Finanzen

Die EZB erklärt Europa für bankrott

Lesezeit: 6 min
10.09.2022 08:57  Aktualisiert: 10.09.2022 08:57
Die EZB hat die Leitzinsen deutlich angehoben. Der drastische Schritt sagt mehr über die Machtlosigkeit der Notenbank aus als über ihre Handlungsfähigkeit, schreibt DWN-Kolumnist Ronald Barazon.
Die EZB erklärt Europa für bankrott
Die EZB hat die Zinsen deutlich erhöht - ein Zeichen der Machtlosigkeit? (Foto: dpa)

Mehr zum Thema:  
Benachrichtigung über neue Artikel:  

Die Präsidentin der Europäischen Zentralbank, Christine Lagarde, musste am Donnerstag die Bankrotterklärung Europas formulieren. So erklärte die oberste Hüterin des Euro, dass in den USA wie in Europa die Inflation sich bei unerträglichen rund 10 Prozent bewegt, aber ein entscheidender Unterschied zu beachten sei. In den USA sind die hohen Preise eine Folge der starken Nachfrage, also der boomenden Wirtschaft, in Europa hingegen eine Folge des teuren Angebots an Energie und sonstigen Produkten.

Womit Lagarde zum Ausdruck brachte, dass die Anhebung der Zinsen in Europa nicht begründet ist. Eine Zinsanhebung soll die Kredite verteuern und so dafür sorgen, dass weniger gekauft werden kann und die Nachfrage sinkt. Das ist derzeit in den USA angebracht, aber nicht in Europa- Trotzdem hat die EZB den Leitzinssatz um 0,75 Prozentpunkte auf 1,25 Prozent angehoben und angekündigt, dass in kurzen Abständen weitere Erhöhungen folgen werden.

Die Zentralbank ist nicht in der Lage, die Ursachen der Inflation zu bekämpfen

Aber Frau Lagarde gab noch weitere entlarvende Botschaften ab. Sie gab unumwunden zu, dass die EZB nicht in der Lage sei, die Ursachen der Inflation zu korrigieren, etwa den Gas- und den Strompreis zu senken, den Ukraine-Krieg zu stoppen und Russland daran zu hindern, die EU zu erpressen. Dafür seien andere zuständig.

Jawohl, Frau Präsidentin, das ist keine überraschende Erkenntnis. Allerdings ließ Lagarde nach dem Eingeständnis der Hilflosigkeit die üblichen, markanten Parolen folgen. Die Zentralbank werde alles unternehmen, um die Inflation auf 2 Prozent zu drücken und daher die Zinsen konsequent anheben. „Nehmen Sie zur Kenntnis, das war heute nur der Auftakt. Wir werden unsere Verantwortung wahrnehmen!“ Also, was nun, kann die EZB die Ursachen der Teuerung bekämpfen oder nicht?

Man ist wieder bei der immer wieder auftauchenden Peinlichkeit gelandet. Man weiß zwar nicht, was man tun soll, aber man erhöht die Zinsen, weil in irgendwelchen Lehrbüchern steht, dass das Rezept gegen Inflation wirkt. In jedem Fall, unter welchen Umständen auch immer. In letzter, fataler Konsequenz stimmt das sogar: Wenn man die Wirtschaft in die Rezession treibt und kaum jemand noch etwas einkauft, aktuell vor allem keine Energie, dann bricht alles zusammen und auch die Preise fallen. Offenbar ist man in der EZB bereit, eine Krise in Kauf zu nehmen, um die Inflation zu brechen. Lagarde wollte vermutlich nicht zynisch sein, als sie erklärte, man müsse die Teuerung vor allem im Interesse der Bezieher kleinerer Einkommen bekämpfen. Wie bitte? Indem man diese Gruppe mit einer Wirtschaftskrise in den Ruin treibt?

Im Sog der höheren US-Zinsen muss Europa nachziehen

Allerdings bleibt der EZB aus einem anderen Grund nicht viel übrig, als die Zinsen im Sog der höheren Zinsen in den USA anzuheben. Die prekäre wirtschaftliche Lage des alten Kontinents ist die fundamentale Ursache für den Verfall des Euro, der nur mit Mühe auf 1 Euro für 1 Dollar gehalten werden kann. Die Folge ist zwar für die Exporteure erfreulich, weil die Waren auf den Weltmärkten billiger werden, aber die Importe und vor allem die in Dollar bezahlten Energie-Importe treiben die Preise zusätzlich in die Höhe.

Doch damit nicht genug: In den USA liegen die Zinsen für die als Orientierung geltenden 10-jährigen Staatsanleihen deutlich über 3 Prozent und rund um diesen Wert bildet sich die Zinslandschaft in den USA. Also zieht das internationale Kapital in Richtung Amerika und weg von Europa. Es ist somit notwendig, den Euro-Kurs zu stützen und das kann nur mit Hilfe höherer Zinsen gelingen, die die europäische Währung wieder attraktiver machen.Womit auch das in Dollar bezahlte Öl wieder billiger in Europa ankommt.

Welch eine jämmerliche Situation. Europa ist wirtschaftlich so schwach, dass der Euro-Kurs nicht zu halten ist. Europa ist so schwach, dass man mit niedrigen Zinsen die Konjunktur stützen sollte. Europa muss aber die Zinsen erhöhen, um den Euro zu stärken, ist also gezwungen, sich zusätzlich zu schwächen. In diesen Stunden wird deutlich, dass Europa endlich die Wirtschaft auf neue Beine stellen muss. Dazu ist die Währungspolitik auch nicht in der Lage, doch diese Ohnmacht gibt man in der Zentralbank nicht so leicht zu, genießt man doch die trügerische Aura, als Wächter des Geldes über besondere Kräfte zu verfügen.

Die manische Bekämpfung des Risikos erweist sich als fatale Wirtschaftsbremse

Die höheren Zinsen sollten zumindest die Anleger freuen, doch wird sich deren Begeisterung in Grenzen halten, weil ein Leitzins von 1,25 Prozent und die sich in der Folge ergebenden Sätze auf dem Markt bei 10 Prozent Inflation nicht überzeugen können. Auch die angekündigten, weiteren Schritte werden keine unbändige Freude auslösen. Geht die Zentralbank allerdings so weit, dass sie die Zinsen über 10 Prozent treibt, dann werden die Anleger jubeln, doch dann stellt sich aber die bange Frage, wer denn diese Zinsen erwirtschaften kann.

Spürbar wird sich die Zinserhöhung bei den Krediten auswirken, die nun unweigerlich teurer werden. Anmerkung am Rande: Glücklich können sich jene schätzen, die noch eine Fixzinsgarantie mit niedrigen Sätzen erobert haben. Paradoxer Weise sind aber die Kosten eines Kredits oder Darlehens nicht das zentrale Problem in Europa. Es geht nicht so sehr um die Frage, ob ein Kredit teuer oder günstig ist. Im Mittelpunkt steht vielmehr das Problem, dass man in Europa entweder überhaupt keinen Kredit bekommt und wenn ja, nur nach Überwindung größter Schwierigkeiten.

Diese Kreditbremse wurde mit unsinnigen Regulierungen unter dem Schlagwort „Basel II“ seit 2004 aufgebaut, nach der Finanzkrise 2008 als „Basel III“ dramatisch verschärft und seit damals immer weiter unter skurrilen Bezeichnungen subtil verfeinert. Es vergeht kaum eine Woche ohne eine neue Bestimmung der Finanzmarktaufsicht, die die Mitarbeiter der Banken verzweifeln lässt. Die absurde Politik wird zwar von den Aufsichtsbehörden betrieben, doch spielt in dem Konzert die EZB als eine Art Oberaufseher eine entscheidende Rolle.

Getrieben wird diese Wirtschaftsbremse von der Panik der Aufseher, eine Bank könnte krachen. Daher müssen die Institute jedes Risiko vermeiden, mit dem dramatischen Effekt, dass die Banken ihr eigentliches Geschäft nicht betreiben können – nämlich Risiko einzugehen, Finanzierungen zu ermöglich, kurzum, einen entscheidenden Beitrag zum Erfolg der Volkswirtschaft zu leisten. Dass heute Europa derart weit abgeschlagen hinter den USA durch den Weltmarkt humpelt, ist neben anderen Faktoren auch durch die Kreditpolitik verursacht. Die unbegreifliche Groteske: Die Banken dürfen zwar mit Milliarden spekulieren, aber ein Kredit über 50.000 Euro an einen Gewerbebetrieb wird als gefährliches Risiko behandelt.

Die Sozialversicherung verhindert den Aufbau eines Kapitalmarkts

Um das Malheur zu vollenden, gibt es zudem keinen funktionierenden Kapitalmarkt, der Risikokapital bereitstellen würde. Den Kapitalmarkt, der die Schwäche der Kreditfinanzierung korrigieren könnte, gibt es nicht im Gefolge einer Struktur, die man nicht antasten darf. In Europa ist die Finanzierung der Renten über die Sozialversicherung eine geradezu heilige Einrichtung. Dieser Umstand ist einer der Hauptgründe für das Zurückbleiben der europäischen Wirtschaft. Die Unternehmen müssen die Beiträge zur Finanzierung der öffentlichen Pensionen aufbringen, diese Beträge reichen bekanntlich nicht aus, und so müssen die Staaten weitere Milliarden zuschießen, die ebenfalls von der Wirtschaft über Steuern ermöglicht werden. Man zieht also aberwitzig viele Milliarden ab, die nur in den Konsum der Älteren fließen.

Das System in den USA ist produktiver. Die Renten werden aus den Zinsen und Dividenden finanziert, die die Unternehmen zur Bedienung des Kapitals bezahlen, das ihnen die Pensionsfonds zur Verfügung stellen. In Europa wird versucht, beides zu betreiben, die Finanzierung der Pensionen der Sozialversicherung und die Bedienung des Kapitals. Dass das nicht funktionieren kann, ergibt sich aus dem simplen Umstand, dass die Wirtschaft das Geld, das sie an die Sozialversicherung abliefert, nicht noch einmal für Zinsen und Dividenden ausgeben kann. Europa betreibt auf diese Weise eine enorme Kapitalvernichtung.

Ein unsinniger Klassenkampf, der nicht auf der Straße ausgetragen wird

Eine Systemänderung wäre folglich in Europa dringend notwendig, weil dann die Firmen Eigenkapital bekämen, sich daher besser entwickeln könnten, und die Renten ohne Belastung des Staates bezahlt würden. Das amerikanische System leistet einen Beitrag zur Stärkung der Wirtschaft, das europäische schwächt die Wirtschaft. Dieser Faktor wird leider in der europäischen Diskussion nicht beachtet.

Die Umstellung wird von den Sozialpolitikern mit billigen Parolen verhindert: „Nicht alle sind in der Lage, Beiträge in eine Pensionskasse einzuzahlen“. „Viele werden in der Altersarmut landen!“ „An der Börse verliert man nur sein Geld!“ In diesem Bereich wird ein Klassenkampf zwischen Sozialismus und Kapitalismus geführt, der an der Realität vorbeigeht.

- Die Zwangsbeiträge der Europäer an die Sozialversicherung sind mit den Einzahlungen der Amerikaner in eine Pensionskasse vergleichbar.

- Jede europäische Rentenreform erweist sich als Rentenkürzung und entspricht in ihren Auswirkungen den Verlusten im Rahmen eines Börsencrashs. Nur, dass Börsenkurse wieder steigen, Rentenkürzungen auf Dauer bleiben.

- Auch die Sozialversicherung ist nicht in der Lage, Altersarmut zu vermeiden, wie die Lebensumstände vieler älterer Personen beweisen. In den USA sind über 23 Prozent der Rentner von Altersarmut betroffen. In Deutschland, dem Land mit der erfolgreichsten Wirtschaft in der EU, ist die Situation generell etwas besser, aber bei den über 80jährigen beträgt der Anteil der Personen in Altersarmut auch mehr als 22 Prozent.

- Mehr noch: Die Sozialleistungen sind in ganz Europa so kostspielig, dass sie eine der Hauptursachen für die Verschuldung der Staaten bilden. Und überschuldete Staaten sind nicht imstande, tatsächlich Bedürftige ausreichend zu unterstützen.

- Ein weiteres Argument, das nicht hält: Die USA haben auch hohe Schulden. Jawohl, aber die USA haben eine Steuerlast von knapp 30 Prozent der Wirtschaftsleistung und könnten die Steuern leicht erhöhen. In Europa entsprechen die Belastungen schon über 50 Prozent und ersticken die Wirtschaft.

Das dramatische Problem der Altersarmut löst sich weder über US-Pensionsfonds noch über europäische Sozialversicherungen von alleine. Gefordert ist die Sozialpolitik im engeren Sinn, also eine Sozialpolitik, die den tatsächlich Bedürftigen hilft und nicht das unmögliche Kunststück versucht, die gesamte Bevölkerung zu beglücken. Dazu braucht es Staaten und Sozialsysteme mit finanzkräftigen Budgets.

Man kann als Europäer nur verzweifeln. Wie die antike Sagenfigur Laokoon wird Europa von Schlangen zu Tode gedrückt. Eine insgesamt nicht sehr hohe Wirtschaftsleistung wird durch einen Wust von Regulierungen behindert, die Währungspolitik kann sich im Sog der USA nicht frei bewegen, die Finanzierung der Unternehmen wird mit unsinnigen Vorschriften gebremst, die Sozialleistungen treiben die Staaten in die Pleite, überschuldete Staaten können keine aktive Wirtschaftspolitik betreiben und sind zudem nicht in der Lage, eine effektive Sozialpolitik zu finanzieren. Diese Realität lauert vielfach unbemerkt hinter der Fassade hübsch renovierter alter Städte, in denen Jung und Alt die Gastgärten bevölkern.

                                                                            ***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


Mehr zum Thema:  

DWN
Politik
Politik Gruselkabinett oder „The Apprentice“-Show? Wie Trumps Regierung aussehen könnte
08.11.2024

Tech-Milliardär, Impfgegner, Migrations-Hardliner: „Präsident-Elekt“ Trump hat eine Reihe von Verbündeten, die sich wichtige Posten...

DWN
Politik
Politik Habeck ist Kanzlerkandidat der Grünen - Wahlkampfmodus nach dem Ampel-Aus
08.11.2024

Robert Habeck ist der Kanzlerkandidat der Grünen. Das melden verschiedene Medien am Freitagvormittag. Nach dem Ampel-Aus ist spätestens...

DWN
Politik
Politik Bundestag beschließt Antrag zu Bekämpfung von Antisemitismus
08.11.2024

Erste Plenarsitzung nach dem Ampel-Aus: Ein Antrag zum Schutz jüdischen Lebens findet eine große Mehrheit im Bundestag. Es geht darum, wo...

DWN
Weltwirtschaft
Weltwirtschaft Nach US-Wahl: EU stärkt Wettbewerbsfähigkeit - kommt die Steuer auf Kryptowährungen?
08.11.2024

Nach dem deutlichen Wahlsieg von Donald Trump bei der US-Präsidentschaftswahl beraten die Regierungschefs der Europäischen Union an...

DWN
Politik
Politik Selenskyj: Waffenstillstand in der Ukraine nur mit Sicherheitsgarantien möglich
08.11.2024

Ein Waffenstillstand im Konflikt mit Russland ist laut dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ohne Sicherheitsgarantien für die...

DWN
Weltwirtschaft
Weltwirtschaft Aktie der Munich Re: Katastrophen kosten global über 100 Milliarden
08.11.2024

Unwetterschäden kosten die Versicherer viel Geld. Die Tendenz im mehrjährigen Schnitt: steigend.

DWN
Politik
Politik Neuwahltermin weiter unklar - setzt die Minderheitsregierung noch eine Rentenreform um?
08.11.2024

Wann wird Deutschland neu wählen? Nach dem Zerfall der Ampel-Koalition fordert Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU) einen raschen...

DWN
Politik
Politik Nach Trump-Wahl: Nato will höhere Verteidigungsausgaben - Europa sonst ungeschützt
08.11.2024

In Europa reichen Verteidigungsausgaben von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts nicht aus, um ohne den Schutzschirm der USA...