Deutschland

Impfpflicht scheitert im Bundestag - ein politisches Risiko für die Ampel

Lesezeit: 4 min
07.04.2022 10:00  Aktualisiert: 07.04.2022 10:21
Der deutsche Bundestag hat die Vorlage einer Impfpflicht für über 60-Jährige deutlich abgelehnt. Die saftige Niederlage könnte noch politische Folgen für die Bundesregierung haben.
Impfpflicht scheitert im Bundestag - ein politisches Risiko für die Ampel
Der Bundesadler im Plenarsaal des Bundestages. (Foto: dpa)

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Die Einführung einer generellen Corona-Impfpflicht in Deutschland ist gescheitert. Im Bundestag erhielt der Gesetzentwurf für eine Impfpflicht ab 60 Jahren am Donnerstag nicht die erforderliche Mehrheit. Das über Monate umstrittene Vorhaben scheiterte überraschend deutlich. In namentlicher Abstimmung votierten 296 Abgeordnete dafür, aber 378 dagegen. Es gab neun Enthaltungen.

Die Impfpflicht ab 60 Jahren war bereits ein Kompromissvorschlag, auf den sich Vertreter der Bundestagsfraktionen von SPD, Grünen und FDP verständigt hatten. Für die Abstimmung war die Regel aufgehoben worden, dass Mitglieder einer Bundestagsfraktion einheitlich abstimmen.

Mit Blick auf den Koalitionspartner FDP und Verweis auf ethische Fragen bei der Impfpflicht hatte die Ampel die Regel aufgehoben, dass Mitglieder einer Bundestagsfraktion einheitlich abstimmen. Das Scheitern gilt dennoch auch als Niederlage für Bundeskanzler Olaf Scholz, Gesundheitsminister Karl Lauterbach und die Grünen. Beide SPD-Politiker hatten sich ebenso wie Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) und Grünen-Co-Fraktionschefin Britta Haßelmann für eine Impfpflicht eingesetzt, ursprünglich sogar ab 18 Jahren. Lauterbach reagierte enttäuscht auf das Scheitern: "Jetzt wird die Bekämpfung von Corona im Herbst viel schwerer werden."

In einer heftigen, aber sachlich geführten Debatte hatte der Bundestag zuvor stundenlang um die Einführung der Impfpflicht gerungen. Befürworter warnten vor einer drohenden neuen Eskalation der Pandemie im Herbst, gegen die man gewappnet sein müsste. Die Gegner verwiesen auf Grundrechtseingriffe durch eine Impfpflicht und betonten die Unsicherheit, ob es überhaupt zu einer erneuten Zuspitzung der Corona-Lage kommen werde.

Folgen für die Ampel?

Das Nachrichtenportal Tichy's Einblick verweist auf die politischen Konsequenzen, die das "Nein" zur Impfpflicht für die Bundesregierung und einzelne ihrer Mitglieder haben könnte:

Bis zuletzt hatten die Anhänger einer Impfpflicht alles versucht, um ihr Vorhaben irgendwie über die Ziellinie zu bringen. Das letzte Aufgebot versammelte sich hinter einem weitgehend sinnlosen Antrag, die Impfpflicht zunächst ab 60 Jahren einzuführen – mit der verdeckten Möglichkeit, diese später auf alle Erwachsenen auszuweiten. Doch auch Lauterbachs wirre Rede, in der er von 300 Toten täglich sprach, brachte nichts: Der angeschlagene Minister konnte das Parlament nicht überzeugen. Auch diese letzte Verteidigungslinie ist zusammengebrochen: Die Impfpflicht scheint nun beerdigt.

Für Lauterbach der GAU: Der ohnehin strauchelnde Gesundheitsminister ist mit seinem Prestige- und Ego-Projekt bruchgelandet. Erst seine Lügen zur Impfstoff-Inventur, dann das Chaos um den Genesenenstatus, zuletzt das Hick-Hack zur Quarantäne und jetzt die Niederlage im Bundestag. Karl Lauterbach ist wie König Midas – nur dass alles, was er anfasst, nicht zu Gold, sondern zur Panne wird. Ob er sich noch im Ministeramt wird halten können, scheint heute fraglicher denn je.

Doch diese Niederlage ist größer als für Lauterbach allein: Sie trifft vor allem auch Bundeskanzler Olaf Scholz schwer. Nicht nur, weil der SPD-Politiker sich prominent und unerbittlich für eine Impfpflicht ausgesprochen hatte: Als Bundeskanzler der Ampel-Koalition steht er einem Dreierbündnis vor, welches nun nach kurzer Zeit angezählt ist. Immerhin waren es vor allem FDP-Politiker, die durch eine klare Haltung gegen die Impfpflicht die Regierungsmehrheit blockierten und dem maßgeblich von Rot-Grün gestützten Projekt so den Todesstoß versetzten. Seine letzte Hoffnung war ohnehin nur noch die Unterstützung der Opposition.

Ticker

11.58 Uhr - Die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht hat in der Debatte um eine Impfpflicht gegen Corona eine Bevormundung kritisiert. Wie gut die Impfung gegen künftige Virusmutationen schützen werde, sei nicht bekannt, argumentierte sie am Donnerstag im Bundestag. "Und trotzdem halten Sie unbeirrt daran fest, den Menschen eine Impfpflicht aufzuzwingen - weil der Kanzler Durchsetzungsfähigkeit demonstrieren muss?", fragte Wagenknecht. Auch Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) wolle anscheinend Handlungsfähigkeit beweisen und sein Gesicht wahren. "Die deutschen Geisterfahrer gegen des Rest der Welt, wo kein Mensch mehr über Impfpflichten nachdenkt und diskutiert, das kann doch nicht Ihr Ernst sein", sagte Wagenknecht. Die forderte: "Hören Sie auf, die Menschen zu bevormunden. Die Corona-Impfung muss eine persönliche Entscheidung bleiben."

11.50 Uhr - Parallel zur Debatte im Bundestag um eine mögliche Impfpflicht in Deutschland haben mehrere Hundert Impfgegner am Brandenburger Tor in Berlin demonstriert. Sie versammelten sich am Donnerstagmorgen und protestierten gegen die Corona-Gesetze. Der Titel der Demonstration lautete: "Für freie Impfentscheidung und Selbstbestimmung über den eigenen Körper." Auf Plakaten stand: "Nein zum Impfzwang" und "Meine Gesundheit". Laut Polizei waren gegen 11.00 Uhr etwa 350 Menschen dabei. Angemeldet waren 500 Teilnehmer. Die Polizei ist mit 130 Einsatzkräften vor Ort gewesen, darunter auch Hundeführer und die Wasserschutzpolizei auf der Spree. Die Demonstranten wollten am Großen Stern und Schloss Bellevue vorbei um das Regierungsviertel herum und zurück zum Brandenburger Tor laufen. Die Demonstration verlief zunächst ohne Störungen. Durch die neuen Regelungen müssen Demonstranten keine Corona-Masken mehr tragen, sodass bei derartigen Veranstaltungen voraussichtlich deutlich weniger Konflikte zu erwarten sind. An einigen Gegendemonstrationen nahmen nur wenige Menschen teil.

10.07 Uhr - Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat vor der Abstimmung im Bundestag nochmals für die Einführung einer Corona-Impfpflicht geworben. Wenn gerade die Älteren geimpft seien, könnten 90 Prozent der zu erwartenden Todesfälle im Herbst und Winter vermieden werden, sagt der SPD-Politiker, der als Bundestagsabgeordneter und nicht als Minister spricht.

10.00 Uhr - FDP-Fraktionschef Christian Dürr hat angekündigt, nicht für eine Corona-Impfpflicht zu stimmen. Er hätte möglicherweise einer Beratungspflicht zugestimmt. "Da dieser Vorschlag zurückgezogen wurde, kann ich keinem der vorliegenden Anträge zustimmen", twittert Dürr.

09.40 Uhr - Die AfD-Co-Fraktionschefin Alice Weidel und der FDP-Abgeordnete Wolfgang Kubicki bekräftigen ihre Ablehnung einer Corona-Impfpflicht. Weidel sagt im Bundestag, eine Impfpflicht sei "verfassungsfeindlich" und eine "totalitäre Anmaßung". Kubicki verweist auf die im Schnitt schwächeren Krankheitsverläufe bei der Infektion mit der Virusvariante Omikron, weshalb keine Grundrechtseingriffe zulässig seien.

09.35 Uhr - Der CDU-Gesundheitspolitiker Tino Sorge hat für die Zustimmung zum Unionsvorschlag für eine abgestufte Corona-Impfpflicht geworben. Man brauche mit einem Impfregister erst eine Datengrundlage, um dann im Herbst im Notfall eine Impfpflicht einzuführen, sagt er im Bundestag in der Debatte vor der Abstimmung.

09.27 Uhr - Die stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Dagmar Schmidt hat im Bundestag für eine Corona-Impfpflicht ab 60 Jahren geworben. In der Debatte appelliert sie für eine Zustimmung für einen entsprechenden Gesetzentwurf von Politikern aus den Reihen der Ampel-Parteien SPD, Grüne und FDP. Man müsse sich dafür wappnen, dass die Pandemie im Herbst wieder an Fahrt gewinne und deshalb eine Grundimmunisierung in der Bevölkerung erreichen. Der Entwurf sieht auch eine Beratungspflicht für alle Personen ab 18 Jahren vor. Im Herbst solle dann entschieden werden, ob auch eine Impfpflicht für 18- bis 49-Jährige nötig ist.

03.50 Uhr - Das Robert-Koch-Institut (RKI) meldet 201.729 Neuinfektionen binnen 24 Stunden. Das sind 73.172 Fälle weniger als am Donnerstag vor einer Woche, als 274.901 positive Tests gemeldet wurden. Insgesamt liegt damit in Deutschland die Zahl der bestätigten Infektionen bei etwa 22,3 Millionen. Die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz sinkt weiter auf 1251,3 von 1394,0 am Vortag. 328 weitere Menschen starben im Zusammenhang mit dem Virus. Damit erhöht sich die Zahl der gemeldeten Todesfälle auf 131.036.


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