Politik

Mythos Europa: Was bleibt außer Überwachung, Bürokratie und dem digitalen Euro?

Lesezeit: 5 min
26.06.2022 11:30
Prof. Dr. Werner Thiede setzt sich kritisch mit der Vorstellung auseinander, dass ein geeintes Europa die Lösung für alle Probleme sein könnte. Sein Fazit: Das Gegenteil ist der Fall.
Mythos Europa: Was bleibt außer Überwachung, Bürokratie und dem digitalen Euro?
Ist ein vereinigtes Europa einem Europa der Nationalstaaten wirklich grundsätzlich vorzuziehen? (Foto: Mabel Amber / pixabay)

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Nach monatelangen Drohgebärden möchte die britische Regierung die mit Brüssel vereinbarte Brexit-Regelung für Nordirland einseitig ändern. Mitte Juni veröffentlichte sie in London einen Gesetz­ent­wurf, der beinhaltet, Teile des Nordirland-Protokolls auszusetzen. Die Begründung von Außen­ministerin Elizabeth Truss lautete: „Wir haben echte Probleme in Nordirland, und mit diesem Gesetz kehren wir zu den Prinzipien des Karfreitagsabkommens zurück, das Stabilität bringen soll.“ Unter anderem sollen Unternehmen demnach künftig die Wahl haben, Waren in Nordir­land ent­we­der gemäß den Warenvorschriften des Vereinigten Königreichs oder denen der EU auf den Markt zu bringen. England schütze so zugleich den EU-Binnenmarkt, heißt es von Seiten Londons, halte weiter an den Kernprinzipien des Nordirland-Protokolls fest und bewege sich durchaus im Rahmen inter­nationaler Gesetze.

Doch die EU sieht das ganz anders und hat Konsequenzen angekündigt. EU-Kommissionsvizepräsident Maros Sefkovic betonte, solch einseitige Maßnahmen seien dem gegenseitigen Vertrauen abträglich. Kurz: Es droht ein regelrechter Handelskrieg. Schon warnt Premierminister Boris Johnson vor einer Überreaktion aus Brüssel – bloß wegen „eini­ger Details“. Dabei waren es vor allem „Brexit“-Hardliner, die den umstrittenen Gesetz­ent­wurf mitformuliert hat­ten. Doch selbst parteiintern ist man keineswegs einig: Manche Tory-Ab­ge­ordneten sprechen von „komplettem Wahnsinn“ und fordern mehr Annäherung an die EU, ja ange­sichts steigender Inflation und schlechter Wirtschaftsdaten gar eine Rück­kehr zum europäischen Binnenmarkt. Kurz gesagt: Der Brexit bleibt eines der Grundprobleme Europas.

Indes – haben nicht bis heute Debatten um eine nicht nationalstaatlich gewichtete Vision Europas so manche Gemüter beflügelt? Dem Europa der - angeblichen - Oppor­tunisten und Spießbürger wird gerade jetzt, da auf dem Kontinent wider alles Erwarten wieder ein brutaler Krieg wütet, gern eine gesamteuropäische Friedensvision gegenübergestellt. Ein geeintes Euro­pa müsse ein demo­kratisches Gegengewicht zu Russland, zu China und zur arabischen Welt bil­den, hört man allenthalben. Doch die Fliehkräfte innerhalb Europas, die einander deutlich widersprechenden Kon­zepte der ein­zelnen Länder lassen skeptisch fragen: Woher soll eine überzeugende Realisierung des Ideals kom­men? Etwa durch militärische Not?

Innereuropäische Konfliktlagen

Europa ist eigentlich der Name einer phönizischen Prinzessin, die Teil einer mythischen Er­zäh­lung war. Stellt nicht „Europa“ schon im Ansatz einen Mythos dar? Ein „Mythos“ ist eine Erzählung oder auch ein womöglich unbewusstes Gedankengebilde, mit dem Menschen und ganze Kulturen ihr Weltverständnis gesellschaftlich verbindlich zu fassen oder zu fühlen ver­suchen. Mythen werden „im Menschen gedacht, ohne dass er etwas davon weiß“, erklärte der berühmte Mythenforscher Claude Lévi-Strauss.

Wenn in unseren Tagen das Stichwort „Europa“ immer weiter als stechendes Argument für eine zur Vereinheitlichung drängende Europapolitik genannt wird, dann klingt das wie die Beru­fung auf einen „Mythos Europa“. Hier wird mit subtilen Appellen gearbeitet, ohne dass be­wusst zum Ausdruck gebracht wäre, was oder welche Vision im tiefen Grunde da genauer gemeint sein soll. Man brauche ein starkes Europa als Gegengewicht gegenüber Russland, China und sogar den USA, wird oft gesagt – aber an welche innere, also nicht äußerlich diktierte oder aufoktroyierte Einheit Europas ist da gedacht? Jahrelang war man der Über­zeu­gung, ein ge­ein­tes Europa verhindere jegliche Kriegsgefahr auf dem Kon­tinent, den doch früher be­kannt­lich viele Kriege durcheinander wirbelten und von dem zwei Welt­kriege aus­gingen. Doch der Ukraine-Krieg trägt aktuell dazu bei, bisherige Gewissheiten die­ser Art infrage zu stellen – zumal sich der Aggres­sor Russland nicht zuletzt deswegen zu mili­tärischem Vorgehen ermutigt sah, weil er mittel- und langfristig auf die Uneinigkeit der euro­päischen Staaten untereinander setzen zu können meinte.

Tatsächlich konfligieren innerhalb Europas liberale mit konservativeren Lagern, reichere mit ärmeren Staaten, demokratisch hochmotivierte mit eher pseudodemokratisch ausgerichteten Ländern, flüchtlingsfreundliche mit eher flüchtlingsunfreundlichen Regierungen. Die EU krankt im Kern daran, dass sie von ihrer Konstruktion her ein primär öko­nomisch kon­struier­tes Projekt darstellt – ganz im Sinne des umstrittenen Satzes: „Wenn der Euro scheitert, schei­tert Europa“. Was wird erst noch aus der EU, wenn einst der digitale Euro eingeführt sein wird, den 2021 der Rat der Europäischen Zentralbank in Eckpunkten be­schlossen hat? Mit der Grundlage der gemeinsamen Geldpolitik ist und bleibt die europäische Einheit eine ziemlich äußerlich ge­stützte – mit immer noch zu wenig auf einen Nenner zu bringenden Werten.

Men­schen- und Frei­heits­rech­te haben der Mentalität nach nicht überall in Europa das gleiche Gewicht. Zwar kennen die europäischen Staaten ein Diskriminierungsverbot gegenüber Min­derheiten. Aber warum wird es in Bezug auf manche Min­der­heiten wie beispielsweise elek­trosensible Mit­menschen nicht konsequent angewendet? Dieses Beispiel illustriert: Viele Betroffene sehen sich um zentrale Grund­rechte gebracht – und zwar auf der Grundlage des Vereins ICNIRP (Interna­tio­nale Kom­mis­sion für den Schutz vor nichtioni­sieren­der Strah­lung), dessen reduktionistischen Richtlinien für Mobilfunk-Grenzwerte in der EU immer noch gelten, obwohl ihre ver­dächtige Industrienähe bekannt ist und 2019 im Berliner Tagesspiegel dank gründli­cher journalisti­scher Recherchen unübersehbar offengelegt wurden. 2020 wurde bekannt, dass die EU-Kommission den Corona-Wie­deraufbaufonds der EU gerade auch dem Ausbau der Mobil­funk­netze auf den umstrittenen 5G-Standard zu widmen gedenkt. Inzwischen wächst in Europa aber die Einsicht, dass 5G-Mobilfunk nicht nur eine wirtschaftspolitische, sondern auch eine sicherheits- und geopolitische, ja wohl doch auch eine gesundheitspolitische Dimension hat. So stellt der Europäische Wirtschafts- und Sozial­-Ausschuss in seiner EU-Veröffentlichung „Digitalisation – Challenges for Europe“ 2019 fest, dass etwa 13 Millionen Europäer an Elektrohypersensibilität leiden, und seit August 2021 setzt sich die Europäische Bürgerinitiative signstop5g.eu/de für die Rechte der Be­troffenen ein – doch welchen Erfolg wird sie zeitigen?

Insgesamt setzt sich die EU entschieden für die Digitalisierung ein, ohne in angemessener Weise nicht nur auf die Chancen, sondern auch auf die damit verbundenen Risiken und Benachteiligungen zu schauen. Inzwischen schlug der Rechtsaus­schuss des Europä­ischen Parl­a­­ments sogar vor, intelligente auto­nome Roboter als elektronische Per­sonen zu begreifen und deren „elek­tronische Per­sönlichkeit“ anzuerkennen. Und wenn die EU-Kom­mis­sion im April 2021 das Ziel ausgab, Europa solle „das globale Zentrum für vertrau­ens­würdige künst­liche Intelligenz (KI) werden“, so sind die viel diskutierten Vorbe­hal­te gegen­über der sich ex­ponentiell, womöglich autonom weiterentwickelnden KI-Techno­logie damit keines­wegs erle­digt – zumal der Regelungsentwurf sich als Verbotsgesetz dar­stellt, das den Einsatz von KI-Systemen lediglich in bestimmten Anwendungsszenarien ver­bie­tet beziehungsweise von bestimm­ten technisch-organisatorischen Voraussetzungen abhängig macht, wäh­rend zivil­rechtliche Fra­gen beim Einsatz von KI durch diese Verordnung nicht geregelt werden. Ist Europa zuneh­mend auf transhumanistischem Trip? Welch ein „Mythos Europa“ ist es denn eigentlich, der nicht auf­hört, einem naiven Fortschrittsglauben zu frönen, energisch gigantische Mil­liarden-Opfer an Geldern einzu­fordern und seit langem allerlei büro­krati­sche Gänge­lungen festzu­legen? Und nochmals: Welche Spaltungen durchziehen diesen Mythos?

Überwachtes Europa

Andreas Voß­kuhle sagte vor Jahren als damaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts einmal (es war zu Beginn der Eilverhandlung über die Klagen gegen eilige Rettungsfonds- und Fiskalpakt-Beschlüsse): „Europa fordert den demokratischen Verfas­sungs­staat ebenso, wie der demokra­tische Verfas­sungsstaat Europa fordert.“ Aber wo steht das eigentlich ge­schrie­ben, dass der demo­kratische Verfassungsstaat ein „Europa“ erfordere? Und wenn ja: welch ein Europa bitte? Und was, wenn solch ein Europa-Postulat – wie schon damals die Kläger in Karlsruhe befürchteten – kraft seines vereinheitli­chen­den Zuges am Ende Freiheit und Demo­kratie eher zu gefährden als zu stützen droht? Wenn der „Mythos Europa“ im Zuge einer glo­bal um sich greifenden Überwachungskultur womöglich seinerseits zunehmend totalitäre Ten­denzen zeitigt? Warnen nicht längst Bücher wie „Digi­tale Diktatur“, „Die digitalisierte Frei­heit“ oder „Smarte Diktatur“ vor den politischen Ge­fahren der digitalen Transformation? Sho­shana Zuboff hat mit guten Gründen in einem Interview be­kräftigt, dass selbst das euro­päi­sche „Datenschutzrecht und das Kartellrecht, so wie wir sie kennen, einem Outlaw-Über­wa­chungskapitalismus keinen Einhalt gebieten werden“.

Die Befürwortung einer starken europäischen Bastion sollte erst einmal den unscharfen „Mythos Europa“ zu entmythologisieren versuchen, um dann sorgfältig zu überlegen, welche inneren Werte wie glaubwürdig gegenüber Staaten und Machtzentren außerhalb der EU ein­heitlich vertreten werden können und sollen. Hätte man darauf früher geachtet, wäre es viel­leicht gar nicht zu einem „Brexit“ gekommen. Diese inneren Werte bilden dann, so sie ethisch sauber gedacht und formuliert sind, das Fundament eines Europas eher für die Menschen als für die Staaten – was die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot in ihrem Buch „Wie hältst du`s mit Europa?“ (2019) fordert.

Dass Europa auch als „christliches Projekt“ verstanden werden müsse, hat schon Kardinal Rein­hard Marx betont. Aber was wiegt solch ein Statement im religiösen und weltan­schau­li­chen Pluralismus unserer Zeit noch? Es spricht jedenfalls zurecht von einem „Pro­jekt“ und erklärt Europa mitnichten zum Selbstzweck. Angesichts einer europäisch schwä­chelnden Chris­tenheit käme es darauf an, dass diese wieder stärker zu ihrer eigenen Identität findet, statt einer zweifelhaften Selbstsäkularisierung zu frönen. Nur dann könnte sie nach­haltig in der Lage sein, wie einst in früheren Zeiten geistlich wie politisch in­spirierend und just in unse­rer Zeit apokalyptischer Zuspitzungen im Rahmen ihrer Möglich­keiten wahr­heits- und friedensfördernd zu wirken. Ihr Glaube an den Mensch gewordenen Gott steht mensch­heits­übergreifend, also welt- und europaweit ein für Menschen­freund­lichkeit und Be­wahrung der Schöpfung. Dieser Glaube ist imstande, alte wie neue Mythen zu brechen. Dass er in Euro­pa präsent ist, genügt nicht – er müsste in ganz Europa wieder erstarken. Und da­nach sieht es derzeit leider nicht aus. Vielmehr nehmen die Mitgliederzahlen der großen Kir­chen ste­tig ab, und daran dürfte auch deren zunehmend begeisterter Tanz ums digitale Kalb wenig ändern.

Dr. theol. habil. Werner Thiede ist außerplanmäßiger Professor für Systematische Theologie an der Universität Er­lan­gen-Nürnberg, Pfarrer i.R. und Publizist (www.werner-thiede.de). Zuletzt erschien von ihm „Unsterblichkeit der Seele? Interdisziplinäre Annäherungen an eine Menschheitsfrage“ (2. Auflage, Berlin 2022); im Druck befindet sich das Büchlein „Himmlisch wohnen. Auferstanden zu neuem Leben“ (Leipzig 2023).


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