Am Mittwoch erhob der Staatsanwalt von Istanbul schwere Anschuldigungen gegen die Regierung von Premier Recep Tayyip Erdoğan: Er sei in den Ermittlungen behindert worden, indem ihm über Nacht Beweismittel abhanden und Verhöre verschleppt worden waren. Muammer Akkaş rief in einem spektakulären Statement alle Vertreter des Justizapparates zu höchster Wachsamkeit auf.
Erdoğan kann sich nach dem Rücktritt mehrerer Minister (hier) und eine großen Kabinettsumbildung (hier) keineswegs sicher sein, dass die Affäre nun beendet ist. Erdoğan selbst bestätigte Gerüchten, dass auch Erdoğans Sohn Bilal knapp vor der Verhaftung gestanden haben soll – und dieser nur durch das Eingreifen seines Vaters entgangen sei. Er sagte vor Vertretern seiner Partei: „Sie wollen meinen Sohn, aber sie meinen mich!“
Doch das Klima der Verdächtigungen und Denunziationen in der Türkei zeigt, wie gespalten das Land ist.
Die alten kemalistischen Eliten, die durch Erdoğans AKP-Leute ersetzt wurden, hoffen, den verhassten Premier loszuwerden. Denn Erdoğan hat sich in den vergangenen Jahren nach übereinstimmender Beurteilung zu einem Autokraten entwickelt, der mit seinen großen Wahlerfolgen ein absolutistisches Regime erreichtet habe.
Erdoğan habe, so sagen seine Anhänger, vor allem gegen das Militär und gegen den sogenannten „tiefen Staat“ vorgehen müssen, um nicht durch einen Putsch aus dem Amt getrieben zu werden.
Seit mehreren Jahren hat Erdoğan jedoch offenbar die Unterstützung seiner wichtigsten Förderer verloren: Der Anhänger der islamischen Bewegung des in Pennsylvania residierenden Predigers Fethullah Gülen. Der Bewegung, die überall auf der Welt Bildungsarbeit betreibt, werden von ihren Gegnern religiös-totalitäre Absichten unterstellt. Die Bewegung behauptet von sich, ein neues Modell der Vereinbarkeit von Islam und Demokratie gefunden zu haben. Die Deutsche Stiftung für Wissenschaft und Politik hat der Bewegung in einer aktuellen Studie allerdings ein überraschend gutes Zeugnis ausgestellt.
Das Problem der Bewegung: Sie agiert im Nebel, legt ihre Strukturen und Finanzen nicht offen, öffnet sich kaum für Außenstehende und tritt in der Regel intransparent und sektiererisch auf. In der Türkei gilt sie als heimliche Elite, die Erdoğans Aufstieg erst möglich gemacht hat. Nun sind seine Fans nicht mehr mit Erdoğans Kurs einverstanden.
Einer der Gründe könnte sein, dass die Gülen-Bewegung aus den USA heraus gesteuert wird. Dies hat ihr den Vorwurf eingetragen, den Erdoğan erst dieser Tage in harschen Worten erneuerte: Seine Feinde seien Agenten der Amerikaner, arbeiten sogar mit dem Mossad zusammen. Erdoğan sagte, man werde den Agenten „die Hände abhacken“, wenn sie den Staat in der Türkei gefährden. Gülen selbst antwortete nicht minder brutal und sagte in einer Videobotschaft, über die das offizielle Organ der Bewegung, die Zaman, berichtet: „Diejenigen, die den Dieb nicht sehen, sondern diejenigen verfolgen, die versuchen, den Dieb zu fangen - lass Gott Feuer auf ihre Häuser bringen.“
Das Verhältnis der Gülen-Bewegung zu Erdoğan ist seit mehr als drei Jahren brüchig, wie aus den entsprechenden Email-Analysen von Emre Dogru vom privaten US-Geheimdienst Stratfor hervorgeht, den Wikileaks veröffentlicht hat.
Erdoğan hat in den vergangenen Wochen die Amerikaner immer wieder überrascht – und verärgert: So will er Raketen bei den Chinesen kaufen, was das US-Rüstungsunternehmen Lockheed und das italienisch-französische Konsortium Eurosam um die lukrativen Aufträge bringen würde. Der US-Kongress beschloss daraufhin, den Türken die Verwendung von US-Militärgeldern für diesen Ankauf zu verbieten. Ohne die Fördergelder aus Washington ist der Ankauf der 4 Milliarden Dollar teuren Waffensysteme für die Türkei kaum zu stemmen, Die westlichen Rüstungskonzerne versuchen nun, bis 31. Januar noch einmal neue Angebote vorzulegen, um den für die Nato äußerst peinlichen China-Deal doch noch in letzter Minute zu kippen, berichtet die Hürriyet.
Im Zuge der Korruptions-Affäre waren die Amerikaner auch erbost zu erfahren, dass die Türkei offenbar einen regen Gold-Handel mit dem Iran betrieben hätten – trotz des Embargos. Die Türken argumentieren, dass der Handel legal gewesen sei und verweisen darauf, dass mit dem Ende des Embargos auch der Handel mit dem Iran wieder intensiviert werden könne.
Welche Rolle die international gut vernetzte Gülen-Elite spielt, ist unklar. Laut Stratfor hatten FBI und CIA die Bewegung in den USA ausführlich untersucht, ohne jedoch die Notwendigkeit von Maßnahmen gegen Gülen zu erkennen. Ob Gülen mit den Geheimdiensten zusammenarbeitet, ist nicht bekannt. In die Strategie der Geheimdienste, international aktiv an der Destabilisierung mitzuwirken, würde eine solche Zusammenarbeit passen. Beobachter zweifeln jedoch daran, dass die USA aktuell ein großes Interesse an einer Destabilisierung des Nato-Staats haben könnte.
Allerdings hat Erdoğan mit seiner unzweideutig antisemitischen Propaganda gegen die „Zins-Mafia“ für erhebliche Irritationen in der internationalen Finanzwelt gesorgt. Die Türkei ist hoch verschuldet, insbesondere die Privathaushalte wurden in geradezu dramatischer Weise in Schulden für Konsumgüter getrieben. Erdoğan erneuerte seine Attacken gegen die „Zins-Mafia“, indem er die Ermittlungen gegen die Halkbank als Angriff eben dieser Mafia gegen ein letztes, unabhängiges Bollwerk deutete. Das ist ziemlich geheuchelt: Die hohe Verschuldung vor allem der jungen Türken ist unter den Augen Erdoğans geschehen (mehr hier).
Die Gülen-Bewegung ihrerseits ist nicht einheitlich organisiert: Sie fürchtet nach wie vor einen Militärputsch. Dann könnte der religiösen Bewegung ein ähnliches Schicksal drohen wie den ägyptischen Muslimbrüdern, die zu Weihnachten als Terror-Organisation eingestuft wurden und damit mit ihrer völligen Zerschlagung rechnen müssen. Daher versuchen die Gülens nun, den Staatspräsidenten Abdullah Gül als ausgewogenen, rechtsstaatlichen Staatsmann aufzubauen, der als Nachfolger Erdoğans das Ruder in der Türkei übernehmen könnte.
Doch gerade das Erbe der Muslimbrüder zeigt, wie brandgefährlich die Lage für die neuen türkischen Eliten ist: Auch dort hat ein islamisches Regime ein Volk in die Schuldenfalle getrieben, aus der das Land auf absehbare Zeit nicht herauskommen wird (mehr dazu hier).
Die säkularen Kräfte in der Türkei werden sich jedoch weder hinter Erdoğan noch hinter Gül stellen: Spätestens seit dem brutalen Polizei-Einsatz gegen die Gezi-Park-Proteste warten sie eher auf eine Gelegenheit, den Kampf gegen ein ihrer Meinung nach repressives, religiöses System aufzunehmen.
All diese innenpolitischen Ranküne laufen vor dem Hintergrund einer gigantischen Schulden-Blase ab, die in der Türkei aufgepumpt wurde – nicht zuletzt im Immobilienbereich. Die türkische Wirtschaft hat längst ihre Dynamik verloren und muss nun fürchten, dass ein rasanter Wertverfall der Lira das Land auch ins wirtschaftliche Chaos stürzt (hier). Viele ausländische Banken und Unternehmen haben sich in einer beispiellosen Form des Raubtierkapitalismus über die Assets hergemacht. Alle „Investitionen“ sind kreditfinanziert, das Wachstum wird 2014 deutlich hinter den Spitzenwerten der vergangenen Jahre zurückbleiben.
Die Kombination aus innenpolitischem Chaos und Platzen einer Blase wird allerdings nicht nur für Erdoğan verheerende Folgen haben: Die Türkei läuft Gefahr, ins wirtschaftliche und politische Mittelalter zurückgestoßen zu werden. Der Unmut der Bevölkerung wird sich auf der Straße Luft verschaffen und könnte so die Rückkehr zu einem Polizeistaat beschleunigen.
Der Tiger am Bosporus ist angeschossen.
Der Regierungschef kämpft um sein Überleben.
Den Preis werden jedoch die Bürger bezahlen – in Form von deutlich schlechteren Lebensbedingungen.
Diese Krise wird alle treffen.
Sie unterscheidet nicht zwischen Religiösen und Säkularen.
Sie schaut nur auf die nackten Zahlen.
Diese sprechen gegen die Türkei - mit unabsehbaren Folgen für den Nahen Osten und die Balance an der Schnittstelle zwischen Asien uns Europa.