Deutschland

Deutschland droht ein Totalausfall von Gas aus Russland

Wegen anstehenden Wartungsarbeiten an Nord Stream 1 fürchtet die Bundesnetzagentur einen Totalausfall der russischen Gaslieferungen und fordert zum Sparen auf.
02.07.2022 16:15
Aktualisiert: 02.07.2022 16:15
Lesezeit: 3 min

Der Präsident der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, fürchtet einen Totalausfall russischer Gaslieferungen - und appelliert an die Bevölkerung, Energie zu sparen. Die Frage sei, ob aus der bevorstehenden regulären Wartung der Erdgas-Leitung Nord Stream 1 «eine länger andauernde politische Wartung wird», sagte Müller den Zeitungen der Funke-Mediengruppe (Samstag). Wenn der Gasfluss aus Russland «motiviert länger anhaltend abgesenkt wird, müssen wir ernsthafter über Einsparungen reden». Die zwölf Wochen bis zum Beginn der Heizsaison müssten genutzt werden, um Vorbereitungen zu treffen, sagte er.

Wirtschaftsminister Robert Habeck hatte am Donnerstag deutlich gemacht, dass er ein vollständiges Ausbleiben russischer Gaslieferungen durch Nord Stream befürchtet. Es drohe ab dem 11. Juli «eine Blockade von Nord Stream 1 insgesamt», sagte der Grünen-Politiker. Deswegen könne es im Winter wirklich problematisch werden. Die Gasversorgung über den Sommer sei gewährleistet. Am 11. Juli beginnen jährliche Wartungsarbeiten von Nord Stream, die in der Regel zehn Tage dauern. Dann fließt kein Gas durch Nord Stream 1. Die große Sorge ist, dass Russland nach der Wartung den Gashahn nicht wieder aufdreht.

Unterdessen geht die norwegische Regierung davon aus, spätestens ab 2024 noch mehr Gas liefern zu können. «Unternehmen prüfen jetzt Projekte, um ihre Gaslieferungen ab 2024 und 2025 erhöhen zu können», sagte Norwegens Öl- und Energieminister Terje Aasland der Wirtschaftswoche. Die Unternehmen des Landes hätten noch nie so viel Erdgas vom norwegischen Festlandsockel exportiert wie derzeit. «Wir unterstützen unsere europäischen Freunde dabei, so schnell wie möglich unabhängig von russischem Öl und Gas handeln zu können.»

Im Falle eines russischen Gas-Lieferstopps würden dem Präsidenten der Bundesnetzagentur zufolge Privathaushalte ebenso wie Krankenhäuser oder Pflegeheime besonders geschützt. «Ich kann zusagen, dass wir alles tun, um zu vermeiden, dass Privathaushalte ohne Gas dastehen», sagte Müller. «Wir haben aus der Corona-Krise gelernt, dass wir keine Versprechungen geben sollten, wenn wir nicht ganz sicher sind, dass wir sie halten können.» Die Netzagentur sehe allerdings «kein Szenario, in dem gar kein Gas mehr nach Deutschland kommt». Müssten Industriebetriebe von der Gasversorgung getrennt werden, «orientieren wir uns am betriebswirtschaftlichen Schaden, am volkswirtschaftlichen Schaden, an den sozialen Folgen und auch an den technischen Anforderungen des Gasnetzbetriebs», sagte Müller.

Hamburgs Umweltsenator Jens Kerstan (Grüne) allerdings schließt für den Fall eines Gasnotstandes in der Hansestadt eine Begrenzung des Warmwassers für private Haushalte nicht aus. «In einer akuten Gasmangellage könnte warmes Wasser in einem Notfall nur zu bestimmten Tageszeiten zur Verfügung gestellt werden», sagte Kerstan der Welt am Sonntag. Auch eine generelle Senkung der maximalen Raumtemperatur im Fernwärmenetz käme in Betracht. Es werde in Hamburg schon aus technischen Gründen nicht überall möglich sein, im Fall einer Verknappung von Gas zwischen gewerblichen und privaten Kunden zu unterscheiden.

Müller rief alle Haus- und Wohnungsbesitzer auf, ihre Gasbrennwertkessel und Heizkörper rasch zu überprüfen und effizient einstellen zu lassen. «Eine Wartung kann den Gasverbrauch um 10 bis 15 Prozent senken», sagte er. «Das muss jetzt passieren und nicht erst im Herbst.» Um Engpässe bei den Handwerkerterminen zu überwinden, rief er alle Handwerker auf, sich auf Heizung und Warmwasserversorgung zu konzentrieren. Außerdem solle in den Familien jetzt schon darüber geredet werden, «ob im Winter in jedem Raum die gewohnte Temperatur eingestellt sein muss».

Müller warnte vor einer dramatischen Erhöhung der Gaspreise. «Viele Verbraucher werden schockiert sein, wenn sie Post von ihrem Energieversorger bekommen», sagte er den Funke-Zeitungen. «Durch das, was Putin uns bei Nord Stream 1 beschert, ist eine Verdreifachung drin.» Weiterhin mahnte er weitere Entlastungen der Bürger an. «Viele Menschen können selbst minimale zusätzliche Belastungen nicht stemmen.»

Mit einem neuen Mechanismus könnte die Bundesregierung die starken Preissprünge beim Gas gerechter auf die Verbraucher verteilen. Ein Entwurf für eine Änderung des Energiesicherungsgesetzes sieht als zusätzliche Option ein Umlagesystem vor. Damit könne die Belastung «gleichmäßiger» auf die Gesamtheit der Verbraucherinnen und Verbraucher verteilt werden, hieß es in dem Entwurf. Konkret geht es demnach um einen im Wege einer Umlage finanzierten Ausgleich. Diesen würden Gasimporteure bekommen, die derzeit wegen der starken Drosselung russischer Gaslieferungen schwer belastet sind - weil sie Preissprünge nicht an Kunden weitergeben können.

Der frühere Bundespräsident Joachim Gauck hält die Bereitschaft der Bevölkerung, wegen des Krieges in der Ukraine auch persönliche Entbehrungen in Kauf zu nehmen, für groß. Wenn die Politik sich die Mühe mache, detailliert und wahrhaftig auch schwierige Sachverhalte mit der Bevölkerung zu besprechen, dann könnten die Menschen die Sanktionen akzeptieren und lange durchhalten, sagte er der «Neuen Osnabrücker Zeitung» (Samstag). «Man muss Menschen auch etwas zutrauen.»

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
X

DWN Telegramm

Verzichten Sie nicht auf unseren kostenlosen Newsletter. Registrieren Sie sich jetzt und erhalten Sie jeden Morgen die aktuellesten Nachrichten aus Wirtschaft und Politik.
E-mail: *

Ich habe die Datenschutzerklärung gelesen und erkläre mich einverstanden.
Ich habe die AGB gelesen und erkläre mich einverstanden.

Ihre Informationen sind sicher. Die Deutschen Wirtschafts Nachrichten verpflichten sich, Ihre Informationen sorgfältig aufzubewahren und ausschließlich zum Zweck der Übermittlung des Schreibens an den Herausgeber zu verwenden. Eine Weitergabe an Dritte erfolgt nicht. Der Link zum Abbestellen befindet sich am Ende jedes Newsletters.

DWN
Immobilien
Immobilien Wohntraum wird Luxus: Preise schießen in Städten durch die Decke
13.05.2025

Die Preise für Häuser und Wohnungen in Deutschland ziehen wieder deutlich an – vor allem in den größten Städten. Im ersten Quartal...

DWN
Finanzen
Finanzen Wird die Grundsteuer erhöht? Zu viele Ausgaben, zu wenig Einnahmen: Deutsche Kommunen vorm finanziellen Kollaps
13.05.2025

Marode Straßen, Bäder und Schulen: Fast neun von zehn Städten und Gemeinden in Deutschland droht in absehbarer Zeit die Pleite. Bereits...

DWN
Politik
Politik EU im Abseits: Trump bevorzugt London und Peking – Brüssel droht der strategische Bedeutungsverlust
12.05.2025

Während Washington und London Handelsabkommen schließen und die USA gegenüber China überraschend Konzessionen zeigen, steht die EU ohne...

DWN
Panorama
Panorama Nach Corona nie wieder gesund? Die stille Epidemie der Erschöpfung
12.05.2025

Seit der Corona-Pandemie hat sich die Zahl der ME/CFS-Betroffenen in Deutschland nahezu verdoppelt. Rund 600.000 Menschen leiden inzwischen...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Machtkampf der Tech-Eliten: Bill Gates attackiert Elon Musk – „Er tötet die ärmsten Kinder der Welt“
12.05.2025

Ein milliardenschwerer Konflikt zwischen zwei Symbolfiguren des globalen Technologiekapitalismus tritt offen zutage. Der frühere...

DWN
Politik
Politik Pflege am Limit? Ministerin fordert Reform für mehr Eigenverantwortung
12.05.2025

Pflegekräfte sollen mehr dürfen und besser arbeiten können – das fordert Gesundheitsministerin Nina Warken zum Tag der Pflegenden....

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Milliarden ungenutzt: Irischer Top-Investor fordert Einsatz von Pensionsgeldern zur Stärkung europäischer Technologie
12.05.2025

Die europäische Technologiebranche droht im globalen Wettbewerb ins Hintertreffen zu geraten. Der Grund: Staatlich geförderte...

DWN
Politik
Politik Geheime Waffenlieferungen: Kritik an Intransparenz – Ukrainischer Botschafter lobt Merz’ Kurs
12.05.2025

Die neue Bundesregierung unter Friedrich Merz hat entschieden, Waffenlieferungen an die Ukraine künftig wieder geheim zu halten – ein...