In den sozialen Netzwerken machen sie ihrem Frust Luft. Dort haben Pflegekräfte wie "pfleger.ricardo","einfach.jean" oder die Krankenschwester und Bestseller-Autorin Franziska Böhler mit ihrem Profil "thefabulousfranzi" Zehntausende bis Hunderttausende Follower. Hier scheinen sie Gehör zu finden, wenn sie die Missstände in der Pflege anprangern und von Überlastung in Zeiten von Corona berichten. Von der Politik fühlen sie ihre Probleme auch im dritten Pandemiejahr nicht ausreichend wahrgenommen. Das Bundeskabinett beschloss am Mittwoch einen Pflegebonus für in der Corona-Pandemie besonders geforderte Pflegekräfte in Höhe von insgesamt einer Milliarde Euro.Read full story Nicht ausreichend, heißt es bei Vertretern der Pflegenden. Neben einer dauerhaft besseren Bezahlung müsse die Arbeitsbelastung sinken und auch am Image des Berufs, der vor allem als anstrengend gilt, gearbeitet werden.
Der Zustrom an Flüchtlingen durch den Krieg in der Ukraine verschärft die Situation in der Pflege noch, befürchten viele in der Branche. "Da draußen gibt es Menschen, die uns brauchen. Die vor dem Krieg flüchten. Kranke, Verletzte, traumatisierte Kinder und Erwachsene", schreibt die Pflegefachfrau Jean auf ihrem Instagram-Account. Gesundheitsminister Karl Lauterbach will, dass Deutschland eine "zentrale Rolle" bei der Versorgung ukrainischer Patienten einnimmt. Doch: "Schaffen wir das wirklich?", fragt Jean. "Wir sind immer noch in der Pandemie, haben Patienten mit Covid. Haben Ausfälle in den eigenen Reihen durch Covid. Ausgebranntes und überarbeitetes Personal. Aussteiger. Fachkräftemangel. Die Flüchtlingswelle kommt jetzt noch oben drauf", berichtet Jean, die selbst Ende März aus ihrem Beruf aussteigt, weil sie an ihre Grenzen kam.
Immer mehr Pflegekräfte werfen wegen der Belastungen das Handtuch oder reduzieren zumindest ihre Arbeitszeit. Im Herbst/Winter 2021 konnten deshalb bis zu 4000 weniger Intensivbetten als noch ein Jahr zuvor betrieben werden. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitut YouGov denken zwei Drittel der Pflegenden über den Ausstieg aus dem Beruf nach. Nach Schätzungen des Deutschen Pflegerats werden bis 2030 rund 500.000 Vollzeitkräfte in der Pflege fehlen.
Wann kommt der Aufbruch?
"Wir wissen schon jetzt nicht mehr, wo uns der Kopf steht", schreibt der Intensivpfleger Ricardo Lange auf Instagram, der vor bald einem Jahr auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem damaligen Gesundheitsminister Jens Spahn und RKI-Chef Lothar Wieler von der dramatischen Lage auf den Intensivstationen berichtete. "Wir brauchen endlich ein entschlossenes Handeln der Politik, aber seit Ewigkeiten wird lieber an den Symptomen herumgedoktert, anstatt die Ursachen zu beseitigen."
Die Ampel-Koalition hat sich das Thema Pflege auf die Fahnen geschrieben: "Wir wollen einen Aufbruch in eine moderne sektorenübergreifende Gesundheits- und Pflegepolitik und ziehen Lehren aus der Pandemie, die uns die Verletzlichkeit unseres Gesundheitswesens vor Augen geführt hat", heißt es im Koalitionsvertrag. Den Pflegeberuf will die Regierung "etwa mit Steuerbefreiung von Zuschlägen, durch die Abschaffung geteilter Dienste, die Einführung trägereigener Springerpools und einen Anspruch auf familienfreundliche Arbeitszeiten" attraktiver machen. Gesundheitsminister Karl Lauterbach versprach zum Pflegebonus: "Wir werden es nicht bei diesem Bonus belassen. Arbeitsbedingungen und Bezahlung von Pflegekräften müssen insgesamt deutlich besser werden."
Anfang 2020 wurde vom Deutschen Pflegerat, der Deutschen Krankenhausgesellschaft und der Gewerkschaft ver.di. bereits eine Initiative zur besseren Ermittlung des Pflegepersonalbedarfs in Krankenhäusern angestoßen, um den Mangel offenzulegen. Diese sogenannte Pflegepersonalregelung 2.0.(PPR 2.0) wurde jedoch von der alten Regierung nicht umgesetzt - die Ampel-Koalition will sie nun "kurzfristig" einführen. Kritiker bemängeln jedoch, dass die reine Feststellung über die PPR-Erhebung, dass mehr Personal benötigt wird, ja nicht dazu führt, dass auch mehr Personal auf dem Markt verfügbar ist. Und noch ist völlig offen, wann PPR2 kommt. Es sei weiter im Gespräch, ein Zeitplan könne aber nicht genannt werden, heißt es aus dem Bundesgesundheitsministerium.
Hohe Abbrecherquote
Für Entlastung sollten in den vergangenen Jahren groß angelegte Kampagnen zur Anwerbung von Pflegepersonal aus dem Ausland sorgen, doch nach Einschätzung des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe (DBfK) kann das den Personalmangel nicht beheben, sondern bestenfalls abmildern. Zudem ist der mit großem Aufwand verbundene Anwerbeprozess durch die Corona-Pandemie schwieriger geworden.
Die Zahl der Auszubildenden in der Pflege stieg zwar im vergangenen Jahr um sieben Prozent, was die Regierung auch auf die seit 2020 geltende neue Pflegeausbildung - in der die bisherigen Ausbildungen in der Altenpflege, der Krankenpflege und der Kinderkrankenpflege zusammenführt wurden - und die Abschaffung des Ausbildungsgelds zurückführt. Doch brechen immer noch bis zu knapp 30 Prozent der Auszubildenden in Pflegeberufen nach Schätzungen des Deutschen Pflegerats vorzeitig ab.
Nach der Ansicht von Gabriele Müller-Stutzer, Präsidentin des Verbandes der Schwesternschaften vom Deutschen Roten Kreuz, braucht es mehr als eine bessere Vergütung, um den Pflegeberuf wieder attraktiver zu machen. "Mit nur mehr Geld wird man Menschen nicht von diesem Beruf überzeugen können oder sie bekommen Mitarbeiter, die sie am Ende des Tages nicht haben wollen." Nötig sei, den Beruf auch in der öffentlichen Wahrnehmung wieder attraktiver zu machen. "Wenn von Pflege die Rede ist, geht es nur darum, wie desaströs die Personalausstattung ist. Wir brauchen uns dann wirklich nicht zu wundern, dass die Anzahl derer, die an dem Beruf interessiert sind, nicht zunimmt." Diese Einschätzung teilt auch Bernadette Klapper, Bundesgeschäftsführerin des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe: "Das Narrativ ist Pflege ist anstrengend, Pflege ist viel zu belastend und es macht keinen Spaß. Dabei arbeiten Pflegepersonen mit Menschen zusammen und unterstützen sie, gesund zu werden und ein selbstbestimmtes Leben zu führen."
Nötig sind laut Müller-Stutzer neben einer besseren Bezahlung mehr positive Beispiele aus dem Berufsalltag, eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen, die mehr Berufszufriedenheit schaffen, und eine Akademisierung des Berufs. Solche Veränderungen würden aber erst in Jahren Wirkung zeigen. Kurzfristig sieht sie keine Besserung. "Wir haben unheimlich viel Zeit vergeudet. Im Moment ist mir kein Szenario bekannt, mit dem wir die Probleme des bereits heute fehlenden Pflegefachpersonals bis 2030 umfassend gelöst bekommen."