Deutschland

Hilflos auf dem Weg in die nächste Flutkatastrophe

Lesezeit: 5 min
02.07.2022 10:18
Mit dem Juli 2022 wird die Erinnerung an die Flutkatastrophe im Juli des vergangenen Jahres wach. Schon mehren sich die Anzeichen, dass heuer wieder ein Jahr mit Starkregen und Hochwasser kommen dürfte. Erneut scheint das Land unvorbereitet – als hätte niemand aus der Katastrophe gelernt.
Hilflos auf dem Weg in die nächste Flutkatastrophe
Katastrophenschutz ist Ländersache, daher gibt es keine koordinierte Politik. (Foto: dpa)

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Die Flutkatastrophe im vergangenen Juli betraf ganz Mittel- und Westeuropa mit 220 Toten, davon 186 in Deutschland, und über 40 Milliarden Schäden, der größte Teil in Deutschland. Nur 28 Prozent der Verluste waren durch Versicherungen gedeckt. Jetzt stellt sich die Frage „Wurde alles unternommen, damit heuer nicht wieder hunderte Tote zu beklagen und Milliarden Schäden zu ersetzen sein werden?“ Die klare Antwort lautet „Nein“. Und dafür gibt es viele, meist skurrile Gründe.

Der Hochwasserschutz wird durch den Gegensatz zwischen zwei Theorien gelähmt

Beim Katastrophenschutz prallen zwei Theorien aufeinander. Die traditionelle Methode betont den Bau von Dämmen und Deichen am Ufer der Flüsse. Diese Maßnahmen werden vom modernen Umweltschutz abgelehnt, den auch das deutsche Umweltministerium vertritt. Dämme bewirken, dass das Wasser in der Folge in die nächsten Streckenetappen getrieben wird, wo die Anrainer naturgemäß protestieren. Letztlich wird der ganze Fluss in ein Korsett gezwängt und gleicht einem Kanal. Heute plädiert man dafür, den Flüssen wieder mehr Raum zu geben, angrenzende Flächen frei zu halten und somit der Natur freien Lauf zu lassen.

Dieser Grundsatz ist aber nur sehr beschränkt umzusetzen. An den Unfern der Flüsse befinden sich Wohnhäuser und Fabriken. Auch die Landwirtschaft wehrt sich, wenn man kultivierte Flächen zu Überflutungszonen umwidmen will. Folglich werden weder ausreichend Dämme gebaut noch genügend Flächen für Überschwemmungen gewonnen. Auch kommt es nicht zum Bau der dringend benötigten Retentionsbecken, die das überschüssige Wasser aufnehmen sollten. Man hofft, dass eine erfolgreiche Klimapolitik dafür sorgen wird, dass die Starkregen, Stürme, Hagelschläge und die anderen, außergewöhnlichen Ereignisse zurückgehen. Ergebnisse sind aber erst in Jahren oder Jahrzehnten zu erwarten, die Überschwemmungen finden jetzt statt.

Katastrophenschutz ist Ländersache, obwohl die Flüsse durch mehrere Bundesländer fließen

Ein weiteres Problem: Rhein, Elbe, Donau, Oder, aber auch kleinere Flüsse wie Dosse, Ohre, Unstrut, Schwarzer Elster haben die Eigenschaft durch mehrere Bundesländer zu fließen. Katastrophenschutz ist aber Ländersache und so gibt es keine koordinierte Politik. Die Bundesregierung formuliert in Abständen Grundsätze und stellt nach Katastrophen auch Mittel bereit, ist aber nicht für landesweite Maßnahmen zuständig. Daran wird sich so bald nichts ändern. Man stolpert also in die nächste Flut, wird aber dann viele Landes- und Bundespolitiker in Gummistiefeln bewundern können, wie sie betroffen und besorgt irgendwelche, nicht näher präzisierten Millionen versprechen.

Eine Versicherung, die nur Hochwasser deckt, funktioniert nicht

Sinnvoll wäre eine Katastrophen-Versicherung, die einen Rechtsanspruch auf konkrete Schadenersatzleistungen begründet. Dieses Instrument hat aber eine strukturelle Schwäche: Wird eine Versicherung aufgelegt, die nur vor Hochwasser schützt, so zeichnen diese Polizze nur Flussanrainer in bedrohten Zonen und keine Bergbewohner oder Städter. Im Ernstfall brauchen alle Versicherungsnehmer Zahlungen von der Versicherung. Dann funktioniert aber die Versicherung nicht, weil Versicherung darauf beruht, dass eine große Risikogemeinschaft jeweils für einige zahlt. Wenn alle Schadenersatzleistungen brauchen, dann müssen die Prämien so hoch wie die Schäden sein und der Schutz ist uninteressant.

Die kuriosen Argumente gegen eine Katastrophen-Pflichtversicherung

Dieses Problem ist über eine Pflichtversicherung zu lösen, die alle Einwohner zeichnen müssen und die die Schäden im Gefolge aller Katastrophen abdeckt, also bei Überschwemmungen, aber auch bei Erdbeben, Erdrutschen, Starkregen, Hagel, Dürre und anderen Extremereignissen zahlt. Eine derartige Einrichtung hätte den Nutzen einer großen Versichertengemeinschaft und den Vorteil, dass davon ausgegangen werden kann, dass nicht gleichzeitig ein Hochwasser am Rhein und ein Lawinenabgang in den Alpen stattfindet, dass nicht im Norden das Meer für eine Überschwemmung sorgt und zur gleichen Zeit im Süden eine Hitzewelle Schäden auslöst.

Dieses Konzept ist naturgemäß nicht neu und steht seit langem zur Debatte. Warum es nicht umgesetzt wurde? Dafür gibt es eine kuriose Begründung. Eine Pflichtversicherung würde den Grundsätzen einer freien Marktwirtschaft widersprechen. Man ist erstaunt. Die obligatorische Kfz-Haftpflichtversicherung widerspricht nicht den Grundsätzen der freien Marktwirtschaft? Die zahllosen Vorschriften, die das Recht auf freies Unternehmertum, kurzum die Gewerbefreiheit in Frage stellen, stören nicht? Aber eine Pflicht zum Abschluss einer Katastrophen-Versicherung, die sonst nicht zustande kommen kann, darf es nicht geben?

Die Bundesländer fordern jetzt eine Pflichtversicherung, handeln muss der Bund

Vor wenigen Tagen haben sich alle Regierungen der Bundesländer geeinigt und fordern nun die Einführung einer Katastrophen-Pflicht-Versicherung. Die Länder sind zwar für den Katastrophenschutz zuständig, doch für die Einführung der Pflichtversicherung braucht es ein Bundesgesetz und so haben die Länder die Bundesregierung aufgefordert ein entsprechendes Gesetz zu formulieren und dem Bundestag zu übermitteln. An der Sache arbeiten nun Beamte des Bundes. Wann also das erforderliche Gesetz kommt, ist offen. Auch anderswo sind Pflichtversicherungen nicht selbstverständlich, nur Frankreich, Spanien und die Schweiz haben derartige Einrichtungen.

Die Eigenheimbesitzer sind gefordert, haben aber nur begrenzte Möglichkeiten

Fazit für die Betroffenen: Jede und jeder muss das Dach verstärkten, die Kellerfenster sichern, den Außenputz verbessern und nach Möglichkeit einen tiefen Swimming-Pool bauen, der sich im Ernstfall als Auffangbecken bei Starkregen und Hochwasser eignet. Alle müssen darauf schauen, dass die Eigenheimversicherungen auch einen nennenswerten Posten für Katastrophenschäden enthalten. Das ist in der Regel nicht der Fall, es bedarf also einer ergänzenden „Elementarversicherung“. Diese zahlt aber auch nur bis zu einem bestimmten Höchstbetrag die Reinigung eines ruinierten Kellers oder die Reparatur eines zerstörten Dachs. Problematisch wird die Deckung, wenn die Objekte nicht ausreichend gesichert waren oder die Häuser von vornherein in einer Zone errichtet wurden, die als „hochwassergefährdet“ eingestuft ist. Es ist also nicht verwunderlich, dass im Juli 2021 nur 28 Prozent der Schäden von Versicherungen bezahlt wurden.

In den USA werden Versicherungen in Hochwasserzonen subventioniert

Ein Blick nach Amerika ist hilfreich. In den USA sorgt das National Flood Insurance Program (NFIP) für eine Entschärfung des Problems. Das Programm wird von der Federal Emergency Management Agency (FEMA) verwaltet und vom Bundesstaat dotiert. Das NFIP ermöglicht über Subventionen günstige Katastrophen-Versicherungen. Die Förderungen werden über die kommunale Verwaltung abgewickelt. 20.000 Gemeinden nehmen derzeit an dem Programm teil. Anspruch auf eine Versicherung aus dem „Flood Program“ haben Bewohner von Häusern, die sich in einem Katastrophen-Risikogebiet befinden, wobei nach Zonen mit hoher und geringer Hochwassergefahr unterschieden wird. Die Jahresprämien beginnen bei 119 US-Dollar im Jahr. Der Abschluss der Versicherung erfolgt beim Vermittler, der auch die Haushalt- und Eigenheim-Versicherung anbietet. Die Folge: In den USA werden über 40 Prozent der Katastrophenschäden von Versicherungen bezahlt.

In Deutschland wurde das bundesweite Sirenensystem abgebaut

In der Analyse des Katastrophenmonats geriet auch das mangelhafte Frühwarnsystem in den Mittelpunkt der Kritik. Die Betroffenen wurden in vielen Fällen vom Wasser überrascht. Ein flächendeckendes Sirenensystem gibt es in Deutschland schon seit über zwanzig Jahren nicht mehr. Dabei betonen Zivilschutzexperten, dass mit den Sirenen mehr Menschen erreicht werden als über Radio, Fernsehen und Online-Medien. Zudem müsse der Weckeffekt der Sirenen beachtet werden, der die Menschen auch im Schlaf warnt. Bei Stromausfall sichern Notstromaggregate das Funktionieren der Sirenen.

Die Verbreitung der Warnungen über TV und Internet funktioniert, doch kommt kein Weckeffekt zustande. Im Juli 2021 war zudem das WDR-Studio im Katastrophengebiet Wuppertal durch einen Stromausfall lahmgelegt. Eine wachsende Rolle spielen verschiedene Apps, die Wetterwarnungen melden. Es gibt aber kein umfassendes System wie es im vorigen Jahrhundert bis in die neunziger Jahre über die Sirenen bestanden hat.

Wieder ein Blick in die USA: In Amerika kommen alle angesprochenen Medien zum Einsatz, Sirenen, Fernseh- und Rundfunkstationen, Kabelfernsehen, Handy-Apps, das Nationale Wetter-Service betreibt ein eigenes Wetter-Radio NOAA. Im Süden des Landes sind die Straßen, die sich für die Flucht vor einem Hurrikan eignen, besonders beschildert.

Gearbeitet wird derzeit in Deutschland an einem System, das den Versand von Warn-SMS besorgen soll. Mit dem Aufbau ist das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe befasst, bis Ende 2022 hofft man fertig zu sein.

Der Zivilschutz ist nicht nur durch die Überschwemmungen gefordert

Das Bundesamt rückt nicht nur wegen der Flutkatastrophen in den Mittelpunkt, Zivilschutz gewinnt angesichts vieler wachsender Gefahren an Bedeutung. Die im Gefolge des Überfalls auf die Ukraine gestiegene Bedrohung bedeutet nicht nur eine Herausforderung für das Militär, sondern auch für den Zivilschutz. Zudem sind andere Belastungen der Bevölkerung derzeit wahrscheinlicher als ein Angriff auf Deutschland.

  • Durch die extreme Abhängigkeit von russischem Erdgas droht eine Energiekrise mit dramatischen Stromausfällen, die das Land lahmlegen können.
  • Deutschland kann in Normaljahren den Getreidebedarf zu mehr als 100 Prozent decken, doch sorgen die langen Hitzeperioden mit Höchsttemperaturen weltweit für eine Zunahme der Dürrekatastrophen, die alle Länder treffen. Bei einem Jahresbedarf von 45 Millionen Tonnen wirkt die „Bundesreserve Getreide“ mit 600.000 Tonnen nicht sehr beruhigend. Zusammen mit der zivilen Notstandsreserve stehen insgesamt 800.000 Tonnen Nahrungsmittel zur Verfügung. Das ergibt weniger als 10 Kilogramm pro Einwohner, wogegen der Tagesverbrauch knapp 2 Kilogramm beträgt und der Jahresbedarf fast 680 Kilo erreicht. Zudem ist das Land bei Obst und Gemüse und anderen Lebensmitteln wie beispielsweise Öl aus der Ukraine Großimporteur, für ausländische Agrarprodukte werden jährlich 50 Mrd. Euro aufgewendet. Bei Lieferproblemen bricht eine Ernährungskrise aus.

Kritiker betonen, dass angesichts der erkennbaren Gefahren nicht nur das angekündigte Sonderbudget von 100 Milliarden Euro für das Militär, sondern auch eine höhere Dotation des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe notwendig sei. Im Budget sind aber nur zusätzliche 10 Millionen Euro vorgesehen, womit die Gesamtdotation bescheidene 240 Millionen Euro erreicht. Es geht um weit mehr als um den Schutz vor Flutkatastrophen.

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Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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