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Harald Kujat: Putin hat jetzt zwei Optionen - beide stellen für ihn ein Risiko dar

Lesezeit: 3 min
24.02.2022 13:36  Aktualisiert: 24.02.2022 13:36
Der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr, General a. D. Harald Kujat, analysiert im DWN-Interview die Lage in der Ukraine.
Harald Kujat: Putin hat jetzt zwei Optionen - beide stellen für ihn ein Risiko dar
Russische Bomber. (Foto: dpa)

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Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Der Angriff auf die Ukraine hat begonnen. Wie werden sich die Ereignisse jetzt entwickeln?

Harald Kujat: Das hängt davon ab, welches von zwei möglichen Zielen Putin verfolgt.

Das erste Ziel wäre die vollständige Besetzung von Luhansk und Donezk, wobei ich „vollständig“ sage, weil sie ja derzeit wohl nur zu rund einem Drittel unter Kontrolle der Separatisten beziehungsweise Russlands stehen. Dazu käme unter Umständen noch eine Landverbindung bis runter zur Krim. In dieses Szenario würden die bisher erfolgten Luftangriff insofern passen, als dass sie dazu dienen, die ukrainischen Streitkräfte davon abzuhalten, sich der Besetzung der beiden Oblasten entgegenzustemmen. Dieses Ziel dürfte mittlerweile schon weitestgehend erreicht sein.

Das zweite mögliche Ziel wäre die Besetzung der gesamten Ukraine mittels eines Großangriffs, wie er mehrmals von amerikanischer Seite vorhergesagt wurde. Das würde unter anderem auch die Einnahme von Kiew beinhalten. Auch zu diesem Szenario passen die Luftangriffe, weil sie die Kampfkraft der ukrainischen Bodentruppen erheblich schwächen. Der Angriff auf Kiew ist verhältnismäßig leicht durchzuführen; im Endeffekt würden die russischen Angreifer die ukrainischen Verteidiger „zusammenschießen“.

Welches dieser beiden Ziele Putin verfolgt, kann man derzeit noch nicht sagen. Das wird sich im Laufe des Tages herausstellen. Eins steht auf jeden Fall fest: Beide Optionen stellen für Putin ein Risiko dar.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Können Sie das näher erläutern?

Harald Kujat: Option eins würde bedeuten, dass sich an der Grenze zwischen der Ukraine einerseits und Luhansk und Donezk anderseits in Zukunft ukrainische und russische Truppen gegenüberstehen und stets das Risiko besteht, dass es zu Kampfhandlungen kommt. Das heißt, an der strategisch äußerst wichtigen südwestlichen Flanke Russlands wird durchgehend ein latenter Kriegszustand herrschen.

Option zwei bedeutet, dass es nach der Besetzung - die, wie gesagt, militärisch nicht verhindert werden kann - wahrscheinlich zu weiterem Widerstand kommt, zum Partisanenkrieg. Der wird blutig, der wird dreckig. Zumal man davon ausgehen muss, dass die Amerikaner die Partisanen

mit Waffen ausrüsten werden. Es wird ähnlich sein wie im gescheiterten Afghanistan-Feldzug, der mit zum Untergang der Sowjetunion beigetragen hat. Im kollektiven Gedächtnis der Russen ist Afghanistan tief verankert. Das heißt, Putin könnte an Unterstützung verlieren - innenpolitisch könnte die Lage für ihn heikel werden.

Ein weiterer Aspekt dieser zweiten Option - die die weitaus blutigere der beiden Möglichkeiten darstellt -, ist, dass Putin immer nachdrücklich darauf hingewiesen hat, dass Russen und Ukrainer ein Volk sind. Und was tun sie: Sie bringen sich gegenseitig um. Im Grunde kommt es also zu einem Bruderkrieg. Auch das kann Putin in der Bevölkerung ein hohes Maß an Zustimmung kosten.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Für welche Option wird Putin sich also wahrscheinlich entscheiden?

Harald Kujat: Diese Frage kann ich nicht beantworten - wir müssen den weiteren Verlauf der Invasion abwarten.

Ich möchte aber noch auf ein weiteres Problem der zweiten Option hinweisen: Sie würde dazu führen, dass sich russische Truppen und Nato-Soldaten an vier weiteren Grenzen gegenüberstehen, und zwar Auge in Auge. Schließlich grenzt die Ukraine an vier Nato-Staaten: Polen, Slowakei, Ungarn und Rumänien. Das bedeutet ein hohes Risiko. Nicht, weil eine der beiden Seiten bewusst einen Krieg starten würde, aber technisches oder menschliches Versagen kann nie ausgeschlossen werden. Und dann haben wir eine Situation, die noch viel schlimmer ist als die, die derzeit in der Ukraine herrscht.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Sie sprachen die Nato an. Wie wird die auf den Angriff reagieren?

Harald Kujat: Lettlands Regierungs-Chef Krisjanis Karins hat bereits reagiert, indem er auf Grundlage von Artikel IV der Nato-Charter eine Ratssitzung des Verteidigungsbündnisses beantragt hat. Grund ist, dass Lettland eine gemeinsame Grenze mit Russland teilt und sich bedroht fühlt. Artikel IV ist nicht nur numerisch Artikel V vorgelagert. Er stellt die Vorstufe von Artikel V dar, in dem der kollektive Beistand festgelegt ist; wörtlich heißt es: „Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird.“

Die Nato wird jetzt die Verteidigungsfähigkeit in Polen und den baltischen Staaten weiter stärken. Die „Nato Response Force“, die schnelle Eingreiftruppe der Nato, wird jetzt marschbereit gemacht. Ich gehe fest davon aus, dass auch die USA rasch Verstärkung nach Europa schaffen wird.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Inwiefern reagiert eigentlich die Bundeswehr auf die Ereignisse?

Harald Kujat: So gut wie gar nicht - es gilt weiterhin „business as usual“. Man muss ja auch mal ehrlich sein: Die Bundeswehr ist nur bedingt einsatzbereit. Was sollte man auch tun? Etwa den Spannungsfall ausrufen (der Spannungsfall ist die Vorstufe des Verteidigungsfalls; er bedeutet die Erhöhung der militärischen Alarmstufe - Anm. d. Red.). Nein, jetzt heißt es, sich ruhig zu verhalten, auf keinen Fall Öl ins Feuer zu gießen und die vertrackte Situation nicht noch zusätzlich zu eskalieren.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Herr Kujat, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person: Harald Kujat (Jg. 1942), General der Luftwaffe a. D., war von 2000 bis 2002 als Generalinspekteur der Bundeswehr der ranghöchste deutsche Soldat. Von 2002 bis 2005 war er Vorsitzender des NATO-Russland-Rates und der NATO-Ukraine-Kommission der Generalstabschefs sowie als Vorsitzender des Nato-Militärausschusses der ranghöchste Nato-General.


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