Politik

Widerstand wächst: Befreit sich Südamerika von der Knute der USA?

Lesezeit: 14 min
15.05.2022 07:38  Aktualisiert: 15.05.2022 07:38
Lesen Sie die große Analyse von DWN-Autor Rüdiger Tessmann: Wie Südamerika zwei Jahrhunderte lang unter US-amerikanischer Herrschaft stand - und wie sich die Staaten und Völker jetzt gegen Washington auflehnen.
Widerstand wächst: Befreit sich Südamerika von der Knute der USA?
November 2019: Anhänger des ehemaligen Präsidenten Morales sitzen während einer Demonstration vor einem Wandgemälde. (Foto: dpa)
Foto: Natacha Pisarenko

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Amerika: Geteilter Erdteil mit unterschiedlichen kulturellen Wurzeln

Als Christopher Kolumbus bei seiner ersten Entdeckungsreise im Jahr 1492 auf Land stieß, landete er auf einer der Karibik-Inseln, die Mittelamerika, der schmalen Landbrücke zwischen Nord- und Südamerika, vorgelagert sind.

Da er festen Glaubens war, die Ostküste Indiens gefunden zu haben, nennen wir bis heute die Ureinwohner des gesamten Kontinentes „Indianer“. Obwohl wir uns des Fehlers durchaus bewusst sind, hat sich der Begriff eingebürgert, wobei in den USA mittlerweile die Bezeichnung „Native Americans“ (amerikanische Ureinwohner) die offizielle Bezeichnung darstellt.

Die nachfolgenden Seefahrer, Entdecker und Eroberter erkannten erst nach und nach, dass sich sowohl im Norden als auch im Süden der von Kolumbus entdeckten Inseln riesige Landmassen befinden, und man somit eine neue Welt, eine „Mundus Novus“ entdeckt hatte. Diese Welt war reich - und so begann der Wettlauf um ihre Ausbeutung, und im Zuge dieser Ausbeutung wurde der neue Kontinent besiedelt.

Spanier und Portugiesen teilten sich den südlichen Teil, Engländer und Franzosen den nördlichen Teil von Amerika.

Wobei Teile Nordamerikas (die Westküste sowie die Gebiete bis hin zum heutigen Texas) weder den Engländern noch den Franzosen gehörten, sondern ab 1540 spanische Kolonie waren. Später fielen sie an Mexiko, um schließlich im amerikanisch-mexikanischen Krieg 1848 von den USA erobert und annektiert zu werden. Namen wie San Franzisko, Santa Barbara, Los Angeles und San Diego erinnern daran, dass diese Städte einst von spanischsprechenden Katholiken gegründet worden waren (Anmerkung: wenn hier von „Nordamerika“ die Rede ist, sind die USA gemeint. Kanada ist zwar auch Teil Nordamerikas, spielt aufgrund seiner niedrigen Bevölkerungszahl und seiner damit vergleichsweise geringen wirtschaftlichen und politischen Potenz im internationalen Maßstab jedoch nur eine geringe Rolle).

Den mittleren Teil Nordamerikas (vom bis heute französisch geprägten Bundesstaat Louisiana am Golf von Mexiko über die Staaten des Mittleren Westens bis hoch zur kanadischen Grenze) verkaufte Napoleon im Jahr 1803 an die 1776 gegründeten Vereinigten Staaten von Amerika (es ist dies der größte Landkauf der Geschichte). Städte-Namen wie New Orleans und Baton Rouge erinnern an die französische Vergangenheit.

In Südamerika war es dem Befreier Simon de Bolivar unterdessen möglich, die Kolonialisten zu vertreiben, nachdem Napoleon die Herrscher Spaniens und Portugals entmachtet hatte, sodass sie keine Truppen mehr über den Atlantik schicken konnten.

Festzuhalten ist, dass Nordamerika überwiegend von einer angelsächsisch-protestantischen Bevölkerung und Kultur geprägt ist, während die Gesellschaft Südamerikas von einer spanisch-portugiesischen und damit katholischen Kultur geformt wurde. Um die Unterschiede und die zu einem nicht geringen Teil antagonistischen Interaktionen dieser beiden Welten - das heißt der latein-amerikanischen Staaten und der USA - zu verstehen, ist es wichtig, sich dieser unterschiedlichen kulturellen Wurzeln bewusst zu sein

Auch hinsichtlich der indigenen Völker sind die Unterschiede zwischen Nord und Süd beträchtlich. Während in Nordamerika Büffel jagende Steppenvölker sowie Mais-anbauende Pueblo-Bewohner lebten, stießen die Spanier in Süd- und Mittelamerika auf Hochkulturen: Majas, Inkas und Azteken. In der Gegend des heutigen Chile stießen sie auf das wehrhafte Volk der Mapuche, das 300 Jahre lang seine Unabhängigkeit verteidigen konnte, und das auch heute noch um seine Rechte kämpft. Was den Anteil der indigenen Bevölkerung in den lateinamerikanischen Staaten angeht: Er ist sehr unterschiedlich. In Bolivien beträgt er mehr als die Hälfte der Bevölkerung (die Angaben schwanken zwischen 55 und 62 Prozent), und mit Evo Morales hatte Bolivien dann auch den ersten indigenen Staatspräsidenten in Lateinamerika. In Uruguay und Brasilien sind es dagegen weniger als ein Prozent (wobei man im brasilianischen Regenwald immer noch Wald-Indianer findet, die als Naturvölker leben wie vor vielen Hunderten von Jahren).

Sowohl nach Nord- als auch Südamerika wurden Millionen von schwarzafrikanischen Sklaven eingeführt. Während diese sich in Südamerika - an erster Stelle ist hier Brasilien zu nennen - mit den Weißen so sehr vermischt haben, dass eine bräunliche Hauttönung nicht mehr karrierehemmend sein muss, sind in den USA trotz aller Bemühungen Probleme zwischen Schwarzen und Weißen nicht zu leugnen und haben in den vergangenen zwei bis drei Jahren durch Zusammenstöße zwischen Polizei und der schwarzen Minderheit neuen Auftrieb erhalten.

Die Monroe-Doktrin: Südamerika unter der Knute der USA

Nach dem Bürgerkrieg (1861-65) kam es in den USA zu einer raschen industriellen Entwicklung unter harten kapitalistischen Bedingungen. Aus zwei Weltkriegen gingen die Vereinigten Staaten als Sieger hervor und wurden so zur führenden Weltmacht (während Europa in Trümmern lag und mit dem Wiederaufbau beschäftigt war).

Die USA konnten somit die Regeln der Weltwirtschaft bestimmen. Gegenüber Südamerika, häufig auch als „Hinterhof der USA“ bezeichnet, hatten sie sowieso stets Dominanz ausgeübt. Die von US-Präsident James Monroe im Jahr 1823 erklärte Monroe-Doktrin („Amerika den Amerikanern“) hatte eigentlich ursprünglich nur das Eingreifen europäischer Kolonial-Mächte in (nord- und süd-)amerikanische Angelegenheiten verhindern sollen, wurde jedoch von den USA als Rechtfertigung genutzt, den gesamten Kontinent (mit Ausnahme Kanadas) zwar nicht zu kolonialisieren, aber doch zu kontrollieren. So wurden nach dem Zweiten Weltkrieg eine Reihe von links-gerichteten Regierungen südamerikanischer Staaten von den USA gestürzt, nachdem sie versucht hatten, engere Verbindungen zur Sowjetunion aufzunehmen. Washington war bereit, selbst die schwersten Völkerrechtsbrüche zu begehen, um zu verhindern, dass der Kommunismus auf dem amerikanischen Kontinent Fuß fassen könne.

Die Sowjetunion existiert nicht mehr, aber südamerikanische Regierungen mit linker Ausrichtung tendieren dazu, Hilfe von China oder Russland anzunehmen (nicht zuletzt, um US-Sanktionen auszugleichen). Aus diesem Grund wird die beinahe 200 Jahre alte Monroe-Doktrin auch heute noch von den USA bemüht, so als sei sie ein in Stein gemeißeltes Gesetz, das für alle Zeit einen Alleinvertretungsanspruch der USA für alles, was auf den beiden amerikanischen Kontinenten geschieht, festlegt. Die südamerikanischen Regierungen haben somit - und wenn sie noch so gute Absichten hegen - nicht die freie Kontrolle über die Mechanismen ihrer Volkswirtschaft, und sie können sich auch trotz teilweise riesiger Reichtümern an Bodenschätzen bei beabsichtigten Sozialreformen nur so weit bewegen, wie die Machthaber in Washington es ihnen gestatten.

So mischen sich die USA in die Angelegenheiten der südamerikanischen Staaten ein

Beispiel Guatemala:

In Guatemala besaß die US-amerikanische „United Fruit Company“ (die 1970 in die bis heute existierende „Chiquita“ überging“) riesige Ländereien, die sie für den Bananenanbau nutzte. Die Firma war größter Bananenexporteur der Welt. Der guatemaltekische Präsident, Jacob Arbenz, beschloss im Jahre 1953, auch diejenigen Territorien der United Fruit Company zu besteuern, die damals gerade brach lagen und nicht genutzt wurden. Größter Aktionär der Firma war Allen Dulles, CIA-Direktor und Bruder des Außenministers der USA, John Foster Dulles. Die Genehmigung eines Regierungs-Umsturzes war also auf kurzem Weg zu erhalten. Am 9.Dezember startete die CIA eine Verschwörung mit dem Code-Namen „Success“ (Erfolg). Ein guatemaltekischer Minister wurde mit 10.000 Dollar Schmiergeld bestochen, und mit drei Millionen Dollar wurde eine Rebellenarmee ausgerüstet, um den Regierungspalast zu stürmen. CIA-Piloten bombardierten die guatemaltekische Armee, bis der Widerstand brach und der Präsident ins Ausland floh. Der von den USA neu eingesetzte Präsident Castro Armas wurde im Weißen Haus von Präsident Dwight D. Eisenhower zu einem Galadinner empfangen. Für Guatemala begannen 40 Jahre der Militärdiktatur. Zeuge des Bombardements der CIA wurde ein junger Arzt namens Che Guevara. Das Erlebnis war für ihn der Ansporn zu seiner revolutionären Karriere.

Beispiel Brasilien:

Bevor wir uns den Ereignissen im größten Land Südamerikas widmen, muss vorausgeschickt werden, dass nach dem Sieg Fidel Castros gegen das korrupte Batista-Regime auf Kuba im Jahr 1959 und die fehlgeschlagene US-Invasion in der Schweinebucht (1961) in Washington große Sorge herrschte, es könnten sich weitere lateinamerikanische Staaten dem Kommunismus zuwenden.

1962 war der Favorit für die brasilianische Präsidentenwahl der linksgerichtete Joao Goulart, der unter anderem durch seinen Besuch der Volksrepublik China Misstrauen in den USA hervorgerufen hatte. Also schmiedete Präsident John F. Kennedy zusammen mit dem brasilianischen Botschafter in Washington, Lincoln Gordon, ein Komplott zur Unterwanderung der brasilianischen Regierung und zum Sturz des Präsidenten. Eine siebenstellige Summe wurde veranschlagt, die über das von der CIA gesteuerte und für solche Zwecke frischgegründete „American Institute for Free Labor Development“ an oppositionelle Politiker und Journalisten fließen sollten, und dem Militär wurde „diskret“ die Nachricht zugespielt, dass die USA im Falle eines Militärputsches gegen eine linke Regierung nichts unternehmen würden. Die darauf folgende Militärdiktatur in Brasilien dauerte von 1964 bis 1985. Für die Unternehmer, wie unter anderem Volkswagen aus Deutschland, waren es gute Jahre, da gewerkschaftliche Proteste und Arbeitskämpfe unmöglich waren und Gewerkschaftsführer in Foltergefängnissen verschwanden.

Beispiel Chile:

Anfang der 70er Jahre bestanden in Chile geordnete demokratische Verhältnisse. Für die Präsidentschaftswahl 1973 galt der linksgerichtete Senator Salvador Allende als Favorit. US-Präsident Nixon befürchtete kommunistische Einflüsse in Chile, und sein Nationaler Sicherheitsberater und späterer Außenminister, Henry Kissinger, verstieg sich zu der Aussage: „Wir können nicht zulassen, dass ein unvernünftiges Volk eine marxistische Regierung wählt!“ Drei Millionen Dollar wurden als Schmiergeld für Politiker und Journalisten bereitgestellt, was jedoch nichts bewirkte - Allende gewann die Wahl, und wurde durch das chilenische Parlament bestätigt. Für die USA bedeutete das: Er musste gestürzt werden - seine demokratische Legitimation spielte keine Rolle. Um ihn politisch zu vernichten, wurden verschiedene Strategien entwickelt und weitere Gelder bewilligt. Der nicht korumpierbare General Schneider wurde am 22.Oktober 1971 ermordet. Am 11. September 1973 (sozusagen das chilenische „nine-.eleven“) erfolgte dann der äußerst blutige Militärputsch, der zum Selbstmord des Präsidenten führte und eine brutale Militärdiktatur unter General Pinochet mit rund 30.00 Verschwundenen und Ermordeten sowie einer Million Geflüchteter hervorrief. Erst 1989 wurde Chile wieder demokratisch.

Beispiel Nicaragua:

Im Jahre 1979 endete die von den Vereinigten Staaten gestützte Diktatur des Somoza-Clans mit dem triumphalen Einzug der Rebellenarmee der Sandinisten in die Hauptstadt Managua. Ihre sozialen Reformen wurden weltweit bewundert, insbesondere ihr erfolgreiche Kampf gegen den Analphabetismus. Im Gegensatz zu Fidel Castro auf Kuba arbeiteten die Sandinisten mit der katholischen Kirche zusammen, und der bekannte Dichter und Priester Ernesto Cardinal wurde Kultusminister der sandinistischen Regierung. Von Papst Woijtyla wurde er heftig kritisiert, weil ein Priesteramt und ein politisches Amt nach katholischer Tradition nicht in einer Person vereint sein dürfen. Um die sandinistische Regierung zu stürzen, trainierte die CIA eine Armee im benachbarten Honduras, die sich die „Contras“ nannte. Weil eine Waffenlieferung an die Contras vom Senat nicht genehmigt wurde, finanzierte die CIA mit Hilfe von Oberstleutnant Oliver North geheime Waffenverkäufe an die iranischen Mullahs (die sich während dieser Zeit im Krieg gegen den von den USA finanzierten Saddam Hussein im Iraq befanden), und mit dem Geld aus diesen Deals wurden wiederum die Waffen für die Contras bezahlt. Die Gelder liefen über ein Schweizer Bankkonto. Als der Skandal aufflog, wurden die beteiligten Regierungsbeamten zu hohen Haftstrafen verurteilt, dann aber von dem nachfolgenden Präsidenten George Bush (ehemals CIA-Chef / Vater des späteren US-Präsidenten George W. Bush) begnadigt.

Welche Reformmodelle in Lateinamerika werden von den USA geduldet - und welche nicht?

Befreiungstheologie: Obgleich die Würdenträger der katholischen Kirche in der Regel an der Seite der Mächtigen im Staat stehen, ist doch einer der Grundgedanke des Christentums die Barmherzigkeit mit den Armen. Die abrahamitische Religion beginnt mit der ersten Begegnung Moses´ mit Gott, dessen Stimme aus dem brennenden Dornbusch zu hören ist: „Ich habe das Elend meines Volkes gesehen und ihr Geschrei über ihre Bedränger gehört“ (2 Mose, 3). Auch Jesus hat nach Angaben der Bibel die Wucherer aus dem Tempel gejagt.

Gemeinden von Laien-Christen in Südamerika begannen, diese Gedanken zu diskutieren, und in Medellin, Kolumbien, trat 1968 eine Bischofskonferenz zusammen, um sich ihrer Pflicht als Christen zu vergewissern, den Armen und den Bedrängten zur Seite zu stehen. Durch das Buch von Gustavo Gutierrez wurde die „Befreiungstheologie“ (die dem Werk auch seinen Titel gab) zu einem weltweit bekannten Begriff. Sie sollte gewaltfrei durch Gebet wirken, aber die Priester sollten Partei ergreifen für die Unterdrückten. Als der Bischof von San Salvador, Oscar Romero, angesichts der massenhaften Morde durch Nationalarmee und Todesschwadronen die Soldaten dazu aufrief, den Schießbefehl „auf eure Brüder“ zu verweigern, wurde er am 23. März 1980 von einem Auftragskiller beim Gottesdienst erschossen.

Als Vorsitzender der Glaubenskongregation lehnte Joseph Ratzinger die Befreiungstheologie ab und bezeichnete sie als „Marxismus im christlichen Gewand“.

US-Präsident Richard Nixon veranlasste ein Gutachten durch den späteren Vizepräsidenten (unter Ford) Nelson Rockefeller, der zu dem Urteil kam, dass „eine Verwirklichung der Ideen der Befreiungstheologie eine Gefahr für die Interessen der USA“ darstelle.

Marxismus und Kommunismus

Mit dem Sieg der Revolutionsarmee Fidel Castros im Jahr 1959 über die von den USA gestützte Batista-Regierung wurden die Hotels, Spielcasinos und Bordelle, aber auch die Industrie- und Landwirtschaftsbetriebe in Kuba enteignet und gemäß marxistischer Lehre in staatlich kontrolliertes Volkseigentum umgewandelt. Die Eigentümer flohen zu großen Teilen nach Florida, wo ihre Erben bis heute darauf hoffen, mit Hilfe der US-Politik ihr (vermeintliches) Eigentum zurückzuerlangen.

Gemäß dem neoliberalen Staats- und Gesellschaftsmodell der USA ist der Schutz privaten Eigentums eine der wesentlichen Aufgaben des Staates. Eine revolutionäre Umwälzung von Macht- und Besitzverhältnissen im Sinne des Kommunismus´ ist im US-amerikanischen politischen Denken ganz unmöglich und muss mit allen Mitteln bekämpft werden. So hat dann auch vor gar nicht langer Zeit ein führender amerikanischer Politiker, nämlich Trumps Außenminister Mike Pompeo, unter Androhung weiterer Sanktionen die finanzielle Entschädigung der von Kuba enteigneten Besitzer gefordert.

Nationaler Sozialismus

Während Karl Marx eine internationale Ausbreitung seiner revolutionären Ideen vorsah („Proletarier aller Länder vereinigt euch!“), war die Idee eines Sozialismus im nationalen Rahmen, das heißt eines Sozialismus´ nur für das eigene Volk, ein Traum nicht nur bei den deutschen Nationalsozialisten. Die stürmischen Anfangserfolge von Hitler und Mussolini stießen auf begeisterten Zuspruch in weiten Bevölkerungskreisen in Lateinamerika, besonders dort, wo besonders viele deutsche Einwanderer lebten. Bei entsprechenden Kundgebungen sah man in Chile, Argentinien und Brasilien viele Menschen, die demonstrativ den Hitlergruß zeigten. Besonders in Kreisen des Militärs wurden die Maßnahmen unter Hitler und Mussolini als bewundernswertes Vorbild gesehen. Auch Argentiniens späterer Präsident Juan Peron war als junger argentinischer Offizier vom italienischen Faschismus sehr beeindruckt. Angesichts des Zusammenbruches von Nationalsozialismus und Faschismus am Ende des Krieges konnte Deutschland offiziell nicht mehr als Vorbild genannt werden, aber das Gedankengut blieb erhalten, wie wir an der Fluchthilfe für viele Naziverbrecher in lateinamerikanischen Staaten sehen konnten.

Die außerordentliche Brutalität der Militärdiktaturen mit massenhaften Ermordungen und Folterungen von Oppositionellen zeigt die deutlichen Spuren faschistischen Denkens in manchen lateinamerikanischen Militärkreisen unter rechtsgerichteten Regierungen. Aufgrund der Angst der US-Regierung vor einem „neuen Kuba“ auf südamerikanischem Territorium duldete sie das brutale Vorgehen der Militärdiktaturen jedoch, sah es sozusagen als das kleinere Übel an, sofern die wirtschaftlichen Interessen der USA nicht berührt waren und das Eigentumsrecht US-amerikanischer Investoren geschützt blieb. In dem oben bereits zitierten Gutachten von Nelson Rockefeller aus dem Jahr 1969 wird ausdrücklich empfohlen, mit den Militärregierungen zusammenzuarbeiten, anstatt sie zu kritisieren, weil die lateinamerikanischen Staaten aufgrund „ihrer autoritären und hierarchischen Kulturen“ sich nicht für eine demokratische Regierungsform eignen würden. .

Soziale Demokratie

Als klassisches Beispiel kann die Präsidentschaft von Salvador Allende gelten, der demokratisch gewählt wurde und sowohl in seinen Wahlkampfreden als auch bei seiner vorherigen Tätigkeit als Senator seine politischen und wirtschaftlichen Reformziele deutlich gemacht hatte. Sein Ziel war es, die riesige Kluft zwischen den wenigen Superreichen und der Masse der Armen zu vermindern durch das Recht auf eine gute Schulbildung. Darüber hinaus strebte er den allgemeinen Zugang zu medizinischer Behandlung für alle und die Organisation eines Rentensystems zur Vermeidung von Altersarmut an. Um diese - für uns Europäer selbstverständlichen, für Bewohner des amerikanischen Kontinents jedoch revolutionären - Pläne zu realisieren, wäre es nötig gewesen, die Nutzung der Bodenschätze des Landes zum Nutzen des Volkes zu verwenden und die wohlhabende Klasse höher zu besteuern. Eine Verstaatlichung der großen Betriebe wäre jedoch zum Nachteil ausländischer, besonders US-amerikanischer Investoren gewesen. Dies war mit einer der Gründe, warum die US-Regierung unter Nixon und Kissinger alles tat, um Allende von der Macht zu verdrängen.

Neoliberalismus

Wenn man das Wort „Neoliberalismus“ frei ins Deutsche übersetzt, wäre vielleicht „neue Form der Freiheit“ oder auch „neue Form der freien Marktwirtschaft“ denkbar. Für die besitzende Klasse ist das auch tatsächlich der Fall - sie profitiert vom Neoliberalismus, und zwar in hohem Maße. Für die große Masse der Armen in Lateinamerika bedeutet er jedoch hoffnungslose Weitervererbung des Elends von einer Generation zu nächsten. Fest steht, dass es eine Privatisierung öffentlicher Aufgaben und eine Deregulierung des Bankwesens gibt - in noch radikalerer Form, als es in Europa geschieht.

An einem Vergleich des Regierungshandelns des bolivianischen Präsident Evo Morales, der viermal mit deutlicher Mehrheit vom Volk gewählt wurde, und den Maßnahmen, die von der Putschregierung unter Jeanine Anez im Jahre 2019 eingeführt wurden, kann man sich den Unterschied vergegenwärtigen. Evo Morales hatte es geschafft, das Land von seiner Verschuldung gegenüber dem US-gesteuerten „Internationalen Währungsfond“ (IWF) zu befreien, die Erdgasindustrie zu verstaatlichen, das Schulsystem zu verbessern und das Lohnniveau anzuheben.

Als der außerordentliche Wert der Lithiumbestände in einem bolivianischen Salzsee für die weltweite Elektrifizierung der Automobile erkannt wurde, betrieben das britische Außenministerium und der Tesla-Produzent und Multimilliardär Elon Musk einen Putsch in Bolivien. Die letzte Präsidentenwahl wurde als Betrug dargestellt und die neue Regierung der selbsternannten Präsidentin Jeanine Anez wurde von den USA sofort als rechtmäßig anerkannt.

Auf einen kritischen Zwischenruf, er habe den Putsch doch nur veranlasst, um an das Lithium Boliviens für seine Tesla-Batterien zu kommen, antwortete Elon Musk mit dem weltweit verbreiteten, obgleich am nächsten Tag gelöschten Tweet: „Wir putschen, wo und wann wir wollen. Gewöhnt euch daran!“

Die neue Präsidentin Jeanine Anez führte sofort das ganze Programm des Neoliberalismus ein, inklusive Privatisierung des Bildungs- und Gesundheitssystems. Die 700 in Bolivien tätigen kubanischen Ärzte verwies sie des Landes. Eine ordentliche Schulbildung und Gesundheitsfürsorge sind damit nur noch den Wohlhabenden zugänglich. Anez nahm Kredite beim IWF auf, um für Polizei und Militär Waffen zu kaufen.

Doch die Bolivianer haben sich gewehrt: Nachdem es bei Protesten zu Massakern durch die Polizei gekommen war, wurde die Regierung gestürzt, Anez wurde verhaftet und steht derzeit vor Gericht. Bei der anschließenden Wahl gewann die Partei von Evo Morales MAS (Movimento al Socialismo) mit deutlicher Mehrheit, wobei nicht Morales Präsident wurde, sondern der Ökonom Luis Arce.

Was in Lateinamerika legitim ist und was nicht, bestimmen die USA

Lateinamerika besitzt mit seinen gewaltigen Bodenschätzen und seiner landwirtschaftlichen Möglichkeiten alles, was zur Entwicklung von Wohlstand für seine Menschen nötig wäre. Dennoch findet sich auf dem Kontinent der größte Unterschied zwischen Arm und Reich in der ganzen Welt. An den Sozialsystemen (wenn man sie denn überhaupt so nennen darf) dieser Staaten muss also etwas falsch sein.

Im Norden des Doppelkontinentes entwickelten sich die USA zu einem mächtigen Industriestaat und wurden nach dem Zweiten Weltkrieg zur Weltmacht Nummer eins. Da die Modernisierung der lateinamerikanischen Staaten weitgehend durch US- Darlehen und Investitionen geschah, blieben diese Staaten abhängig vom großen Nachbarn. Zwischen Nord und Süd entwickelte sich eine gegenseitige Antipathie, die bis heute anhält.

Während des Kalten Krieges war für die Vereinigten Staaten der Kampf gegen den Kommunismus vorrangig. Ganz unschuldig sind die kommunistischen Gewaltherrscher daran nicht - der Sowjetkommunismus unter Stalin und der chinesische Kommunismus unter Mao Zedong trugen in hohem Maße zur Angst des Westens vor der sogenannten „roten Gefahr“ bei. Das ist natürlich keine Entschuldigung für die US-amerikanische Hofierung und sogar Einsetzung brutalster Militärdiktaturen, aber bis zu einem gewissen Grad eine Erklärung. Wobei eines auch klar ist: Es hätte gar keiner kommunistischen Schreckensherrschaften bedurft - für die US-Präsidenten Nixon und Reagan war jede lateinamerikanische Regierung mit Sozialprogrammen Kommunismus-verdächtig. Nelson Rockefeller äußerte die Meinung, dass die lateinamerikanischen Völker aufgrund ihrer autokratischen und hierarchischen Kultur und Tradition für eine demokratische Regierungsform nicht geeignet seien. Dass die USA in Lateinamerika schalten und walten durften, wie sie wollten, und immer wieder (angeblich im Namen des Rechts!) das Völkerrecht brechen durften, wurde mit dem charakterlichen Unterschied zwischen den nüchternen, pragmatisch handelnden protestantischen Angelsachsen im Norden und den angeblich emotional labilen katholischen Südamerikanern zu erklären versucht. Wie zynisch kann man nur sein, einen ganzen Kontinent unter die Knute grausamer Militärdiktatur zu zwingen aufgrund der angeblichen charakterlichen Eigenarten seiner Bewohner.

Im Dezember 2019 hielt US-Außenminister Mike Pompeo eine Rede an der University of Louisville in Kentucky, in der er betonte, dass die USA aufgrund ihrer „moralischen und strategischen Klarheit eine besondere Rolle in der Welt“ spielen und deshalb darüber bestimmen müssen, welche Regierungsform in Lateinamerika „legitim oder nicht legitim“ sei.

Der Handlungsspielraum lateinamerikanischer Regierungen ist immer klein gewesen. Weder der christliche Weg der Befreiungstheologie noch der sozialistische und schon gar nicht der kommunistische Weg zu einem erträglichen Ausgleich der Vermögensverhältnisse wurde von dem mächtigen Nachbarn im Norden geduldet.

Neue Hoffnung?

Tatsache ist allerdings: Es tut sich etwas - die Verhältnisse scheinen sich allmählich zu ändern. Hat das etwas damit zu tun, dass die USA immer stärker ihrer globalen Vormachtstellung verlustig gehen?

Nachdem in Brasilien die sozial eingestellten Präsidenten Silva da Lula und Dilma Roussef wegen falscher Korruptions-Anschuldigungen ihre Posten räumen mussten, sind beide mittlerweile wieder rehabilitiert. Silva da Lula will bei der nächsten Wahl in Brasilien sogar wieder kandidieren.

Boliviens Putsch-Präsidentin Jeanine Anez wurde abgesetzt. Die sozialistische Partei „Movimento al Socialismo“ gewann die Wahl und stellt wieder den Präsidenten. Man kann gespannt sein, was in Zukunft mit den gigantischen Lithium-Lagerstätten geschieht, und ob das bolivianische Volk an den Gewinnen beteiligt wird.

Im Dezember letzten Jahres gewann in Chile in einer Stichwahl der sozialistische Kandidat Gabriel Boric gegen den rechtsextremen Antonio Kast. Boric hat ähnliche Reformen im Programm wie einst Salvador Allende. Die Enkelin Allendes, die bekannte Schriftstellerin Isabel Allende, äußerste sich in einem Interview am 26. Januar 2022 begeistert über die politische Wende in ihrem Heimatland und sagte, sie setze große Hoffnungen in den neuen Präsidenten. Der Kontrast zwischen den sozialen Schichten, den die Regierung Pinochet hinterlassen hat, verglich sie mit dem Kastenwesen in Indien. Ob der neue Präsident Boric alle seine Pläne realisieren kann, ist allerdings fraglich, weil er im Parlament keine Mehrheit hat.

Tatsache ist: Die sozialistischen Staaten in Lateinamerika als da sind Kuba, Venezuela und Nicaragua erweisen sich trotz der von den USA verhängten Wirtschaftssanktionen als ziemlich resistent.

Die Fähigkeit der USA, eine globale Führungsrolle einzunehmen, wird in immer mehr Staaten und Regionen dieser Erde zunehmend bezweifelt.

Mit ihren Versprechen, die Ukraine gegen die Russen, Taiwan gegen die Chinesen, Syrien gegen Bashir al Assad, den Iraq vor dem Iran und die Kurden vor den Türken zu schützen, scheinen die Vereinigten Staaten überfordert - man kann von einer imperialen Überdehnung sprechen. Die zahlreichen militärischen Interventionen, von Vietnam über Süd- und Mittelamerika bis hin zu Afghanistan, sind nicht im Sinne der Amerikaner verlaufen, da helfen die mit Abstand höchsten Militärausgaben der Welt wenig.

Der ehemalige US-Stabschef im Pentagon, Lawrence Wilkerson, sagte bereits 2016, die USA müssten sich von ihrem imperialen Denken verabschieden, weil die Ansprüche nicht mehr finanzierbar seien.

In vielen lateinamerikanischen Staaten wird den Menschen die Notwendigkeit eigener politischer Verantwortung bewusst. Die Wahlergebnisse in immer mehr Staaten zeigen das deutlich.

Ob Chile das „Grab des Neoliberalismus“ wird, wie der chilenische Präsident Gabriel Boric gesagt hat, werden wir sehen. Ein Rückfall in vergangene finstere Tage dürften dem Andenstaat allerdings nicht mehr drohen.

Auf jeden Fall demonstrieren immer mehr Wahlergebnisse den Willen der lateinamerikanischen Völker, den Forderungen der USA nicht mehr widerstandslos Folge leisten.


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