou und Old Shatterhand im Wilden Westen sowie Kara Ben Nemsi im Wilden Osten (Orient und Balkan). Wer aber seine Bücher liest – und zwar möglichst im Original als Reprints oder in Gestalt der auf 100 Bände angelegten Historisch-Kritischen Ausgabe –, der bekommt ein etwas anderes, differenzierteres Bild. Er lernt Karl May als engagierten Humanisten und Christen kennen, der um die Schwächen seiner Helden weiß und immer wieder auf den Glauben an den Gott der Liebe zu sprechen kommt. Nicht von ungefähr hatte er an ein Fenster seiner „Villa Shatterhand“ in Radebeul (bei Dresden) einen Zettel geheftet, auf dem in großen Buchstaben die Selbstermahnung prangte: „Nicht predigen!“ Denn aus tiefster Seele heraus war er bemüht, die christliche Botschaft und das christliche Ethos in seinen vielen Büchern, darunter ein Gedichtband, stets aufs Neue zum Leuchten zu bringen.
Dass sein inneres Leben sich sehr komplex entwickelte, lag an einer Reihe äußerer Ursachen: Die wahrscheinliche Blindheit in der frühen Kindheit; massive Armuts- und Ungerechtigkeits-Erfahrungen im sozialen Umfeld während der Schulzeit; acht Jahre Gefängnisaufenthalt des am Lehrerberuf Gescheiterten und aus Rache an der Gesellschaft zum Betrüger Gewordenen; eine in vielerlei Hinsicht schwierige Ehe; der - nach spätem Riesenerfolg und wirtschaftlichem Wohlstand – schließlich herbe Abstieg von der Erfolgsleiter und das anschließende Gejagt-Werden durch unbarmherzige Gegner sowie eine rücksichts- und verständnislose Presse, was zu stark sinkenden Einnahmen im Alter führte.
Es waren die langen Gefängnisjahre, während derer May planend den Grundstock zu seinem Schriftsteller-Dasein legte. Und es war der katholische Gefängnis-Seelsorger Johannes Kochta, der ihn innerlich wieder zu sich finden ließ und ihn auch ein Stück weit im katholischen Sinn prägte. Später ergab es sich, dass May vorwiegend für katholische Verlage und deren Zeitschriften schrieb. Von daher erklärt es sich, dass Winnetou im dritten Band so stirbt, dass im Hintergrund ein Chor auf den umgebenden Hügeln ein von May gedichtetes und komponiertes Ave-Maria-Lied singt. Aber meistens waren die christlichen Botschaften Mays nicht konfessionell geprägt. Vielmehr findet sich in seiner Religiosität bei aller betonten Christlichkeit etwas grundsätzlich Humanitäres, ja die einzelnen Religionen Übergreifendes, im Ansatz sogar Mystisches.
Seine weltberühmten Superhelden sind bei näherem Hinsehen keineswegs einfach „Supermänner“, sondern immer wieder auch scheiternde, beispielsweise durch eigene Dummheit in Gefangenschaft geratende ganz normale Menschen. Er, der Mensch, bleibt auf Gottes Gnade und Liebe angewiesen – das ist eine immer wiederkehrende Botschaft. Gleich im ersten Band der Gesammelten Werke mit dem Titel „Durch die Wüste“ ist die Rede von „dem tief im Herzen wurzelnden Gottesglauben“, der sich dessen zu erinnern weiß, „der in dem Schwachen mächtig ist“. Das hier zitierte Bibelwort aus dem 2. Korintherbrief des Neuen Testaments muss für den Schriftsteller und Dichter persönlich von Bedeutung gewesen sein. War er nicht in seiner ganzen, immer wieder beträchtlich belasteten Existenz ein Schwacher, dem der Gottesglaube von Mal zu Mal aufgeholfen hatte? „Ich bin dem Heiland nachgegangen und habe den Frieden des Herzens gefunden“, bekennt der Romancier in der Rolle des Ich-Erzählers als Old Shatterhand rückblickend. Tatsächlich war er auch von äußerer Gestalt ein eher kleinwüchsiger Mensch, dessen Stärke sich primär seinem Innenleben verdankte. Hinsichtlich seines Aussehens gab er in seinen Büchern eine erstaunlich ehrliche Auskunft. So beschrieb er sich in seinem ersten speziell für die Jugend verfassten Roman „Der Sohn des Bärenjägers“ 1887 in der dritten Person mit den Worten: „Er war
von nicht sehr hoher und nicht sehr breiter Gestalt.“ Dieselbe Botschaft sendete er ausführlicher in dem berühmtesten Jugend-Roman „Der Schatz im Silbersee“ von 1890, wo er eine Figur formulieren lässt: „Nicht nach der Gestalt allein will ein Westmann beurteilt sein; der Geist hat weit höheren Wert… Old Shatterhand ist nicht so lang und breit, und Winnetous, der Apatsche, ist noch weit schmächtiger…“ Wer hätte das gedacht – ein schmächtiger Winnetou?
Und wer hätte sich je Old Shatterhand als Brillenträger vorgestellt? Er selbst aber beschrieb in „Winnetou III“, wie er bei einer Schieß-Vorführung im Wilden Westen verlacht wurde, als er seine Brille aufsetzte, um gut zielen zu können: „Dieser deutsche Buchmacher kommt in diese alte Savanne, um mit dem Zwicker auf der Nase zu jagen!“ Der Geschmähte entgegnete schlicht: „Was lacht ihr, Mesch’schurs? Wenn man dreißig Jahre lang über den Büchern sitzt, so leiden die Augen, und es ist besser, man tut mit der Brille einen guten Schuß, als ohne dieselbe einen schlechten!“ Der Verlag freilich hat diese Stelle später getilgt. Dem Gedanken, dass der Geist weit höheren Wert habe als Körperkraft, kommt jedenfalls in etlichen Romanen Mays Bedeutung zu. Es sind bei ihm – sieht man nur genau hin – weniger die äußeren Kraft-Erweise, die zum jeweiligen Sieg oder zur Befreiung führen, als vielmehr Intelligenz und eine manchmal geradezu weise anmutende Planung, deren christliches Motiv möglichste Gewaltvermeidung bleibt.
Auch Karl Mays Betonung, dass in der geographischen Entwicklung des Roman-Geschehens sich die Dinge nicht selten vom Niedrigen hin ins Hohe, ins Gebirge hinein abspielen, bewahrheitet sich bei genauerer Prüfung des Öfteren. Schon als ganz junger Schriftsteller hatte er „Geographische Predigten“ (1875/76) veröffentlicht. In ihnen bemerkte er: „Die Heimat, die da droben unsrer wartet, zieht unser bestes und schärfstes Denken himmelwärts und nimmt unser Fühlen und Wollen gefangen in einer Sehnsucht, die – den meisten unbewußt – sich wie ein Faden durch unser ganzes Leben zieht.“ Dass May hier auch eine Aussage über sich selbst macht, steht fest. Später erklärte er: „Wer die ‚Geographischen Predigten‘ nicht gelesen hat, ist vollständig unfähig, meine Voraussetzungen und Ziele zu kennen, meine Art und Weise zu begreifen, mein Denken und Wollen zu verstehen…“.
Schon in der frühen Erzählung „Im ‚Wilden Westen’ Nordamerikas“ bekannte sich May zu der Überzeugung: „Ein jeder Mensch ist ein Ebenbild Gottes, der die Liebe ist; alle Gesetze menschlicher Entwicklung sollen sich auf das eine, große Gesetz der Liebe gründen, damit das Ebenbild des großen göttlichen Meisters nicht beleidigt, beschimpft oder entweiht werde.“ Bald darauf schrieb er in seinem großen Orient-Reiseroman: „Der
Gottesfunken ist im Menschen niemals vollständig zu ersticken, und selbst der Wildeste achtet den Fremden, wenn er sich selbst von diesem geachtet sieht. Ausnahmen gibt es überall. Wer Liebe sät, der wird Liebe ernten, bei den Eskimos wie bei den Papuas… Dürfte ich doch ein Pionier der Zivilisation, des Christentums sein!“ Diese Haltung zieht sich gut erkennbar durch sein gesamtes Werk.
In dem südamerikanischen Reiseroman „El Sendador“ – später in Buchform unter den Titeln „Am Rio de la Plata“ und „In den Cordilleren“ erschienen – bringt sich May nur an zwei Stellen mit seinem nordamerikanischen Kunstnamen „Old Shatterhand“ ein. Doch gerade diese beiden Male muss er sich seine humane Einstellung vorwerfen lassen: „Wieder die berühmte Menschlichkeit Old Shatterhands.“ Besagter „Sedador“, der zentrale Übeltäter des Werkes, bekehrt sich übrigens am Ende in seiner Sterbestunde zum Gottesglauben. Und um Bekehrungen durch Wort und Tat geht es bei May überraschend häufig. Es würde hier zu weit führen, näher zu beschreiben, wie gewichtig bei dem Abenteuer-Schriftsteller immer wieder Gespräche um den christlichen Glauben waren: von den ersten Zeilen seiner Gesammelten Reiseerzählungen über die Begegnungen etwa mit Marah Durimeh, Winnetou, Old Firehand, Old Wabble und anderen bis hin zu seinem letzten Roman „Winnetou IV“. Im Hintergrund stand seine Überzeugung: „Das Menschenherz ist ruhende Knospe, bis die Liebe es für den Himmel schwellt und öffnet.“
Der auch hundertzehn Jahre nach seinem Tod wohl immer noch meistgelesene deutsche Schriftsteller mit einer Gesamtauflage von über 100 Millionen Exemplaren allein hierzulande, hat die Menschen gerade kraft der warmherzigen Innerlichkeit seiner Werke angesprochen. So bestätigte ihm ein Leser: „Wem es vergönnt ist, seinem Leben in Wahrheit und Dichtung einen solchen Inhalt zu geben, sein Herz anzufüllen mit all Ihren äußeren und inneren Erlebnissen, dessen Persönlichkeit muss durch sich selbst gewaltig auf seine Mitmenschen wirken.“ Ein anderer bescheinigte ihm eindrücklich, er habe kraft seiner Persönlichkeit gewirkt, „deren inneres Licht die Dunkelheit des Erdenlebens erleuchtet und deren inneres Feuer die Herzen der Menschen erwärmt hat“.
Wer bei Karl May lediglich Abenteuergeschichten suchte, wurde durch sein Alterswerk vielfach irritiert und enttäuscht. Doch gerade dieses Spätwerk brachte das literarisch Wertvollste aus seiner fleißigen Feder. Eindrucksvoll war jene Entwicklung vom gefeierten Erfolgsschriftsteller zum verinnerlichten Mystiker und Dichter im Zuge seiner ersten großen Reise in den Orient um die Jahrhundertwende. Dort begegnete ihm
erstmals die ernüchternde Realität seiner Roman-Schauplätze. Gleichzeitig holte ihn damals in der Ferne die Realität seiner Vergangenheit in Gestalt der Aufdeckung seiner Nicht-Identität mit Old Shatterhand alias Kara Ben Nemsi ein. Seine Ehe ging zu Bruch, und zahlreiche Prozesse mit ihn verleumdenden und bekämpfenden Gegnern überschatteten sein letztes Lebensjahrzehnt, das er mit seiner zweiten Ehefrau über weite Strecken zurückgezogen verbrachte.
Als der 70-Jährige endlich neue Anerkennung fand, indem er zu einem Vortrag nach Wien eingeladen wurde, erlebte er dort – kaum zwei Wochen vor seinem Tod – vor einer zwei- bis dreitausendköpfigen Zuhörerschaft den größten öffentlichen Triumph seines Lebens. Im begeisterten Publikum lauschte unter anderem die Friedensnobelpreisträgerin Berta von Suttner seinen Ausführungen unter dem bezeichnenden Titel „Empor ins Reich der Edelmenschen!“. Von Suttner wusste, wie sehr sich der „Volksschriftsteller“ immer wieder für den Gedanken des Friedens eingesetzt hatte. So war schon in seinem Orientroman zu lesen: „Die Streiter unserer heiligen Kirche besitzen mächtigere Waffen, als Schwerter und Kanonen es sind. Diese Waffen haben Weltreiche ohne Blut erobert. Warum soll diese Eroberung des Friedens nicht still und kräftig weiterschreiten?“
Der erstaunlichen Innerlichkeit Karl Mays entspricht durchgängig sein köstlicher Humor. Der Sachse hatte grundsätzlich viel Freude am Spaßigen, wie insbesondere die komödiantenhaften Stücke um den alten Dessauer zeigen. So konnte sich jener Fürst beispielsweise fürchterlich darüber aufregen, dass ein Musiker seines Orchesters – obwohl der doch so fürstlich bezahlt wurde – immer wieder „Pausen“ machte, die allerdings auf dem Notenblatt durchaus angesagt waren. Aber wenn ein Schriftsteller nicht nur Witz und Comedy, übrigens häufig auch Sprachwitz, sondern immer wieder echten Humor in seine spannenden Romane einzubauen weiß, dann hat dies allemal mit der Tiefe seiner Herzenswärme zu tun.
Diese spürt man auch deutlich in seinem Gedichtband mit dem bezeichnenden Titel „Himmelsgedanken“, der 130 spirituelle Gedichte umfasst und seit kurzem auch in der Historisch-Kritischen Ausgabe vorliegt. In einem Poem heißt es beispielsweise: „Doch bleibt dem menschlichen Verstand / Die Gottesbotschaft unbekannt, / Weil er das, was er denkt und dichtet, / Nach außen, nicht nach innen richtet. / Er faßt in seiner Prosa nicht / Des Himmels herrlichstes Gedicht.“ Die beiden Strophen des Gedichts „Im Alter“ – unter Tränen geschrieben, wie auf der Rückseite des Manuskriptblatts vermerkt ist – beginnen mit ein- und demselben Satz: „Ich bin so müd, so herbstesschwer / Und möcht am liebsten scheiden gehn.“ Ergreifend formuliert der Bestseller-Autor dann: „Ich bin nur ein bescheiden Gras, / Doch eine Ähre trag auch ich, / Und ob die Sonne mich vergaß, / Ich wuchs in Dankbarkeit für dich.“
Ein Zitat aus einem Brief Mays an Baronin Sophie von Boyneburg erlaubt einen tiefen Blick in sein Inneres: „Ja, es ist wahr: ich lebe in einer eigenen Welt. Sie ist so licht, so sonnig, und Engelsflügel schweben auf und nieder. Aber ich wohne da in großer Einsamkeit… Aus dieser meiner Welt heraus sind meine Bücher geschrieben worden. Darum ist es nicht so leicht, ihren Inhalt zu begreifen.“ Bleibt zu wünschen, dass der unbekannte Karl May endlich neu entdeckt wird!