Ein Beispiel, wie die Türkei mal die eine und die andere Seite bevorzugt, zeigt die Problematik mit dem russischen Zahlungssystem Mir. Um Sanktionen zu umgehen, wollten fünf wichtige türkische Banken den Zugang zum Mir-Zahlungssystem ermöglichen. Nachdem die USA vor Umgehungen der verhängten Finanzsanktionen über das russische Zahlungssystem Mir warnten, wendeten sich laut der britischen Nachrichtenagentur Middle East Eye mit der Izbank und der Denizbank, zwei der fünf türkischen Banken, die Mir genutzt haben, von diesem Zahlungssystem ab und bieten es nun nicht mehr an. Präsident Recep Tayyip Erdogan erklärte in New York, dass man gezwungen gewesen sei die Haltung gegenüber dem russischen Zahlungssystem zu überdenken.
Alternativen für Mir-Zahlungssystem
Erdogan sucht nun nach Alternativmöglichkeiten zum Mir-Zahlungssystem und berief für Ende September die Wirtschaftsführung ein, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Erdogan sagte, dass man dort das Thema diskutieren und eine endgültige Entscheidung über Mir treffen möchte. Es wird erwartet, dass sich das Treffen auch auf das bilaterale türkisch-russische Wirtschaftsengagement und Investitionen sowie auf andere inländische Finanzfragen konzentrieren wird, wie das Middle East Eye schreibt.
Mir ist das russische Pendant zu Visa oder Mastercard und wird in Südkorea, Kuba, einigen ehemaligen Sowjetstaaten und bald auch im Iran akzeptiert. Der Leiter des russischen Nationalen Kartenzahlungssystems sagte am 22. September, dass die Mir-Bankkarten in der Türkei trotz der Aussetzung durch die beiden Banken weiterhin funktionieren. Mehrere Quellen in der Tourismusbranche bestätigten dem Middle East Eye, dass einige Hotelketten das Mir-System unabhängig voneinander nicht mehr nutzen, die meisten Hotels aber weiterhin Zahlungen abwickeln.
Türkei liebäugelt mit Beitritt zur SCO
Die Gratwanderung bezüglich der Sanktionsproblematik ist ein Beispiel wie die Türkei versucht, sowohl vom Westen als auch von Russland zu profitieren. Obwohl Ankara die Meerenge zwischen Bosporus und Schwarzem Meer geschlossen und den russischen Angriff als „illegalen und ungerechten Krieg“ bezeichnet hat, unterhält es immer noch sehr gute Beziehungen zu Moskau und hat sich den Sanktionen der USA, des Vereinigten Königreichs und der EU nicht angeschlossen.
Zu dieser Gratwanderung gehört auch, dass Spiel mit verschiedenen Organisationen. Mal positioniert sich Erdogan in Richtung EU und Nato und dann flirtet er mit der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO), dem die Türkei und der Iran laut ALJazeera beitreten will. Ein Beitritt macht für die Türkei allein aus geostrategischen Gründen einen Sinn und spielt hinein in den Versuch Ankaras von verschiedenen Blöcken zu profitieren, ohne sich festzulegen. Der Beitritt zur SCO wäre auch ein Zeichen an die EU und weniger an die Nato. Von ihrem Modell her steht die SCO dem EU-Modell auch näher als dem Nato-Modell, wie Mensur Akgun Professor für internationale Beziehungen an der Istanbuler Kültür Universität, gegenüber AlJazeera sagt.
Starke Position als Vermittler
Auch im Bereich als Vermittler geht das Vorgehen Erdogans getreu der Strategie von allen Seiten zu profitieren. Dies hat der Türkei inzwischen eine starke Position in der Weltpolitik verschafft. Ein Indiz dafür, wie sich die Wichtigkeit des Landes erhöht hat ist die Rolle, die das Land als Vermittler im Ukrainekrieg spielt. Geschickt nutzte Erdogan das gute Verhältnis zu Russland und zur Ukraine, um nach außen das Bild zu erwecken: „Die Türkei ist wichtig und stark. Wer eine Lösung will, muss auf uns setzen.“
Die Türkei geht hierbei klug strategisch vor. Sie unterstützt weder offen die Ukraine, wie es der Westen tut, noch ergreift man offen Partei für Putin. Wie erfolgreich dieser Weg ist, zeigte der Getreidedeal, der durch die Vermittlung der Türkei im Juli dieses Jahr zustande kam, oder die Versuche im März einen Waffenstillstand zwischen den zwei Kriegsparteien zu vermitteln.
Die neue Strategie in der Außenwelt die Türkei als Brücke zwischen verschiedenen Parteien zu manifestieren, zeigt auch die Wandlung die Erdogan gemacht hat. Während er im Syrien-Krieg noch klar Position nahm und damit bisweilen das gute Verhältnis zu Russland aufs Spiel gesetzt hat, ist nun mit der neuen Vermittlerrolle eine Art neue Strategie offen erkennbar.
Strippenzieher auch in Energie und Militär
Auch im Energiebereich spielt Erdogan ein doppeltes Spiel und profitiert damit ungemein. So nutzte die Türkei die Sanktionen für sich in dem sie als wichtiges Transitland für die Gas-Pipeline von Aserbaidschan nach Europa dient. Für die EU ist das Land eminent wichtig, um beim zu erwartenden Öl-Embargo gegen Russland als Transitland für eine Verbindung nach China herzuhalten.
Gleichzeitig profitiert die Türkei aber durch die Pipeline Turkstream durch das russische Gas über die Türkei, Bulgarien und Serbien nach Ungarn fließt. Auf diese Weise ist man durch Russland mit Gas versorgt und kann durch alle Seiten einen Nutzen ziehen und sich die nützlichen Punkte herauspicken.
Militärisch hat die Türkei beim Verkauf ihrer Drohnen an die Ukraine den Krieg für sich genutzt. Mit den Bayraktar-Drohnen konnte die Ukraine Russland erheblichen Schaden zufügen. Die türkischen Drohnen sind inzwischen zu einem Erfolgsprodukt geworden. Sämtliche Länder weltweit stehen Schlange und haben Interesse an einem Kauf. Auch Russland zeigte Ende Juli Interesse an einem Drohnen-Deal mit der Türkei.
Strategieänderung unwahrscheinlich
Es ist erwartbar, dass die Türkei diese Strategie des Profitierens von allen Seiten und des Strippenziehers im Hintergrund weiter beibehalten und ausbauen wird. Gut möglich, dass man auch die diplomatisch guten Beziehungen zu China für sich nutzt und weiter intensiviert. Sollte es irgendwann mal zu einem Konflikt des Westens mit China kommen, könnte die Türkei dann wieder als Vermittler fungieren. Die Absicht der SCO beizutreten, verdeutlicht auch, dass die Türkei nicht vorhat die eigene erfolgreiche Strategie der letzten Zeit zu ändern.
Die Rolle des Vermittlers und des Brückenbauers zwischen den verschiedenen Blöcken, wie Westen und Russland, Westen und China, Westen und Arabischer Welt, sowie der EU und der SCO ist für die Türkei viel zu attraktiv, um sich davon zu verabschieden. Eine mögliche Vermittlerrolle im Nahost-Konflikt wäre auch möglich. Passend konnte man im August nach einer langen Annäherung die Wiederaufnahme der Beziehungen mit Israel erreichen. Auch eine BRICS-Mitgliedschaft steht im Raum, wie ein Bericht von der Organisation Politics Today zeigt. Politics Today sieht eine mögliche Mitgliedschaft der Türkei, Saudi-Arabiens und Ägyptens als Game-Changer und Indiz dafür, dass die BRICS-Staaten als Wirtschaftsunion in Zukunft eine noch wichtigere Rolle einnehmen als ohnehin schon.
Die starke außenpolitische Situation der Türkei und der Aufstieg zu immer stärkerer Gewichtung als Vermittler, kann nicht die innenpolitischen Probleme vertuschen. Die Inflation in der Türkei hat einen neuen Höchststand erreicht. Die jährliche Teuerung lag im September bei 83,45 Prozent, teilte das nationale Statistikamt am Montag in Ankara mit. Die Lebensmittelpreise waren um gut 93 Prozent gestiegen. Im August hatten die Verbraucherpreise gegenüber dem Vorjahresmonat um 80,21 Prozent höher gelegen.
Die Inflation in der Türkei wird durch mehrere Faktoren getrieben. Seit längerem sorgt die schwache Landeswährung Lira für Preisauftrieb, da sie in die Türkei importierte Güter wechselkursbedingt verteuert. Hinzu kommen Probleme in den internationalen Lieferketten, die Vorprodukte teurer machen. Daneben steigen die Preise von Energie und Rohstoffen, vor allem im Zusammenhang mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine. Anders als die meisten Zentralbanken reagiert die türkische Notenbank auf die hohe Inflation nicht mit Zinsanhebungen sondern mit Zinssenkungen.