Finanzen

Kampf gegen Inflation: Die EZB steuert auf eine neue Eurokrise zu

Lesezeit: 4 min
03.07.2022 11:50  Aktualisiert: 03.07.2022 11:50
Die EZB ist in der Zwickmühle. Wenn sie die Inflation bekämpfen will, muss sie ihr Anleihekaufprogramm stoppen. Doch schon die bloße Ankündigung dessen hat die Zinsen auf südeuropäische Staatsanleihen in die Höhe schnellen lassen. Die Angst vor einer neuen Euro-Krise geht um.
Kampf gegen Inflation: Die EZB steuert auf eine neue Eurokrise zu
Scheitert der Drahtseilakt der EZB, könnte die Eurozone in Flammen aufgehen. (Foto: iStock.com/photoschmidt)
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Anfang Juni hatte die Europäische Zentralbank (EZB) die Abkehr von ihrer jahrelangen Nullzinspolitik angekündigt. Auf ihrer Ratssitzung hatten die Währungshüter bekanntgegeben, sie „beabsichtigen“ auf ihrer nächsten Sitzung am 21. Juli den Leitzins um 25 Basispunkte anzuheben – was der geringstmöglichen Zinsanhebung um 0,25 Prozent entspricht. Zudem hatte die EZB angekündigt, das Anleihekaufprogramm ab 1. Juli auslaufen zu lassen. Die ausufernde Inflation im Euroraum hatte die Währungshüter zu diesem Schritt gezwungen. Im Mai war die Inflationsrate im Euroraum auf den Rekordwert von 8,1 Prozent gestiegen – und lag damit vier Mal so hoch wie die EZB-Zielmarke von 2 Prozent.

Zinswende löst Angst vor einer neuen Euro-Krise aus

Die Anleihemärkte reagierten schockiert auf die EZB-Ankündigung, die Zinsen zum ersten Mal seit elf Jahren zu erhöhen und das Anleihekaufprogramm ab Juli auslaufen zu lassen. Die steigenden Zinsen treffen auf hohe Schuldenstände in Südeuropa. Die Pandemie hat die Staatsschulden in Frankreich, Griechenland, Italien, Spanien und Portugal in die Höhe getrieben. In all diesen Ländern liegt die Schuldenquote schon weit über 100 Prozent. Die angekündigte Zinswende und die Beendigung des Anleihekaufprogramms drohen nun die Spreads zwischen südeuropäischen und deutschen Staatsanleihen weiter zu vergrößern. Während Deutschland sich weiter günstig finanzieren kann, könnten steigende Anleihezinsen in Südeuropa eine neue Euro-Krise auslösen.

Die Zinsen auf italienische Staatsanleihen kletterten zuletzt auf über 4 Prozent und lagen damit so hoch wie vor acht Jahren. Im August 2021 lagen die Zinsen noch bei 0,6 Prozent. Das bringt den italienischen Staat unter enormen Druck, denn er muss nun deutlich mehr bezahlen, um sich neu zu finanzieren. Zudem belastet die Zinswende auch die ohnehin angeschlagenen italienischen Banken. Sie sind die Hauptabnehmer der Staatsanleihen, die in ihren Bilanzen laut italienischem Bankenverband mit 422 Milliarden Euro zu Buche schlagen. Dadurch geht das Schreckgespenst vom italienischen Staatsbankrott wieder um. Zuletzt stieg die Staatsverschuldung Italiens wieder über 150 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt (BIP).

EZB erneuert Mario Draghis „Whatever it takes“

Das Problem betrifft jedoch die gesamte Eurozone. Italien ist gemessen am BIP die achtgrößte Volkswirtschaft der Welt. Schon jetzt machen italienische Staatsschulden ein Viertel aller Schulden in der Eurozone aus. Ein Staatsbankrott Italiens hätte unweigerlich ein Scheitern der gesamten Eurozone zur Folge. Das wissen auch die Währungshüter in Frankfurt. Deshalb bemühte sich die EZB auch umgehend, die Wogen an den Anleihemärkten zu glätten. Zwar war auch vorher schon klar, dass das Anleihekaufprogramm nicht vollends eingestellt werden soll. In fällig werdende Anleihen wollte die EZB noch bis mindestens 2024 reinvestieren. Doch angesichts der Turbulenzen an den Anleihemärkten ging die Zentralbank noch einen Schritt weiter.

In einer Sondersitzung gab die EZB bekannt, dass sie die ihrer Ansicht nach „ungerechtfertigten“ Zinsaufschläge eindämmen wolle, um eine „Zersplitterung“ der Eurozone zu verhindern. Dafür solle ein „Anti-Fragmentierungsinstrument“ geschaffen werden, dass es der Zentralbank auch weiterhin ermöglichen soll, „vorübergehend“ Staatsanleihen angeschlagener Volkswirtschaften aufzukaufen. Diese Ankündigung war nichts Geringeres als eine Beteuerung, dass das von Ex-EZB-Präsident (und dem heutigen italienischen Ministerpräsidenten) Mario Draghi ausgerufene „Whatever it takes“ weiterhin Bestand hat. Mit anderen Worten: Das Geld wird weiter von Nord- nach Südeuropa fließen, koste es, was es wolle. Die Ankündigung hatte den gewünschten Effekt: die Spreads zwischen zehnjährigen deutschen und italienischen Staatsanleihen gingen auf zwei Prozent zurück. Damit wird es für Italien kurzfristig wieder etwas erschwinglicher, sich frisches Kapital an den Märkten zu beschaffen.

Das dürfte jedoch vor allem in Deutschland auf wenig Gegenliebe treffen, denn schon seit langem geht hierzulande die Kritik an der indirekten Staatsfinanzierung Südeuropas durch die EZB um. Entsprechende Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) waren allerdings bereits 2018 gescheitert. Der EuGH stellte in seinem Urteil fest, dass die Anleihekäufe und die damit verbundenen Eingriffe in die Fiskalpolitik verhältnismäßig waren. Der oberste Gerichtshof winkte die Anleihekäufe allerdings unter einer Bedingung durch: Die EZB müsse ihr gesetzliches Mandat erfüllen und die Inflationsrate in der Nähe von 2 Prozent halten.

Der gewagte Drahtseilakt zwischen Inflation und Euro-Krise

Nun allerdings liegt die Inflation laut europäischer Statistikbehörde Eurostat über 8 Prozent auf einem Allzeithoch, maßgeblich ausgelöst durch die Geldpolitik des letzten Jahrzehnts. Die EZB steht damit vor einer ihrer schwierigsten Entscheidungen. Entweder sie beendet die Niedrigzinspolitik und das Ankaufprogramm für südeuropäische Staatsanleihen, um die ausufernde Inflation in den Griff zu bekommen. Das würde jedoch den Zusammenhalt des Euroraums und eine neuerliche Eurokrise riskieren. Oder sie setzt das Anleihekaufprogramm fort, um eine drohende Eurokrise abzuwenden. Dafür riskiert sie aber, dass die Inflation weiter steigt und Verbrauchern wie Produzenten gleichermaßen schweren Schaden zufügt.

Die hohe Inflation hat dabei nicht nur negative Folgen für die hoch verschuldeten südeuropäischen Staaten, denn sie führt auch zu höheren Einnahmen durch gestiegene Verbraucherpreise. Zwar handelt es sich dabei nicht um eine reale Erhöhung des Wirtschaftswachstums, aber es könnte verhindern, dass Italiens Schuldenlast weiterhin stark steigt. Außerdem hat die hohe Inflation den Nebeneffekt, dass sie – bei weiter geringen Zinsen – einen Teil der Schuldenlast weginflationieren. Und dank der Intervention der EZB kann sich Italien auch in Zukunft weiter refinanzieren. Doch die Rechnung geht nur dann auf, wenn der EuGH die Anleihekäufe weiterhin durchwinkt, obwohl die EZB ihrem gesetzlichen Mandat nicht mehr ausreichend nachkommt – und daran melden einige Experten berechtigte Zweifel an.

Derweil versucht die EZB die Märkte und ihre Kritiker an der Inflationsfront zu beruhigen. Ihre Prognose der Inflationsrate für 2023 liegt bei 2,1 Prozent und damit im Rahmen ihres Mandats zur Preisstabilität. Das Signal ist klar: die höhere Inflation ist nur von kurzer Dauer. Zwar lag die EZB in der Vergangenheit mit ihrer Behauptung, die höhere Inflation sei nur „vorübergehend“, schon einmal spektakulär daneben. Doch das hindert sie nicht daran, diesen Mythos weiter zu bekräftigen. Wie die EZB dieses Ziel erreichen will, wenn sie die Anleihekäufe unter neuem Namen fortsetzt und die Zinswende viel zu spät kommt und viel zu gering ausfällt, bleibt jedoch völlig unklar.

Es ist ein Tanz auf dem Vulkan: Die EZB hofft, dass die Verschleppung der Zinswende bei gleichzeitig hoher Inflation das Schuldenproblem Südeuropas mindert. So lange setzt sie ihr Anleihekaufprogramm fort und hilft diesen Staaten bei ihrer Refinanzierung – vorausgesetzt der Europäische Gerichtshof schiebt dem Ganzen keinen Riegel vor. Dazu setzt sie darauf, dass die Inflation ab dem nächsten Jahr wieder fällt, bevor die starken Preisanstiege die Bürger auf die Straße treiben und die Volkswirtschaften der Eurozone in die Knie zwingen. Geht die Strategie auf, hat sie ihr gesetzliches Mandat erfüllt und eine drohende Euro-Krise abgewendet. Doch scheitert der Drahtseilakt, könnte die Eurozone in Flammen aufzugehen. Dann hätte Europa nicht nur mit einer unkontrollierten Inflation zu kämpfen, sondern auch mit einer neuen Euro-Krise. Nur das diese Euro-Krise dann aufgrund der Größe der italienischen Volkswirtschaft um einige Dimensionen schlimmer wäre als die letzte.

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André Jasch ist freier Wirtschafts- und Finanzjournalist und lebt in Berlin.  


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