Deutschland

Impfnebenwirkungen: TK meldet fast eine halbe Million Behandlungen in 2021

Die Debatte um Impfnebenwirkungen der Corona-Impfstoffe nimmt wieder Fahrt auf. Die Techniker Krankenkasse musste nun Daten offenlegen, die ein alarmierendes Signal senden.
Autor
avtor
14.08.2022 08:18
Lesezeit: 3 min

Die Techniker Krankenkasse hat kürzlich die Abrechnungsdaten zu Impfnebenwirkungen aus dem Jahr 2021 offengelegt. Demnach wurden aufs gesamte Jahr betrachtet rund 440.000 Fälle, die im Zusammenhang mit Impfnebenwirkungen stehen, abgerechnet. Die TK ist Deutschlands größte Krankenkasse mit rund 11 Millionen Versicherten.

Bürger zwingt Techniker Krankenkasse zur Auskunft über Impfnebenwirkungen

Die Auskunft erfolgte nach einer Bürgeranfrage auf Basis des Informationsfreiheitsgesetzes (IFG).

Der komplette Dialog zwischen der Krankenkasse und dem – offensichtlich rechtskundigen – Antragsteller kann auf der Seite FragDenStaat nachverfolgt werden. Der Antrag wurde bereits Ende Februar 2022 gestellt. Der Antragsteller wollte „für die Jahre 2019 bis heute die Quartalsabrechnungszahlen pro Person für die ICD-Codes T 88.1, T 88.0, U 12.9, Y 59.9“ wissen. Hinter diesen vier Codierungen verbergen sich folgende Abrechnungen: „Sonstige Komplikationen nach Impfung (Immunisierung), andernorts nicht klassifiziert“ (T88.1), „Infektion nach Impfung (Immunisierung) und/oder Sepsis“ (T88.0), „Unerwünschte Nebenwirkungen bei der Anwendung von COVID-19-Impfstoffen, nicht näher bezeichnet“ (U12.9) sowie „Komplikationen durch Impfstoffe oder biologisch aktive Substanzen“ (Y59.9).

Diese Liste kann sowohl schwere Impfnebenwirkungen wie etwas Herzmuskelentzündungen, Gesichtslähmungen oder Post-Vac-Syndrom beinhalten, als auch leichte und übliche Impfreaktionen wie Fieber oder eine Rötung an der Einstichstelle. Die Daten sagen also erst einmal nichts über den Schweregrad der Impfnebenwirkungen aus. Als „schwerwiegend“ definiert das Arzneimittelgesetz Nebenwirkungen, die tödlich oder lebensbedrohend sind, eine stationäre Behandlung erfordern oder zu bleibenden Schäden führen. Schwerwiegende Nebenwirkungen sind laut Infektionsschutzgesetz meldepflichtig, wenn sie „über das übliche Maß einer Impfreaktion hinausgehen“. Das Bundesgesundheitsministerium geht davon aus, dass es bei 1 von 5.000 Impfdosen zu einer schweren Nebenwirkung kommt.

Zunächst sicherte die TK dem Antragsteller zu, man wolle den Vorgang „so schnell wie möglich“ bearbeiten. Doch stattdessen wurde der Antragsteller in kafkaesker Manier von einem Sachbearbeiter zum nächsten geschoben. Dann berief sich die TK erst auf Datenschutz und sendete dem Antragsteller schließlich ungefragt eine Auflistung all seiner Arztbesuche zu. Die Bearbeitung des Antrags verzögerte sich so lange, bis der Antragsteller schließlich im Mai den Bundesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit einschaltete. Erst auf Druck des Datenschutzbeauftragten hin lieferte die TK schließlich nach zwei weiteren Monaten Ende Juli die angefragten Abrechnungsdaten.

Darin räumte die TK ein, dass über die oben genannten Codierungen insgesamt 437.593 Fälle abgerechnet wurden – rund 100.000 pro Quartal. Zum Vergleich: In den Jahren 2019 und 2020 kam es zusammen genommen nur zu 28.821 solcher Fälle. Bis Ende 2020 wurden nur etwa 4.000 Fälle von Impfnebenwirkungen pro Quartal abgerechnet. Das könne zwar teilweise damit erklärt werden, dass viel mehr geimpft worden sei, so der Antragsteller. Aber das wiederum sei Teil des Problems, denn „je mehr für einen bestimmten Nutzen geimpft werden muss, desto schlechter wird das Nutzen-Schaden-Verhältnis.“

Eine Anfrage an die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) vom März 2022 (KBV) brachte Zahlen in vergleichbarer Dimension ans Licht. Demnach wurden der KBV 2021 rund 2,5 Millionen Fälle von Impfnebenwirkungen behandelt bei etwa 172 Millionen verabreichten Impfdosen. 2020 waren es rund 76.000 bei etwa 30 Millionen verabreichten Dosen, ein Jahr zuvor rund 70.000 Nebenwirkungen bei etwa 25 Millionen verabreichten Dosen. Demnach stieg mit Beginn der Corona-Impfkampagne die Anzahl der behandelten Nebenwirkungen pro Dosis von etwa 0,3 Prozent auf 1,4 Prozent.

TK-Daten zu Impfnebenwirkungen decken sich mit Zahlen der BKK-Provita

Die TK-Anfrage steht im zeitlichen Zusammenhang zu einer ähnlichen Veröffentlichung zu Abrechnungsdaten von Impfnebenwirkungen bei der Krankenkasse BKK Pro Vita. Der damalige BKK-Vorstand Andreas Schöfbeck hatte sich mit alarmierenden Zahlen an die Öffentlichkeit gewandt. Nach einer großangelegten internen Untersuchung der Betriebskrankenkassen mit rund 11 Millionen Versicherten kam Schöfbeck zu dem Schluss, dass es „eine sehr erhebliche Unterfassung von Verdachtsfällen für Impfnebenwirkungen“ gebe.

„Unsere Abfrage beinhaltet die gültigen ICD-Codes für Impfnebenwirkungen. Diese Auswertung hat ergeben, obwohl uns noch nicht die kompletten Daten für 2021 vorliegen, dass wir anhand der vorliegenden Zahlen jetzt schon von 216.695 behandelten Fällen von Impfnebenwirkungen nach Corona-Impfung aus dieser Stichprobe ausgehen“, sagte Schöfbeck im Februar diesen Jahres. „Wenn diese Zahlen auf das Gesamtjahr und auf die Bevölkerung in Deutschland hochgerechnet werden, sind vermutlich 2,5-3 Millionen Menschen in Deutschland wegen Impfnebenwirkungen nach Corona-Impfung in ärztlicher Behandlung gewesen.“

Schöfbecks Hochrechnungen decken sich in etwa mit den TK-Zahlen. Auf Basis der rund 11 Millionen TK-Versicherten wären hochgerechnet rund 3,3 Millionen Bürger aufgrund von Impfnebenwirkungen bei ihrem Arzt in Behandlung gewesen. Damit läge die Zahl der Impfnebenwirkungen rund 1000 Mal höher als vom Paul-Ehrlich-Institut (PEI), der zuständigen Behörde für Arzneimittelsicherheit, angegeben. Die massive Diskrepanz führte der BKK-Vorstand im Februar vor allem auf das in Deutschland geltende Meldesystem zurück. Die Meldungen an das PEI seien für Ärzte zeitaufwendig und würden nicht finanziell entschädigt.

Die BKK-Veröffentlichung löste teils heftige Reaktionen in der breiten Öffentlichkeit aus. Dr. Dirk Heinrich, Bundesvorsitzender der Virchow-Kliniken, nannte sie „undifferenzierte Schwurbelei“ und kommentierte den BKK-Bericht in einer Pressemitteilung wie folgt: „Peinliches Unwissen oder hinterlistige Täuschungsabsicht – was davon den Vorstand der BKK ProVita bewogen hat, vor angeblichen Alarmzahlen bei Impfkomplikationen zu warnen, weiß ich nicht. Die Schlussfolgerungen aus der Datenlage sind jedenfalls kompletter Unfug.“

Schöfbeck wurde von seinen Kritikern unter anderem vorgeworfen, schwere Impfnebenwirkungen (die beim PEI meldepflichtig sind) mit erwartbaren Nebenwirkungen bei einer Impfung (wie z.B. Rötungen an der Einstichstelle, Fieber oder Gliederschmerzen) zu vermischen. Außerdem würden die BKK-Daten nichts über den Schweregrad der Nebenwirkungen aussagen. Schöfbeck wollte die Daten mit dem PEI offiziell diskutieren, doch dazu kam es nicht mehr. Noch bevor ein Gespräch zwischen dem BKK-Vorstand und Vertretern des PEI zustande kam, wurde Schöfbeck als Vorstand fristlos gekündigt.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
X

DWN Telegramm

Verzichten Sie nicht auf unseren kostenlosen Newsletter. Registrieren Sie sich jetzt und erhalten Sie jeden Morgen die aktuellesten Nachrichten aus Wirtschaft und Politik.
E-mail: *

Ich habe die Datenschutzerklärung gelesen und erkläre mich einverstanden.
Ich habe die AGB gelesen und erkläre mich einverstanden.

Ihre Informationen sind sicher. Die Deutschen Wirtschafts Nachrichten verpflichten sich, Ihre Informationen sorgfältig aufzubewahren und ausschließlich zum Zweck der Übermittlung des Schreibens an den Herausgeber zu verwenden. Eine Weitergabe an Dritte erfolgt nicht. Der Link zum Abbestellen befindet sich am Ende jedes Newsletters.

avtor1
André Jasch

                                                                            ***

André Jasch ist freier Wirtschafts- und Finanzjournalist und lebt in Berlin.  

DWN
Immobilien
Immobilien Bauzinsen aktuell weiterhin hoch: Worauf Häuslebauer und Immobilienkäufer jetzt achten sollten
12.07.2025

Die Zinsen auf unser Erspartes sinken – die Bauzinsen für Kredite bleiben allerdings hoch. Was für Bauherren und Immobilienkäufer...

DWN
Finanzen
Finanzen Checkliste: So vermeiden Sie unnötige Kreditkarten-Gebühren auf Reisen
12.07.2025

Ob am Strand, in der Stadt oder im Hotel – im Ausland lauern versteckte Kreditkarten-Gebühren. Mit diesen Tricks umgehen Sie...

DWN
Technologie
Technologie Elektrische Kleinwagen: Kompakte Elektroautos für die Innenstadt
12.07.2025

Elektrische Kleinwagen erobern die Straßen – effizient, kompakt und emissionsfrei. Immer mehr Modelle treten an, um Verbrenner zu...

DWN
Finanzen
Finanzen Elterngeld: Warum oft eine Steuernachzahlung droht
12.07.2025

Das Elterngeld soll junge Familien entlasten – doch am Jahresende folgt oft das böse Erwachen. Trotz Steuerfreiheit lauert ein...

DWN
Finanzen
Finanzen Krypto ersetzt Börse: Robinhood bietet Token-Anteile an OpenAI und SpaceX
12.07.2025

Die Handelsplattform Robinhood bringt tokenisierte Beteiligungen an OpenAI und SpaceX auf den Markt. Doch was wie ein Investment klingt,...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Meta-KI: Facebook-Mutter wirbt KI-Top-Talente von OpenAI ab – Altman schlägt Alarm
12.07.2025

Der KI-Krieg spitzt sich zu: Meta kauft sich Top-Talente, OpenAI wehrt sich mit Krisenurlaub – und Europa droht im Wettrennen um die...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Deindustrialisierung: Ostdeutsche Betriebsräte fordern Ende von Habecks Energiewende - Industriestandort gefährdet
11.07.2025

Nach dem Verlust von über 100.000 Industriearbeitsplätzen richten ostdeutsche Betriebsräte einen dramatischen Appell an Kanzler Merz....

DWN
Technologie
Technologie Start-up ATMOS Space Cargo setzt neue Maßstäbe: Deutsche Logistik erobert den Weltraum
11.07.2025

Fracht ins Weltall zu bringen, ist eine Herausforderung. Eine noch größere ist es, sie wieder unversehrt zur Erde zurückzubringen....