Deutschland

AdBlue geht zur Neige: Bald leere Supermarkt-Regale?

Lesezeit: 3 min
16.10.2022 21:22
Ohne AdBlue können Lkw nicht fahren. Doch infolge der Energiekrise ist die Produktion in Deutschland zusammengebrochen und die Vorräte gehen zur Neige.
AdBlue geht zur Neige: Bald leere Supermarkt-Regale?
Der AdBlue-Mangel droht die deutsche Industrie lahmzulegen. (Foto: dpa)
Foto: Marijan Murat

Mehr zum Thema:  
Benachrichtigung über neue Artikel:  

Die deutschen Spediteure stehen bereits unter erheblichem Druck wegen fehlender Fahrer und steigender Dieselpreise. Und nun eskaliert offenbar auch noch der chronische Mangel an AdBlue, dem Gemisch aus Harnstoff und deionisiertem Wasser, das die Stickoxidemissionen von Dieselmotoren neutralisiert.

Die Vorräte der deutschen Spediteure an der Flüssigkeit sind zur Neige gegangen, weil die SKW Stickstoffwerke Piesteritz, einer der größten AdBlue-Lieferanten in Deutschland, im August die Produktion vollständig eingestellt haben. Das Unternehmen in Wittenberg in Sachsen-Anhalt begründete diesen Schritt mit den hohen Gaspreisen.

Dirk Engelhardt, Chef des Bundesverbandes Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL), sagt, dass den Unternehmen das AdBlue ausgeht. Lastwagen können dann nicht mehr fahren. „Es wird einen Aufschrei in der Bevölkerung geben, wenn die Lieferketten zusammenbrechen und die Supermärkte sich leeren“, zitiert ihn die Financial Times.

Opfer des teuren Gases

Die deutsche Wirtschaft steuert auf eine Rezession zu, belastet durch die schwerste Energiekrise seit dem Zweiten Weltkrieg. Der deutsche Verzicht auf russisches Gas hat die Preise auf ein Niveau getrieben, das viermal so hoch ist wie noch vor einem Jahr. Einige energieintensive Anlagen haben daher den Betrieb eingestellt.

SKW Piesteritz ist eines der bekanntesten Opfer des teuren Gases. Zwar wurde später eine der beiden Anlagen wieder auf ein Mindestmaß hochgefahren, aber die zweite bleibt weiter außer Betrieb. „Wenn wir weiter produziert hätten, hätten wir jeden Monat Verluste in Höhe von 100 Millionen Euro gemacht“, sagt Sprecher Christopher Profitlich.

Die Stilllegung von SKW hatte bereits enorme Auswirkungen auf die Düngemittelversorgung der deutschen Landwirtschaftsbetriebe und verursachte Probleme für Schlachthöfe, Lebensmittelverpacker und Brauereien, die auf das von SKW produzierte Kohlendioxid - ein Nebenprodukt von Ammoniak - angewiesen sind.

Doch der starke Rückgang der AdBlue-Produktion wird voraussichtlich noch größere wirtschaftliche Folgen haben. BGL-Chef Engelhardt sagte, dass mehr als 90 Prozent der 800.000 Lastwagen in Deutschland die Lösung benötigen und insgesamt 2,5 bis 5 Millionen Liter pro Tag verbrauchen.

„Wir bekommen die ersten Anrufe von Spediteuren, die kein AdBlue mehr haben und keine neuen Lieferungen bekommen“, sagte er bereits Ende September. „Das könnte bald Ausmaße annehmen, die wir nicht mehr eindämmen können.“ Und selbst wenn man noch AdBlue kaufen kann, sind die Preise bis zu sieben Mal so hoch wie vor einem Jahr.

Supermarktketten, die sich noch an die Engpässe bei Grundnahrungsmitteln während der Coronavirus-Pandemie erinnern, zeigen sich bereits besorgt. Eine Sprecherin von Aldi Süd sagte, das Unternehmen nehme "die aktuelle Situation sehr ernst". Der Discounter stehe in engem Kontakt mit den Lieferanten und beobachte die aktuellen Entwicklungen.

Nicht nur Lkw benötigen AdBlue

„Das betrifft alle Fahrzeuge auf vier Rädern und mit einem Gewicht von mehr als 3 bis 4 Tonnen“, sagt ein Spediteur und verweist auf Krankenwagen, Feuerwehrfahrzeuge und Traktoren, die auch mit Diesel fahren. Die Transportunternehmen sind zunehmend auf teure Importe von einer begrenzten Gruppe von Herstellern angewiesen.

Denn die SKW Stickstoffwerke Piesteritz sind nicht der einzige Chemiehersteller, der seine Produktion drosseln musste. Der norwegische Düngemittelhersteller Yara International hat bereits im August angekündigt, dass er die Kapazität seiner europäischen Ammoniakanlagen um 65 Prozent reduzieren wird.

Der deutsche Chemieriese BASF hat die Ammoniakproduktion in seinem riesigen Werk in Ludwigshafen in Rheinland-Pfalz reduziert und kauft wichtige Rohstoffe wie Ammoniak von Konkurrenten stattdessen auf dem Weltmarkt ein. Die Probleme betreffen alle Branchen, die viel Energie verbrauchen.

Aktuelle offizielle Daten zeigen, dass die Glas- und Keramikproduktion zwischen Juli und August um 2,8 Prozent zurückging und die Chemieproduktion um 3,1 Prozent. Kokereien und Ölraffinerien verzeichneten einen Produktionsrückgang um 4,5 Prozent. Hakle meldete wegen der hohen Energie- und Rohstoffpreise im September Insolvenz an.

Es ist nicht zu erwarten, dass sich die Situation schnell entspannt, auch wenn die Gaspreise seit dem Rekordhoch im Sommer wieder auf etwa die Hälfte gesunken sind. Der Internationale Währungsfonds (IWF) erwartet, dass die deutsche Wirtschaft im nächsten Jahr um 0,3 Prozent schrumpfen wird.

Industrienation wird Industriemuseum

Der Hauptgeschäftsführer des Verbands der Chemischen Industrie (VCI), Wolfgang Große Entrup, warnte im September, dass selbst die standorttreuesten Mittelständler notgedrungen darüber nachdenken, Produktion ins Ausland zu verlagern. Unternehmen, die dies nicht täten, könnten kaum mehr auf dem internationalen Markt bestehen.

VCI-Chef Große Entrup sprach von einem „gewaltigen Alarmruf“ für den Standort Deutschland. „Der Schritt von der weltweit führenden Industrienation zum Industriemuseum war noch nie so klein.“ Industriestrukturen und Arbeitsplätze, die jetzt verloren gingen, kämen nach der Krise nicht mehr wieder.

Die Bundesregierung hat auf die Energiekrise reagiert, indem sie ein 200-Milliarden-Euro-Maßnahmenpaket geschnürt hat, das private Haushalte und Unternehmen vor höheren Energierechnungen schützen soll. Konkret deckelt eine „Gaspreisbremse“ die Preise für eine bestimmte Grundmenge an Gas und Strom.

Für energieintensive Anlagen wie SKW Piesteritz ist der Gaspreis aber immer noch zu hoch, um eine Rückkehr zum normalen Betrieb ohne massive Verluste zu ermöglichen. „Die Preisbremse tritt für die Industrie erst im Januar in Kraft, und das ist für uns zu spät“, sagt Sprecher Christopher Profitlich.


Mehr zum Thema:  

Anzeige
DWN
Finanzen
Finanzen Die Edelmetallmärkte

Wegen der unkontrollierten Staats- und Unternehmensfinanzierung durch die Zentralbanken im Schatten der Corona-Krise sind derzeitig...

DWN
Politik
Politik DWN-Kommentar: Deutsche müssen über Abschiebungen diskutieren - mit aller Vorsicht
26.04.2024

Liebe Leserinnen und Leser, jede Woche gibt es ein Thema, das uns in der DWN-Redaktion besonders beschäftigt und das wir oft auch...

DWN
Politik
Politik Tourismus-Branche: „In Hotellerie und Gastgewerbe ist noch nichts wieder in Ordnung“
26.04.2024

Die deutsche Tourismus-Branche, also Hotellerie und Gastronomie, firmiert neuerdings unter dem neuen Sammelbegriff „Gastwelt“ - auch um...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Bürokratieabbau: Ministerin fordert mehr Widerstandsfähigkeit und Effizienz
26.04.2024

Rheinland-Pfalz ist ein mittelständisch geprägtes Land. Gerade kleinere Betriebe hadern mit zu viel bürokratischem Aufwand.

DWN
Politik
Politik Hybride Bedrohungen: Drohnen-Flüge und psychologische Kriegsführung
26.04.2024

Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius hat eindringlich vor hybriden Bedrohungen in Deutschland gewarnt. Gegen den Einsatz von...

DWN
Weltwirtschaft
Weltwirtschaft Gallup-Studie: Globale Führungsbewertung 2024 - wie Deutschland unter Großmächten abschneidet
26.04.2024

Die Gallup-Studie 2024 zeigt die Stabilität und Herausforderungen in der globalen Führungsbewertung für Länder wie USA, Deutschland,...

DWN
Politik
Politik Habeck kontert Kritiker: „Energiekrise gemeistert und Strompreise gesenkt“
26.04.2024

Nach Kritik an Atomausstieg: Habeck und Lemke bestätigen, die Energieversorgung sei gesichert und nukleare Sicherheit gewährleistet.

DWN
Technologie
Technologie Künstliche Intelligenz: Wie sich Deutschland im internationalen Rennen positioniert
26.04.2024

Die Deutsche Industrie macht Tempo bei der KI-Entwicklung. Das geht aus einer kürzlich veröffentlichten Analyse des Deutschen Patent- und...

DWN
Immobilien
Immobilien Commerzbank-Studie: Immobilienpreise könnten weiter fallen
26.04.2024

Deutsche Wohnimmobilien verlieren weiter an Wert. Die Commerzbank sieht ein Abwärtspotenzial von 5 bis 10 Prozent, abhängig von...