Finanzen

Vor zwei Tagen entging die Welt einer Katastrophe - jetzt droht bereits die nächste Gefahr

Lesezeit: 6 min
22.05.2022 10:58  Aktualisiert: 22.05.2022 10:58
Ronald Barazon analysiert die wirtschaftlichen Aussichten.
Vor zwei Tagen entging die Welt einer Katastrophe - jetzt droht bereits die nächste Gefahr
Noch einmal davongekommen: Händler Peter Mazza. Doch die nächste Gefahr wartet bereits. (Foto: dpa)

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Vor zwei Tagen, am Freitag, schien es soweit zu sein: Die Kurse gaben nach, unter den Tradern machte sich erste Panik breit, der schon seit Wochen anhaltende Kursrückgang schien auf seinen Höhepunkt zuzusteuern. Alles schien an den 24. Oktober 1929 zu erinnern, an jenen „Schwarzen Donnerstag“, der die Große Depression in den USA und die Weltwirtschaftskrise auslöste. Alle fragten sich: Kippt die Stimmung jetzt endgültig, entlädt sich die schleichende Abwärtsentwicklung, die bereits seit geraumer Zeit zu beobachten ist, in einem großen Knall? Banges Warten! Und dann die Entwarnung - es wird keine Katastrophe geben. Gegen Schluss kehrte sogar der Optimismus zurück, es wurde wieder gekauft, die Kurse erholten sich, und - vormittags hätte man das noch für unmöglich gehalten - die Börse schloss sogar mit einem kleinen Plus gegenüber dem Vortag.

Das Verhältnis der Kurse zu den Gewinnen hat wieder eine realistische Größenordnung erreicht

Wie gesagt, es gibt Entwarnung: die sanfte Landung, sie erst vorerst geglückt. Was nicht selbstverständlich war: In den vergangenen zwei Jahren hatten die Kurse astronomische Höhen erreicht, die Aktienpreise entwickelten sich in keiner vertretbaren Relation zu den Gewinnen; so erreichte der Dow-Jones-Index sogar die unglaubliche Marke von 36.000 Punkten. In den vergangenen Wochen ging der Index kräftig zurück, am Freitag schloss er mit 31.261,90 Punkten. Für jene, die bei 36.000 gekauft haben, naturgemäß ein schmerzhafter Verlust, den sie sogar als Crash empfunden haben mögen. Tatsächlich bedeutet der Weg von 36.000 zu 31.000 Punkten jedoch die Bereinigung einer absurden Situation; die Rückkehr zu Werten, die realistisch sind.

Die Preise der Aktien liegen im Schnitt nun wieder deutlich unter dem Zwanzigfachen der Gewinne, so dass diese circa vier bis fünf Prozent der Aktienkurse entsprechen. Das Kurs-Gewinn-Verhältnis betrug Freitagabend 17,8 - vor einem Jahr lag der Vergleichswert bei 30. Man bewegt sich nun, gemessen an den Daten, in einem ruhigen Fahrwasser. Das sollte auch die Nerven der Börsianer entspannen und weitere Kursverluste bremsen.

Für die New Yorker Technologie-Börse „Nasdaq“ errechnete sich Freitag ein Kurs-Gewinn-Verhältnis von 25,17. Äußerst hoch - aber an der Nasdaq notieren viele junge Unternehmen, die noch keinen oder lediglich einen geringen Gewinn erwirtschaften. Somit sind nicht die aktuellen Ergebnisse entscheidend, sondern die Zukunftsaussichten, und da ist ein hoher Kurs in vielen Fällen durchaus vertretbar. Mit einem Indexwert von 11.835 Punkten gegenüber 16.000 vor einem Jahr, befindet sich der Nasdaq nun ebenfalls in einer ruhigeren Zone.

Festzuhalten bleibt, dass die Börsen der Welt sich in den vergangenen Monaten und Wochen von den Spitzenkursen verabschiedet haben, ohne allerdings einen plötzlichen und spektakulären Rückgang zu erleben. Der DAX bewegte sich vor einem Jahr bei 15.000 Punkten und liegt jetzt bei 14.000. Ähnliche Werte ergaben sich auf vielen Märkten weltweit. Somit wurde der befürchtete Crash vermieden. Ein Ergebnis, das viele für unmöglich gehalten haben. Somit stellt sich nun die Frage: Hält die am Freitag erreichte Situation an - oder erleben wir gerade eine trügerische Ruhe vor dem Sturm?

Die Inflation erweist sich als die größte Gefahr – nicht nur für die Börse

Nun, es gibt tatsächlich einen Risikofaktor, dem sich die Weltwirtschaft ausgesetzt sieht. Und zwar die Inflation, die auf beiden Seiten des Atlantiks mit Teuerungsraten von sieben bis acht Prozent ausgewiesen wird. Das sind bereits außergewöhnlich hohe Werte, doch muss man zur Kenntnis nehmen, dass es sich dabei nur um einen Durchschnittswert handelt und in einigen Bereichen die Lage noch viel schlimmer ist: Die Preissteigerungen betragen dort 20 oder gar 30 Prozent. Eine Entwicklung, die vielfältige Konsequenzen nach sich zieht, wie wir im Folgenden sehen werden.

Einen wichtigen Faktor bei der Entwicklung der Aktienkurse bilden die Anleihen. Nachdem im Gefolge der Niedrigzinspolitik jahrelang mit dieser Art von Anlage keine oder lediglich minimale Erträge erwirtschaftet werden konnten, wechselten die Investoren vollends zu Aktien und anderen Substanzwerten wie Immobilien und trieben mit dieser gewaltigen Nachfrage die Preise in astronomische Höhen. Die US-Zentralbank Federal Reserve (Fed) hat sich in den vergangenen Monaten von der Niedrigzinspolitik verabschiedet und einen Zinsanstieg auf dem Markt ausgelöst. Die als Orientierungswert geltenden zehnjährigen Staatsanleihen wiesen in der vergangenen Woche Rendite-Werte um drei Prozent auf und lagen gegen Wochenende bei 2,8 Prozent.

Drei Prozent wären normalerweise ein Wert, der Anleger überzeugen könnte. Allerdings ergibt sich bei der ausgewiesenen Teuerung von 7,5 Prozent ein Wertverlust von stolzen 4,5 Prozent! Noch höher ist der Wertverlust in Europa, wo die Zinsen immer noch äußerst niedrig sind: Die Rendite der zehnjährigen deutschen Bundesanleihen beträgt derzeit gerade mal 0,95 Prozent. Das hat folgende Konsequenz: Die Anleger werden weiterhin den Kauf von Aktien favorisieren und auf diese Weise die Kurse hoch halten.

Gleichzeitig wird der Druck auf die Zentralbanken, die Zinsen anzuheben, um die Inflation in den Griff zu bekommen, steigen. Kommt es in der Folge zu extrem hohen Zinsen von, sagen wir mal neun oder zehn Prozent, wird sich für die Anleger der Kauf von Anleihen wieder lohnen, das Interesse an Aktien wird zurückgehen und die Kurse sinken. Anmerkung: Solch ein Szenario kann man sich heute kaum noch vorstellen (so, wie man sich bis vor kurzem nicht vorstellen konnte, dass es noch einmal Krieg in Europa geben könnte). Aber man muss sich nur an die Siebziger- und Achtzigerjahre zurückerinnern - damals waren derart hohe Zinsen normal.

Die sinkende Kaufkraft löst einen Dominoeffekt von Wirtschaftsbremsen aus

Die zweite große Gefahr für die Börse resultiert ebenfalls aus der Inflation. Die hohen Preise schmälern die Kaufkraft der Privathaushalte, die daher weniger konsumieren. In der abgelaufenen Woche haben die großen Einzelhandelsketten in den USA dann auch schon mal Gewinnwarnungen ausgegeben, weil ihre Umsätze seit Monaten stark zurückgehen. Die Produzenten bekommen diese Entwicklung naturgemäß zu spüren und müssen reagieren. In der Folge drosseln sie die Investitionen, was einen zusätzlichen Bremseffekt für die gesamte Wirtschaft bedeutet. Das Ganze führt schließlich dazu, dass auch die Börse als Reaktion auf generell sinkende Gewinne unter Druck gerät.

Die Aussicht, dass ein erhöhtes Wachstum für eine Entspannung der Lage sorgt, ist in den USA größer als in Europa

Als Gegengewicht zu einer schwachen Nachfrage bietet sich ein umfassendes öffentliches Investitionsprogramm an. Da befinden sich die USA in einer besseren Position als die EU. Bereits beschlossen ist ein Infrastrukturprogramm von 1,2 Billionen (Tausendzweihundert Milliarden!) Dollar, und die Biden-Administration bemüht sich um weitere Milliarden, die aber vorerst nicht die Zustimmung des Parlaments bekommen haben. In der EU wird hingegen nur ein 750 Milliarden Euro schweres Programm realisiert, das zudem über die 27 Mitgliedstaaten der Union abgewickelt werden muss und durch strenge Umweltauflagen belastet ist. Man muss sich mal die Unterschiede vor Augen führen: 1.200 Milliarden Dollar (entspricht 1.136 Milliarden Euro) für 330 Millionen Amerikaner versus 750 Milliarden Euro für 450 Millionen EU-Bürger.

Der Euro-Kurs ist in wenigen Monaten um 20 Prozent gefallen

Der Euro-Kurs ist gegenüber dem Dollar in den vergangenen Monaten von 1,20 auf 1,06 zurückgegangen, und ein Verhältnis von 1:1 ist absehbar. Diese Veränderung ist auf mehrere Faktoren zurückzuführen. Eine entscheidende Rolle spielt der Umstand, dass in den USA die Zinsen angehoben wurden, in Europa nicht. Kapital strebt immer zu den höheren Renditen. Außerdem besteht durch den größeren Umfang ihres Investitionsprogramms für die Vereinigten Staaten die Aussicht, dass sie die aktuellen Probleme rascher überwinden werden als die Alte Welt. Diese Annahme ist durch weitere Umstände begründet.

  • Die USA haben seit der Finanzkrise 2008 das Bankwesen auf gesunde Beine gestellt. Die Kreditvergabe funktioniert klaglos, die Geldinstitute sind wirtschaftlich gesund.

In Europa dagegen wurde mit einem Wust an Regeln die Kreditfinanzierung vor allem der Unternehmen bestenfalls erschwert, im Grunde jedoch ruiniert. Und dies, obwohl in Europa die Kreditfinanzierung traditionelle einen viel größeren Anteil an der Finanzierung der Wirtschaft hat als in den USA, wo die Mittelaufbringung über den Kapitalmarkt eine größere Rolle spielt.

  • Die Steuern in den USA sind niedrig. Im Schnitt rechnet man mit einer Belastung der Wirtschaftsleistung in der Größenordnung von 30 Prozent, sodass den Betrieben ein großer Spielraum verbleibt. Auf Bundesebene existiert keine Umsatzsteuer, einzelne Bundesstaaten erheben eine geringe Umsatzsteuer.

In Europa liegt die Abgabenquote dagegen bei 40 und mehr Prozent, nicht zuletzt ausgelöst durch die Kosten des Sozialstaats, den es in vergleichbarem Umfang in den USA nicht gibt. Diese großen Belastungen behindern naturgemäß die wirtschaftliche Entwicklung. Die vielfach diskutierten, in Europa beliebten Möglichkeiten der Steuerreduktion durch komplizierte Konstruktionen, können nur von ein paar wenigen Firmen, die sich ein Heer von cleveren Steuerexperten leisten können, genützt werden. Abhilfe würde nur eine niedrigere Besteuerung für alle schaffen (aber das bleibt natürlich nur ein Traum).

  • Die größte Bremse für Europa und der größte Vorteil für die USA besteht in den unterschiedlichen Kapitalmärkten. In den USA werden Start-Ups bereitwillig mit Kapital ausgestattet, weil man sich in Zukunft große Gewinne erhofft. Man kann schon absehen, dass kreative US-Jungunternehmer bereits dabei sind, die Googles, Microsofts und Apples von morgen zu entwickeln, die die Energieprobleme lösen, die Medizin erneuern und viele - derzeit noch unbekannte - Perspektiven eröffnen werden.

In Europa ist Kapital sehr schwer aufzutreiben, und noch schwerer ist es, eine Kapitalerhöhung zu bekommen, wenn man noch keine greifbaren Ergebnisse vorzuweisen hat. Stattdessen winken (in der Summe niedrigere) staatliche Förderungen, an die jedoch nur nach einem Hürdenlauf durch die nationale und die EU-Bürokratie heranzukommen ist. So ist die Zukunft nicht zu gewinnen!

Fazit: Die Bewältigung der Bestie Inflation ist die zentrale Herausforderung. Einen entscheidenden Beitrag kann nur ein Wachstumsprogramm liefern, das vom Staat initiiert wird. Wobei die Wirtschaft ihren Teil beitragen muss - ohne eine stärkere Dynamik und ausgeprägtere Innovationsbereitschaft ihrerseits ist der Staat nicht in der Lage, entscheidende Akzente zu setzen. Die USA sind in beiderlei Hinsicht - sowohl, was den staatlichen Anschub, als auch, was die privatwirtschaftliche Vitalität angeht - besser aufgestellt als Europa.

Notwendig ist des Weiteren eine Entspannung bei den Energiepreisen. Und auch da sind die USA in einer günstigeren Lage als Europa, da sie kaum Importe benötigen. Auf unserem Kontinent kann die Abhängigkeit von russischem Gas und OPEC-Öl durch die Wind- und Sonnenenergie nicht korrigiert werden, zudem wird der Einsatz der Atomenergie aus ideologischen Gründen abgelehnt. Europa, wie so oft, steht sich selbst im Weg.

                                                                            ***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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