Deutschland ist nicht mehr in der Rangliste der 100 wertvollsten Unternehmen der Welt vertreten. Das ergab eine Datenerhebung der Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft Ernst & Young (EY). Der wertvollste deutsche Konzern ist der Software-Anbieter SAP mit einem Börsenwert von 106 Milliarden US-Dollar auf Rang 113. Die Telekom schafft es mit einem Börsenwert von 98 Milliarden US-Dollar auf Rang 120. Der Industriegaskonzern Linde belegt Rang 74, hat aber seit der Fusion mit Praxair seinen Hauptsitz in Irland.
Zum Jahresende 2007 fanden sich immerhin sieben deutsche Unternehmen unter den Top 100, Ende 2021 waren es noch zwei. Am Kapitalmarkt werden Zukunftserwartungen gehandelt. Der Kapitalmarkt fällt damit ein ziemlich vernichtendes Urteil für die langfristige Zukunft der deutschen Wirtschaft.
Die aktuelle Energiekrise ist dabei ein zentrales Element. „Wir leben in einem energetischen Zeitalter. Ohne Energie geht nichts, gar nichts. Deutschland ist der energieintensivste Industriestandort der Welt (Hintergrund Fertigungstiefe). Dieser Sektor ist das Rückgrat Deutschlands. Das Risiko, dass Deutschland sich durch unsere eigene Politik verstümmelt, ist als hoch zu bewerten.“, führt der Analyst Folker Hellmayer in seinem täglichen Report aus. Was auch nicht hilft: Deutschlands Exportmodell (Anteil am BIP grob 50 Prozent) ist besonders anfällig gegenüber einer drohenden Rezession der Weltwirtschaft.
Aber die Probleme sind vielfältiger und bei weitem nicht auf die Energiekrise, mangelnde Versorgungs-Sicherheit und die schwächelnde Weltkonjunktur beschränkt. Spitzenreiter ist Deutschland nämlich an genau den falschen Stellen. Schon seit vielen Jahren ächzt das Land unter exorbitanten Strompreisen (hier ist man globale Nummer eins) im Zuge einer überambitionierten Energiewende. Die demografische Situation ist mit einem Durchschnittsalter von 47,8 Jahren (weltweit Platz 2 hinter Japan) verheerend. Bei Lohnsteuern, Sozialabgaben und regulatorischen Kosten kann kaum ein Land der Welt mit Deutschland mithalten. All diese Faktoren schaffen Anreize für Unternehmen, ihren Sitz und ihre Produktionsstätten in andere Länder zu verlegen. Die Produktivität wächst seit 20 Jahren nur noch geringfügig (ein großes Problem in ganz Europa und teils Nordamerika) und die Entwicklung der Reallöhne wies schon vor der explodierenden Inflation einen negativen Trend auf.
Europa fällt zurück
Die Energiekrise und fundamentalen Probleme Deutschlands teilen viele Länder Europas – wenn auch meistens in geringerem Maße. Kein einziger europäischer Konzern schafft es unter die Top 10. Das wertvollste europäische Unternehmen ist aktuell der Schweizer Nahrungsmittelkonzern Nestle auf Rang 20. Ein wichtiger Faktor ist hier, dass es in Europa kaum große Player im Tech-Bereich gibt. Von den aktuell 23 Technologieunternehmen im Top-100-Ranking haben 17 ihren Hauptsitz in Nordamerika, vier in Asien und nur zwei in Europa.
Henrik Ahlers, Vorsitzender der Geschäftsführung von EY, kommentiert das folgendermaßen: „Europa leidet aus Sicht vieler Investoren nach wie vor unter einem Mangel an vielversprechenden Technologiekonzernen von Weltformat. Die USA geben im IT-Sektor eindeutig den Ton an, viele dieser Tech-Unternehmen sind hochprofitabel und treiben die Digitalisierung der Wirtschaft und aller Lebensbereiche mit Macht voran. Als Gestalter dieses technologischen Wandels spielen allenfalls noch asiatische Konzerne eine Rolle – europäische Konzerne hingegen kaum, und das spiegelt sich im Börsenranking deutlich wider.“
Nicht zuletzt der Digitalisierungstrend hat das Gewicht Europas an den Weltbörsen in den letzten Jahren schrumpfen lassen: Vor der Finanzkrise Ende 2007 kamen noch 46 der 100 wertvollsten Unternehmen der Welt aus Europa. Inzwischen sind es nur noch 16.
„Die schwache Aufstellung Europas und Deutschlands gerade im Technologiesegment sollte uns zu denken geben“, so Ahlers. Er führt die starke Entwicklung gerade in den USA auf die höhere Risikobereitschaft amerikanischer Unternehmensgründer, die hohe gesellschaftliche Akzeptanz des Unternehmertums sowie die teilweise deutlich besseren Finanzierungsbedingungen zurück. Europa habe in all diesen Bereichen massiven Nachholbedarf.
Ganz besonders in Deutschland gibt es so gut wie keine Börsenkultur, was sich in einer unverhältnismäßig niedrigen Anzahl von Börsengängen widerspiegelt. Der Standort Deutschland ist nicht sonderlich attraktiv für Startups. Zwar gibt es hierzulande viele Hidden Champions (unbekannte Weltmarktführer), aber diese bleiben im Mittelstand verhaften – das Kapital von Kleinsparern kann überhaupt nicht in diese Firmen investiert werden.
Ahlers sieht allerdings große Chancen für deutsche Konzerne, mittelfristig zu den Gewinnern der Digitalisierung zu gehören: „Die Digitalisierung birgt gerade für einen Industrie- und Hochlohnstandort wie Deutschland grundsätzlich enorme und derzeit teils noch ungenutzte Potenziale. Die Art und Weise, wie in Zukunft produziert wird, wird sich weiter verändern. Deutsche Industriekonzerne können diese Entwicklung entscheidend prägen.“
Saudischer Ölkonzern führt das Ranking an
US-Konzerne sind im Ranking weiterhin dominant. Neun der Top 10 und 60 der Top 100 wertvollsten Konzerne kommen aus den USA. Das wertvollste Unternehmen der Welt ist aktuell der saudische Ölkonzern Saudi Aramco. Knapp dahinter auf Platz 2 steht der Tech-Riese Apple. Danach folgen Microsoft, Alphabet (Google-Mutterkonzern), Amazon, Tesla, Berkshire Hathaway, UnitedHealth, Johnson & Johnson und Meta (ehemals Facebook).
Der Einbruch an den Börsen hat Technologiewerte besonders hart getroffen – ihre Marktkapitalisierung unter den Top 100 sank um 28 Prozent. Der Energiesektor ist die einzige Branche, die seit Jahresbeginn in der Bewertung gestiegen ist. Die Öl- und Gasunternehmen unter den Top 100 steigerten ihren Börsenwert um 19 Prozent.
EY untersucht halbjährlich die Marktkapitalisierung der am höchsten bewerteten Unternehmen weltweit. Stichtag für die vorliegende Analyse war der 30.06.2022.