Wirtschaft

Historisches Handelsdefizit: „Rohstoff-Zeitalter“ bedroht Deutschlands Wohlstand

Der „Exportweltmeister“ Deutschland erzielt ein historisches Defizit - ein Fingerzeig, wohin die Reise im nun angebrochenen „Rohstoff-Zeitalter“ gehen dürfte.
05.07.2022 11:23
Aktualisiert: 05.07.2022 11:23
Lesezeit: 4 min

Erstmals seit mindestens 14 Jahren hat Deutschland im Handel mit anderen Ländern ein Handelsdefizit verzeichnet - es wurden wertmäßig also mehr Waren und Dienstleistungen importiert als exportiert. Die Einfuhren legten im Mai gegenüber dem Vorjahresmonat um 27,8 Prozent auf 126,7 Milliarden Euro zu, wie das Statistische Bundesamt am Montag in Wiesbaden mitteilte. Die Ausfuhren stiegen zwar ebenfalls - um 11,7 Prozent auf 125,8 Milliarden Euro - die Außenhandelsbilanz schloss dadurch aber kalender- und saisonbereinigt mit einem Minus von rund einer Milliarde Euro.

Der Trend lässt sich auch auf Monatsbasis ablesen: So verringerten sich gegenüber dem Vormonat April die Warenausfuhren im Mai um 0,5 Prozent, die Importe stiegen dagegen um 2,7 Prozent. Nach Angaben der Wiesbadener Behörde war es das erste Handelsbilanzdefizit in einem Monat seit Januar 2008. Die Zahlen vor 2008 seien wegen einer Umstellung der Statistik nicht vergleichbar, so die Behörde.

Zeitenwende: hohe Inflation und Rohstoff-Knappheit

Der dem langfristigen Trend widersprechenden Umkehrung in der Handelsbilanz zu Grunde liegt eine Zeitenwende, die sich derzeit in der Weltwirtschaft und im Welthandel Bahn bricht. Diese Zeitenwende wird von zahlreichen Faktoren vorangetrieben. Die mit Abstand wichtigsten davon sind:

1. die an Dynamik zunehmende geopolitische Konfrontation des von den Vereinigten Staaten und Großbritannien angeführten „Westens“ und der Nato mit Russland, China und weiteren Staaten des „Globalen Südens“ samt Verhängung von weitreichenden Wirtschaftssanktionen und als Gegenbewegung dem Aufbau konkurrierender wirtschaftlicher und politischer (Infra-)Strukturen und Organisationen (BRICS, Schanghaier Kooperationsorganisation, Chinas „Neue Seidenstraße“, Eurasische Wirtschaftsunion etc.) durch China und Russland sowie weiteren Staaten.

2. die durch Corona-Lockdowns verursachten Brüche in den weltumspannenden Lieferketten und infolge der Pandemie entstandene ressourcenmäßige Ungleichgewichte (ein anschauliches Beispiel dafür ist der akute Personalmangel an deutschen Flughäfen, der sich derzeit in massiven Störungen des Betriebs entlädt).

3. die weltweit - insbesondere aber in Europa - vorangetriebene „Energiewende“, also der Umbau der Strom- und Primärenergieversorgung weg von fossilen steuerbaren aber endlichen Quellen hin zu alternativen, regenerativen aber schwankungsanfälligen Quellen (Problem der „Dunkelflauten“).

Diese drei fundamentalen Faktoren führen letzten Endes zu zwei maßgeblichen Entwicklungen, welche die kommenden Jahre in wirtschaftlicher Hinsicht prägen dürften: Zum einen zu anhaltenden Knappheiten bei wichtigen Rohstoffen und Ressourcen. Zum anderen zu deutlich steigenden Preisen, also einer vergleichsweise starken Geldentwertung mit hohen Inflationsraten.

In diesem neuartigen Umfeld gerät das auf günstige Energie- und Rohstoffimporte und den Verkauf hochwertiger (Vor-)Produkte abgestützte deutsche Wirtschaftsmodell in Schieflage. Konkret heißt das: die zum Bau komplexer Maschinen, Anlagen, Autos oder Spezialwerkzeuge benötigten Rohstoffe sind entweder kaum noch erhältlich oder sehr teuer geworden. Die unvermeidliche Weitergabe der gestiegenen Inputkosten an die Kunden führt tendenziell zu einer schwächeren Nachfrage.

Darüber hinaus haben die „Energiewende“ und zahlreiche Klima-Auflagen wie beispielsweise die in Deutschland seit Jahresbeginn 2021 greifende CO2-Sonderabgabe dazu geführt, dass die Energieversorgung zunehmend instabil wird und die Produktionskosten fossil betriebener Fabriken politisch gewollt noch weiter steigen - was sich ebenfalls negativ auf den Wirtschaftsstandort Deutschland auswirken muss.

Deutschland ist angesichts fehlender eigener Öl- und Gas-Vorkommen (Kohlelagerstätten sind noch vorhanden) zudem äußerst abhängig von Energieimporten aus dem Ausland und die ohnehin seit Jahren merklich steigenden Preise für Rohöl, Ölderivate, Kohle und Erdgas sind seit Beginn des Ukraine-Krieges noch einmal spürbar gestiegen.

Die auf einem starken Exportgeschäft gründenden hohen Handelsüberschüsse der deutschen Volkswirtschaft könnten also erst einmal der Vergangenheit angehören - mit möglicherweise weitreichenden Konsequenzen für die gesamte Volkswirtschaft.

„Der Exportabschwung ist eingeläutet“

„Der Exportabschwung ist eingeläutet“, zitiert die Nachrichtenagentur dpa Volker Treier, den Außenwirtschaftschef des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK). „Die Exporteure sind immer weniger in der Lage, die durch Lieferketten bedingten Kostensteigerungen an internationale Kunden weiterzureichen.“ Außerdem kämen wichtige Importgüter zur notwendigen Weiterverarbeitung häufig nicht an, insbesondere wegen der Corona-Lockdowns in China. Ein Ende der Preissteigerungen und Lieferkettenprobleme sei nicht in Sicht, so Treier.

Der Branchenverband BGA stimmt der negativen Einschätzung des DIHK zu. Derzeit würden die Exporte vor allem durch ein Plus im Handel mit den USA getragen, sagte der Präsident des Bundesverbandes Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen (BGA), Dirk Jandura. „Die Folgen des russischen Angriffskriegs und die Störungen in den internationalen Lieferketten werden auch im Außenhandel noch wesentlich stärkere Spuren hinterlassen.“ Die Auftragsbücher der Unternehmen seien zwar noch gefüllt, aber die Bestellungen würden seltener. „Und die Lage kann noch dramatischer werden, sollte es zu einem Abbruch der Gaslieferungen aus Russland kommen. Daher ist mehr Freihandel alternativlos“, sagte Jandura.

Bemerkenswert erscheint, dass sich auch das Handelsdefizit der Eurozone ausweitet. Gegenüber dem Vormonat sei das saisonbereinigte Defizit im April um 13,9 Milliarden auf 31,7 Milliarden Euro gestiegen, teilte das Statistikamt Eurostat vor Kurzem mit. Das ist das mit Abstand höchste Defizit im Außenhandel seit Bestehen des europäischen Währungsraums und spiegelt die durch Sanktionen, Lieferkettenbrüche und Rohstoff-Knappheiten induzierten Preissteigerungen wieder. Schon im Vormonat März hatte die Handelsbilanz der Eurozone ein rekordhohes Defizit ausgewiesen.

Im April stiegen zwar die Ausfuhren um bereinigt 1,5 Prozent an, wie Eurostat weiter mitteilte. Die Einfuhren erhöhten sich wertmäßig aber um 7,1 Prozent. Eurostat verweist auch in diesem Zusammenhang auf einen starken Anstieg der Kosten der Energieimporte.

Folglich stiegen im Mai auch die Preise, die Hersteller für ihre Waren erhalten, zum Vorjahresmonat um 36,3 Prozent, wie das Statistikamt Eurostat mitteilte. Im Vormonat lag das Wachstum bei 37,2 Prozent.

Besonders stark steigen die Herstellerpreise mit 94 Prozent im Energiesektor. Der Preisauftrieb bei Vorprodukten ging leicht zurück, verharrte mit 25 Prozent aber auf hohem Niveau.Verbrauchs- und Investitionsgüter verteuerten sich ebenfalls weiter.

Die Erzeugerpreise zeigen den Preisdruck auf Herstellerebene, indem sie die Verkaufspreise der Produzenten erfassen. Die Entwicklung schlägt teilweise und mit Zeitverzug auf die Verbraucherpreise durch.

„Quo Vadis?“

Der Ökonom Folker Hellmeyer fasst die Zeitenwende in seinem aktuellen Report mit folgenden Worten knapp zusammen:

„Diese Entwicklung zahlt auf die Folgen der Ukraine-Krise ein. Sollte sie sich fortsetzen, werden die dauerhaft verteuerten Importe bei gleichzeitiger Erosion der Attraktivität als Investitionsstandort neben den Folgen reduzierter Exportmärkte als Konsequenz der Teilung der Welt Flurschäden bisher ungekannten Ausmaßes hinsichtlich der Historie seit 1949 mit sich bringen. Das gilt nicht nur für Deutschland, es gilt für das westliche Europa. „Quo vadis?“ Ist den Verantwortlichen ihre Verantwortung bewusst? Sind ihnen die gesellschaftspolitischen und politischen Folgen bewusst?“

*****

Die Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes finden Sie hier.

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