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Globale Lebensmittelkrise treibt Millionen Menschen in die Hungersnot

Lesezeit: 4 min
30.06.2022 12:20  Aktualisiert: 30.06.2022 12:20
Die Welt steht vor einer globalen Lebensmittelkrise. Der Krieg in der Ukraine ist dabei nur der Auslöser einer ohnehin instabilen globalen Lebensmittelversorgung. Den höchsten Preis könnten wie so oft die Ärmsten der Welt zahlen. Hunderte Millionen sind von einer Hungersnot bedroht.
Globale Lebensmittelkrise treibt Millionen Menschen in die Hungersnot
2021 waren mehr als 40 Millionen Menschen von extremem Hunger betroffen. Das entspricht einem Anstieg um fast 70 Prozent gegenüber dem Vorjahr. (Foto: iStock.com/Bernd Schwabedissen)
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Nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa und den USA ächzen die Menschen an der Supermarktkasse über die stark gestiegenen Lebensmittelpreise. Doch die Preisanstiege und die damit verbundenen Anstiege bei Lebenshaltungskosten werden dem Ernst der Lage nicht gerecht. Das wird spätestens dann klar, wenn man sich die Worte des UN-Generalsekretärs António Guterres vom 18. Mai 2022 ins Gedächtnis ruft. In einem Appell an die Weltgemeinschaft warnte Guterres davor, dass in den kommenden Monaten „das Gespenst einer weltweiten Nahrungsmittelknappheit“ drohe.

Pandemie hat weltweite Lebensmittelversorgung verschärft

Schon jetzt sei die weltweite Zahl derer, die nicht genug zu essen haben, auf einem neuen Höchststand, mahnte der UN-Generalsekretär. In nur zwei Jahren habe sich die Zahl von 135 auf 276 Millionen Menschen mehr als verdoppelt. Zudem lebten weltweit mehr als eine halbe Million Menschen in Hungersnot – ein Anstieg von über 500 Prozent seit 2016. Auch die Zahl der unterernährten Menschen nehme stetig zu. In den vergangenen Jahren stieg sie um 440 Millionen auf 1,6 Milliarden. Die Vereinten Nationen warnen, dass ohne sofortige humanitäre Hilfe mehr als 43 Millionen Menschen in 38 Ländern der Welt von einer Hungersnot bedroht sind. Äthiopien, Somalia, Südsudan, Afghanistan und Jemen sind am stärksten betroffenen Länder.

Einen erheblichen Anteil an der drohenden Lebensmittelkrise hat die Pandemie. Mehr als zweieinhalb Jahre nach der Ausrufung der Corona-Pandemie hat der wirtschaftliche Niedergang viele Millionen Menschen in die Hungersnot getrieben, insbesondere in den Schwellen- und Entwicklungsländern. Die Hauptgründe dafür waren die Abriegelung und Schließung von Grenzen, Unternehmen und Märkten, aber auch teils drakonische Quarantäne- und Lockdown-Regeln, besonders in afrikanischen Ländern und in Indien.

Hinzu kam der ausbleibende Tourismus, der in vielen dieser Länder zu den wichtigsten Einnahmequellen gehört. Was folgte waren Massenarbeitslosigkeit, Lieferkettenprobleme und eine gestörte Lebensmittelproduktion, die zu einem Anstieg der weltweiten Lebensmittelpreise um 40 Prozent geführt haben – dem höchsten Anstieg seit über zehn Jahren. In der Folge waren 2021 mehr als 40 Millionen Menschen von extremem Hunger betroffen. Das entspricht einem Anstieg um fast 70 Prozent gegenüber dem Vorjahr.

Ukraine-Krieg und Inflation lösen globale Hungerkatastrophe aus

Durch die Auswirkungen der Pandemie war die globale Lebensmittelversorgung bereits stark angespannt. Nun hat der Krieg zwischen Russland und der Ukraine diese Probleme noch einmal verschärft. Laut einem Bericht der Weltbank ist der Preisindex für Agrarprodukte seit Anfang des Jahres um 14 Prozent gestiegen. Doch nicht nur Lebensmittelpreise, auch steigende Rohstoffpreise belasten den globalen Lebensmittelmarkt. Im vergangenen Jahr sind die weltweiten Lebensmittelpreise um fast ein Drittel, die Düngemittelpreise um mehr als die Hälfte und die Ölpreise um fast zwei Drittel gestiegen.

Zudem steigt laut Weltbank auch die Inflation der Inlandspreise weltweit weiter an. 94 Prozent der Länder mit niedrigem Einkommen, 89 Prozent der Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen, 83 Prozent der Länder mit hohem und mittlerem Einkommen und 70 Prozent der Länder mit hohem Einkommen verzeichnen eine hohe Lebensmittelpreisinflation über 5 Prozent. Viele Schwellen- und Entwicklungsländer erleben derzeit sogar eine zweistellige Inflation und in den meisten dieser Länder überstieg die Lebensmittelpreisinflation die Gesamtinflation.

Eine Entspannung bei Lebensmittelpreisen ist nicht in Sicht. Laut dem Commodity Markets Outlook der Weltbank vom April 2022 hat der Krieg in der Ukraine die globalen Handels-, Produktions- und Verbrauchsmuster von Rohstoffen so verändert, dass die Preise bis Ende 2024 auf einem historisch hohen Niveau bleiben werden, was die Ernährungsunsicherheit und die Inflation verschärften. Da es für die weltweite Inflation auch handfeste geldpolitische Gründe gibt, gehen Experten davon aus, dass die Preisanstiege noch jahrelang anhalten könnten.

Getreide und Mais gehören zu den wichtigsten Grundnahrungsmitteln weltweit. Ein Großteil des globalen Marktes entfällt auf eine geringe Zahl an Exportländern. So stammen rund 70 Prozent der Weizenexporte aus nur fünf Exportländern und 85 Prozent der Mais-Produktion aus vier Exportländern. Laut einem Bericht des US-Landwirtschaftsministeriums decken Russland und die Ukraine 26 Prozent aller Weizen-Exporte und 16 aller Mais-Exporte ab.

Krieg in der Ukraine gefährdet weltweite Weizen- und Mais-Exporte

Diese Versorgung ist durch den Krieg akut bedroht. Russland hat die ukrainischen Häfen an der Schwarzmeerküste blockiert und verhindert so den Export von Weizen und Mais. „Sollte Russland dauerhaft die Schwarzmeerküste kontrollieren, bringt das dramatische Veränderungen für die Ernährungslage in vielen Ländern“, zitiert der Tagesspiegel den Agrarökonomen Stefan Tangermann. „Wenn Russland allein die Kontrolle darüber hat, kann es das Getreide als politische Waffe einsetzen und nach Belieben die Lieferungen hoch- und runterfahren, so wie es das jetzt schon bei Öl und Gas tut.“

Vor Ausbruch des Krieges wurden nach Schätzungen des US-Landwirtschaftsministeriums rund 95 Prozent der ukrainischen Agrarexporte über die Schwarzmeerhäfen außer Landes gebracht. Ein Dreh- und Angelpunkt für die Exporte ist der Hafen in der nun umkämpften Stadt Odessa. Durch die Blockade der Schwarzmeerhäfen hängt die Ernte nun im Land fest. Schätzungen zufolge ist rund ein Drittel der ukrainischen Lager mit den Erträgen aus dem vergangenen Jahr gefüllt. Insgesamt lagern im Land demnach mehr als 20 Millionen Tonnen Getreide. Zwar versucht die Ukraine auf den Landweg mittels LKWs, Zügen und Binnenschiffen auszuweichen. Doch die Logistik ist kostspielig und erlaubt nur den Export eines Bruchteils des Getreides.

Darüber hinaus hat Russland damit begonnen, Getreide-Bestände aus der Ukraine zu beschlagnahmen. Die Regierung in Kiew warf dem Kreml vor, mithilfe russischer Soldaten bis zu 500.000 Tonnen Getreide illegal aus Charkiw, Cherson, Saporischschja, Luhansk und Donezk nach Russland geschafft zu haben. Von den ukrainischen Exporten hängt die Lebensmittelversorgung von weltweit 400 Millionen Menschen ab. Deutschland wird durch die Entwicklungen weniger stark betroffen sein, denn die Ukraine und Russland stellen nur rund 2 Prozent der deutschen Getreide-Importe. Härter trifft es Länder in Afrika. Ägypten beispielsweise bezog vor dem Krieg rund 70 Prozent seiner Getreide-Importe aus der Ukraine.

Immerhin ein paar Lichtblicke gibt es. Laut einem Bericht der NZZ vermittelt UN-Generalsekretär Guterres zwischen den Konfliktparteien, um eine Blockade der Getreide-Exporte zu beenden. Es bestünde Hoffnung, dass die Gespräche schon im Laufe der nächsten Woche zu einer Einigung kämen. Die Nachricht sorgte auch für etwas Entspannung an den globalen Agrarmärkten. Die Weizenpreise an der Pariser Getreidebörse gingen weiter nach unten. Derweil will die EU-Kommission 600 Millionen Euro für die am stärksten von der Hungerkatastrophe bedrohten Länder bereitstellen. Mit diesen Mitteln sollen afrikanische, karibische und pazifische Staaten unterstützt werden, damit sie die katastrophale Lage meistern können, teilte die Behörde in Brüssel mit.

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André Jasch ist freier Wirtschafts- und Finanzjournalist und lebt in Berlin.  


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