Politik

Wird das Militär gegen Putin putschen?

Sowohl in den Medien als auch im Netz wird darüber diskutiert, ob Putin die Absetzung droht. Handelt es sich um westliche Wunschträume - oder schwebt der russische Präsident tatsächlich in Gefahr?
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08.05.2022 09:00
Lesezeit: 4 min

„Um Gottes willen, dieser Mann kann nicht an der Macht bleiben“, sagte US-Präsident Joe Biden letzten Monat über den russischen Präsidenten Wladimir Putin, dessen Angriff auf die Ukraine die globale – und ganz besonders die europäische – Wirtschaft aus dem Takt bringt. Obgleich das Weiße Haus sofort die Klarstellung hinterher schickte, Biden habe seine moralische Empörung ausgedrückt und keinen Regimewechsel gefordert, wird die Möglichkeit eines Putsches im Kreml viel diskutiert, insbesondere, weil das russische Militär gewaltige Verluste bei Soldaten und Material verzeichnet.

Schon Wochen vor Bidens Rede hatte US-Senator Lindsey Graham einen russischen Brutus aufgefordert, Putin wie Julius Cäsar „auszuschalten“ und manche Beobachter glauben, Offiziere der russischen Streitkräfte oder des Geheimdienstes könnten genau dies tun. Politiker und Regierungsvertreter, unter denen die Unzufriedenheit Berichten zufolge zunimmt, könnten einen solchen Putsch ebenso unterstützen wie immer mehr Abweichler aus den mit Putin verbandelten Eliten.

Vermutlich ist dies jedoch reines Wunschdenken. Ein Militärputsch hängt vor allem von zwei Faktoren ab: Zum einen der Bereitschaft von Offizieren zum Sturz der Regierung, zum anderen von entsprechenden Präventionsmaßnahmen des Regimes. In Putins sorgfältig aufgebauter Festung Russland ist Ersteres ziemlich spärlich und Letzteres im Überfluss vorhanden.

Außerhalb Afrikas und Südostasiens gehört der erfolgreiche Militärputsch in jüngerer Zeit zu einer aussterbenden Gattung. Von den 55 Putschversuchen in der arabischen Welt zwischen 1949 und 1980 hatten beispielsweise nur die Hälfte Erfolg. Seitdem gelangen nur acht Versuche.

Das ist jedoch weder auf Fortschritte bei der Demokratisierung noch auf den zunehmenden Respekt vor der zivilen Ordnung zurückzuführen. Es ist das Resultat von Maßnahmen, mit denen Staatschefs ihre Regime „putschfest“ machen, indem sie beispielsweise das Militär obsessiv überwachen und rivalisierende Sicherheitsdienste aufpäppeln. In Ägypten zum Beispiel gehört zu jeder Einheit mit mehr als 30 Soldaten eine Abteilung des Sicherheitsdienstes, und oft werden die Telefone von Soldaten und ihren Familien abgehört.

Um zu verhindern, dass sich Seilschaften bilden, schüren die Regimes ständig Spannungen innerhalb des Offizierskorps und behindern die Kommunikation zwischen den verschiedenen Truppengattungen. Während der ersten amerikanischen Invasion im Jahr 2003 durften die irakischen Kampfeinheiten beispielsweise keine Informationen direkt austauschen, sondern mussten ihre Berichte ins Hauptquartier schicken, von wo sie dann wieder an die Front gingen.

Auch in Russland setzt Putin schon lange auf diese Taktik. In manchen Fällen wurden dafür einfach sowjetische Praktiken fortgesetzt, wie die, in jede Militäreinheit ideologische Kader, die so genannten Kommissare, zu integrieren, die die Truppen kontrollieren und potenzielle

„Verräter“ suchen. Heute erfüllt der „Inlandsgeheimdienst der Russischen Föderation“ (FSB) – der Nachfolger des KGB, dessen Produkt Putin ist – diese Funktion. Eine Prätorianergarde, deren Loyalität nicht dem Staat, sondern Putin persönlich gehört, schützt den Kreml, und außerhalb Moskaus stehen nicht nur Elitetruppen bereit, sondern zusätzlich noch unzählige Truppen der Sicherheitsdienste.

Putin weist den verschiedenen Nachrichtendiensten sich überschneidende Aufgaben zu, damit sie sich gegenseitig kontrollieren. 2016 installierte er einen seiner Getreuen in der neu geschaffenen Nationalgarde, um jeden internen Dissens im Keim zu ersticken. Während der amerikanische Präsident jeden Morgen von seinem Nachrichtendienst über weltweite Ereignisse informiert wird, erhält Putin eine tägliche Analyse der Machenschaften der russischen Eliten. Diese Maßnahmen schränken die Möglichkeit der Offiziere, über einen Putsch auch nur zu sprechen, drastisch ein, von dessen Durchführung einmal ganz abgesehen.

Trotz aller Anstrengungen könnten bestimmte Umstände – interne Zwistigkeiten, eine Wirtschaftskrise oder Druck aus dem Ausland – Offiziere der Streitkräfte dazu motivieren, sich gegen das Regime zu stellen. Aber selbst dann ist ein Putschversuch alles andere als sicher. Zwar haben gesellschaftliche Unruhen in Nigeria und der Türkei das Militär zu einem Putschversuch ermutigt, die Streitkräfte in Kolumbien haben sich unter vergleichbaren Umständen jedoch zurückgehalten. Und obwohl sich Ghanas Militär nach einer langen Phase des wirtschaftliches Abschwungs zum Eingreifen entschloss, beantworteten die Streitkräfte der Elfenbeinküste ähnliche Umstände mit Gleichmut. Besonders wenig Motivation für einen Putsch bietet aber allem Anschein nach Druck aus dem Ausland, etwa das Aussetzen von Hilfslieferungen oder die Verhängung von Sanktionen: diese Mittel haben schon im Irak, in Peru und in unzähligen anderen Ländern kläglich versagt.

Schon eher reagieren Streitkräfte auf Entscheidungen, die ihre wirtschaftlichen Interessen berühren. So können zum Beispiel Mittelkürzungen oder Eingriffe in die Autonomie des Militärs eine Reaktion auslösen. Allerdings blieben die russischen Offiziere auch in den 1990er-Jahren in den Kasernen, als der Kreml Haushalt und Größe der Streitkräfte drastisch zusammenkürzte.

Ein weiterer potenzieller Auslöser sind Querelen innerhalb des Offizierskorps. In der Türkei brachten Spannungen zwischen Generälen und jungen Offizieren Erstere dazu, nach der Macht zu greifen. Dasselbe könnte in Russland passieren, wenn jüngere Offiziere im Kampfeinsatz aus Wut über die miserable Leistung der Streitkräfte in der Ukraine den Aufstand gegen die Militärführung wagen.

Aber auch ohne eine solche Revolte könnte die schwindende Moral der Truppe die Offiziere zum Handeln verleiten. Nach Schätzungen der NATO sind bei den Kämpfen in der Ukraine schon im ersten Monat zwischen 7.000 bis 15.000 russische Soldaten gefallen. Nach Angaben des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj (die natürlich mit Vorsicht zu genießen sind) wurden 20.000 russischen Soldaten getötet, einschließlich von acht Generälen. Zum Vergleich: Russland hat in über zehn Jahren in Afghanistan rund 15.000 Soldaten verloren; die USA in ihrem acht Jahre dauernden offiziellen militärischem Einsatz in Vietnam weniger als ein Dutzend Generäle.

Dieser hohe Blutzoll muss bei den russischen Truppen in der Ukraine Angst und Zweifel wecken, und tatsächlich deuten Berichte über Soldaten, die sich ergeben, desertieren und Sabotage verüben, darauf hin, dass die Moral außergewöhnlich schlecht ist. Der Wunsch, das Blutvergießen zu beenden und den Korpsgeist wiederherzustellen, könnte hochrangige Militärs auf den Gedanken bringen, Putins Herrschaft zu beenden.

Diese potenziellen Motive für einen Putsch bleiben jedoch Spekulation. Seit 1905 sind die russischen Streitkräfte im Wesentlichen unpolitisch. Bei der Entfernung des KGB-Chefs Lawrenti Beria im Jahr 1953 und der Entmachtung des Sowjetischen Partei-Chefs Nikita Chruschtschows 1964 setzte das Militär lediglich die Pläne der politischen Führung um, die in interne Fehden verstrickt war.

Auch als Hardliner der Kommunistischen Partei im Jahr 1991 erfolglos versuchten, Michail Gorbatschow zu stürzen, hielten sich so gut wie alle höheren Offiziere der Streitkräfte aus dem Putsch heraus. Die russische Militärführung scheint den Vorrang ziviler Strukturen zu akzeptieren und nicht zu glauben, dass sie zur Hüterin des Staates berufen ist, wie ihre Kollegen in Ägypten, Pakistan und vielen anderen Ländern. Das macht das russische Militär zu einem passiven politische Akteur.

Russlands Rückzug aus der nördlichen Ukraine wird vermutlich in der Elite für Frustration sorgen und die Moral in der Bevölkerung schwächen. Ein Militärputsch in Russland bleibt jedoch ebenso unwahrscheinlich, wie die vermutlich von Putins Propaganda-Apparat verbreitete Idee, die Ukrainer würden die russischen Invasoren als Befreier willkommen heißen.

Copyright: Project Syndicate, 2022.

www.project-syndicate.org

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Barak Barfi

Barak Barfi publiziert in führenden Fachzeitschriften, Zeitungen und wissenschaftlichen Magazinen in den USA, Australien und  Europa (inklusive Deutschland und Österreich). 

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