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Israel: Das Versagen der Demokraten bringt die Autokraten an die Macht

Lesezeit: 6 min
21.01.2023 08:02  Aktualisiert: 21.01.2023 08:02
Israels neue Regierung erntet viel Kritik im In- und Ausland. DWN-Kolumnist Ronald Barazon skizziert die Hintergründe des Geschehens und die grundlegenden Spannungsfelder, in denen Israel bestehen muss.
Israel: Das Versagen der Demokraten bringt die Autokraten an die Macht
Itamar Ben-Gvir, rechtsextremer israelischer Abgeordneter und Vorsitzender der Partei "Jüdische Kraft", gibt nach den Auszählungen der israelischen Parlamentswahlen 2022, der fünften Parlamentswahl in nur dreieinhalb Jahren, eine Erklärung ab. (Foto: dpa)

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Seit einigen Wochen ist Benjamin Netanjahu wieder Premierminister von Israel. Wie schon von 2009 bis 2021. Nach eineinhalb Jahren gelang ihm die Rückkehr an die Macht, obwohl fast alle Parteien des Landes die Verhinderung des seit 1996 aktiven Politikers betreiben. Obwohl ist das falsche Wort, es sollte heißen „weil“.

Die politische Landschaft Israels wird von zahlreichen Parteien bestimmt, die in ständig sich ändernden Kombinationen unter verschiedenen, wechselnden Bezeichnungen auftreten. Da erscheint Netanjahus rechtskonservative Likud-Partei den Wählern als stabiler Faktor.

Ein Regierungsprogramm gegen die Demokratie und den Rechtsstaat

Allerdings ist seine Anhängerschaft überschaubar. Bei den kürzlich abgehaltenen Wahlen bekam er nur 30 Mandate. Gemeinsam mit religiösen Kleinparteien und nationalistisch-faschistischen Splittergruppen konnte Netanjahu allerdings 64 der 120 Parlamentssitze erobern. Dabei nimmt er in Kauf, dass zwei Minister vorbestraft sind und bei einem der Oberste Gerichtshof die Beteiligung an der Regierung untersagt.

Mit dem Höchstgericht ist die neue Koalition auf Konfrontationskurs: Man will durchsetzen, dass in der Knesset, dem israelischen Parlament, Urteile des Obersten Gerichts mit einfacher Mehrheit aufgehoben werden können. Auch ist eine Regelung geplant, wonach Netanjahu Ministerpräsident bleiben könnte, falls er in seinem laufenden Korruptionsprozess verurteilt wird. Gegen die Palästinenser will die neue Regierung mit aller Härte vorgehen, Homosexualität will man bekämpfen, Frauenrechte einschränken, Ehen von Juden und Nichtjuden verbieten.

Plötzlich bilden die anderen Parteien eine Einheit und demonstrieren gemeinsam

Mit diesem Paket hat Netanjahu urplötzlich das andere, in zahlreiche Parteien zersplitterte Israel geeint. Liberale, Linke, gemäßigte Religiöse gehen gemeinsam mit den verschiedensten Bevölkerungsgruppen, von den Richtern bis zu den IT-Experten, von den Lehrern bis zu den Gewerbetreibenden auf die Straße. Vergangene Woche waren es allein in Tel-Aviv 80.000, dieses Wochenende rechnet man in ganz Israel mit 200.000. Allerdings wird der Aufschrei vorerst nichts an der Regierungskoalition ändern. Und vor allem nichts an den Ursachen, die zum Wahlresultat und zur aktuellen Regierung geführt haben.

Die Vernichtung von Israel ist nach wie vor das Ziel der palästinensischen Führer

Israels Hauptproblem besteht in der permanenten Kriegsgefahr. Das erklärte und nie korrigierte Ziel der palästinensischen Organisationen, PLO in Westjordanland und Hamas im Gazastreifen, besteht in der Vernichtung des Staates Israel und seiner Bevölkerung. Daran haben die vielzitierten Friedensprozesse nichts geändert. Unterstützt werden die Palästinenser durch den Iran, der ebenfalls die Vernichtung Israels fordert. Zu den entscheidenden Förderern der Palästinenser gehört die EU, die von 2014 bis 2022 über 2 Milliarden Euro überwiesen hat. Außerdem zahlt Katar jährlich rund 300 Millionen Dollar an die Hamas. Zuletzt gab es Spannungen zwischen dem Iran und der Hamas, daraufhin fördert Teheran eine kleinere Terror-Organisation, die im vergangenen Sommer Tel-Aviv bombardierte.

Ernsthafte Friedensverhandlungen werden stets von den Terroristen sabotiert

Seit der Staatsgründung im Mai 1948 bis heute ist offenkundig, dass alle Friedensbemühungen aussichtslos sind. Eine Änderung ist nur möglich, wenn die terroristische Führung der Palästinenser einer demokratischen Vertretung weicht. Dies würde sich vermutlich bei einer Wahl in Palästina ergeben, doch verhindern die PLO und die Hamas seit über fünfzehn Jahren Wahlen. Somit ist für den Großteil der israelischen Bevölkerung nur eine harte und unnachgiebige Politik gegenüber den Palästinensern und dem Iran sinnvoll, und für diese Linie steht Netanjahu.

Demgegenüber sind alle liberalen und linken Parteien für weitere Friedensverhandlungen. Die Erfahrung zeigt aber, dass ernsthafte Friedensgespräche stets durch besonders zahlreiche und brutale Attentate sabotiert werden, weil im Frieden die terroristischen Führer funktionslos wären.

Die neue israelische Regierung will Terror mit Terror beantworten

Bislang waren die nicht demokratisch legitimierten Anführer der Palästinenser für das Scheitern der Friedensbemühungen in erster Linie verantwortlich. Mit Netanjahus neuen Partnern ändert sich das Bild.

Der neue Minister für die Nationale Sicherheit, Itamar Ben Gvir, betreibt die gleiche Politik wie die Palästinenser, allerdings aus israelischer Sicht. Ben Gvir wurde schon mehrfach wegen terroristischer Aktivitäten verurteilt und durfte als Terrorist nicht Mitglied der israelischen Armee werden.

Seine Politik: Die Palästinenser sollen aus ihren Gebieten vertrieben werden, wohin wird nicht präzisiert, die Israelis sollen unbeschränkt Siedlungen in den besetzten Gebieten errichten. Ben Gvir verherrlicht auch die Ermordung des früheren, sozialistischen, israelischen Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin durch einen israelischen, rechtsextremen Fanatiker.

1995 hatte Rabin mit dem damaligen Palästinenser-Führer Jassir Arafat das so genannte Osloer-Abkommen geschlossen, das die Autonomie der Palästinenser stärkte. Dieser von US-Präsident Bill Clinton geförderte Friedensprozess wurde und wird von den Rechtsparteien als Verrat an Israel bezeichnet.

Heute stehen einander die israelische Regierung und die palästinensische Führung mit dem spiegelbildlich gleichen Anspruch gegenüber, das Territorium der anderen zu annektieren und die Einwohner zu vertreiben. In der Vergangenheit wirkte eine Pattstellung zwischen Israelis und Palästinensern lähmend und daher förderlich für den Frieden. Fraglich ist, ob das so bleibt, wenn jetzt auf beiden Seiten Terroristen agieren.

Vom Kibbuz-Sozialismus der vierziger Jahre zum aktuellen Start-Up-Kapitalismus

Beim Start in den vierziger Jahren dominierte die Begeisterung für den Aufbau des Landes, die Solidarität der Menschen, die dem Holocaust und den Pogromen in Osteuropa entkommen waren. Der Sozialismus in der Form der Kibbuzim erlebte eine Hochblüte: In den landwirtschaftlichen Genossenschaften funktionierte die gemeinsame Arbeit auf dem schwierigen Boden, die gemeinsame Kassa und die gemeinsame Kindererziehung. Der Zusammenhalt hatte auch in der Verteidigung des jungen Staates oberste Priorität.

Die Religion spielte eine Nebenrolle. Den Orthodoxen räumte man eine Sonderstellung ein, befreite sie vom Militärdienst und gewährte ihnen finanzielle Vorteile. Die Gruppe war noch klein, war aber bei Wahlen zur Absicherung der Sozialisten hilfreich.

Heute sieht Israel anders aus. Es ist kein sozialistisches Land mehr, auch die liberalere Sozialdemokratie tut sich schwer. Es ist ein kapitalistisches Land mit einer unruhigen Jugend, die weltweit in der Digitalisierung führend ist, eifrig Start-Ups gründet und diese auch wieder rasch bei einem so genannten „Exit“ verkauft. In dieser lebendigen und abwechslungsreichen Gesellschaft blühen vor allem Tel-Aviv und der umliegende Raum. In dieser Region kam Netanjahu nur auf 17,01 Prozent, die sozialliberale „Jesch Atid“ – deutsch: „Es gibt eine Zukunft“ – auf 32,82 Prozent. Ein derart klares Ergebnis gab es in keiner anderen Stadt. Überall tat sich Jesch Atid schwer in der Auseinandersetzung mit dem Likud und den religiösen Partien.

Die internationale Aufmerksamkeit übersieht, Tel-Aviv ist nicht gleich Israel

Markant ist Jerusalem: Nur 7,47 Prozent für Atid, aber 19,11 für Netanjahu, 14,20 für die Religiösen Zionisten, 18,28 für die Sephardischen Thora-Wächter, abgekürzt SCHAS, und 23,8 Prozent für das „Vereinigte Thora-Judentum“.

Auch wenn Tel-Aviv weltweit im Mittelpunkt des Interesses steht, Tel-Aviv ist nicht gleichzusetzen mit Israel. In Haifa konnte sich Jesch Atid noch behaupten, mit 26,31 Prozent, aber der Likud kam auf 20,94 Prozent. Der Kibbuz-Sozialismus der ersten Stunde ist Geschichte, aber auch der sozialliberale, marktwirtschaftliche Weg ist nicht uneingeschränkt akzeptiert. Die Unzufriedenheit hat viele Erscheinungsformen. Nicht nur das Unbehagen mit den zahlreichen Kleinparteien, die die politische Landschaft als Chaos erscheinen lassen.

Viele junge Israelis finden sich in der materialistischen Gesellschaft nicht zurecht

Israelische Jugendliche sind in einem festen Korsett psychisch gut aufgehoben. Die Schule, die Militärpflicht gleichermaßen für Frauen und Männer, das Studium sorgen für ständige Herausforderungen. Fast 60 Prozent der Israelis in den in Frage kommenden Altersgruppen haben einen akademischen Abschluss, gegenüber 30 Prozent im OECD-Durchschnitt.

Allerdings ist es nicht für alle selbstverständlich, sich nach dem Studium in die Hektik der Start-Up-Szene zu werfen. Die Kritik an einer extrem materialistischen Welt ist oft und deutlich zu hören. Allerdings erscheint auch der Weg in den sozialistischen Kibbuz der Gründer-Generation nicht attraktiv. Somit erweist sich für Viele der Weg in die Religion als Weg in eine geistige Heimat. Dieses Phänomen nützt den religiösen Parteien.

Die traditionell orthodoxe Gruppe umfasst 20 Prozent der israelischen Bevölkerung und zählt also 1,8 Millionen der insgesamt über 9 Millionen Einwohner. Allerdings bilden die streng Gläubigen eine eigene Welt neben der liberalen Gesellschaft, lehnen den Staat Israel als weltlich und nicht der Religion entsprechend ab und verweigern den Militärdienst, wobei sie sich auf ein Privileg aus der Zeit der Staatsgründung berufen.

Diese Problematik ist nach wie vor aktuell und bildet eine permanente Zerreißprobe der israelischen Gesellschaft. Allerdings sorgt die Orientierungslosigkeit vieler Mittzwanziger nach dem Studium für eine stärkere Zuwendung zur Religion. Mehr Eltern als früher geben ihre Kinder in religiös geführte Kindergärten und Schulen.

Viele Zuwanderer kommen in der harten Leistungsgesellschaft nicht mit

Für eine weitere Spannung in der israelischen Gesellschaft sorgen viele Einwanderer der vergangenen Jahrzehnte. Der Zuzug aus der ehemaligen Sowjetunion, die Eiwanderung aus den arabischen Staaten, viele Juden kamen aus Marokko, aus dem Jemen, aus dem Irak und konnten sich nur schwer in Israel zurechtfinden.

Zwar organisiert das Land eine umfassende Schulung und Betreuung der Immigranten, doch herrscht ein enormer Leistungsdruck, die Belastung durch die ständige, existenzielle Bedrohung und die Notwendigkeit, hebräisch zu lernen. Das sind Herausforderungen, die Viele nicht selbstverständlich annehmen und in der Folge enttäuscht und frustriert sind.

Die arabischen Israelis sind nach der erstmaligen Beteiligung an der Regierung enttäuscht

Ein weiteres Spannungsfeld bilden die Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft. Diese stellen – wie die orthodoxen Juden – 20 Prozent der Bevölkerung, also auch etwa 1,8 Millionen. Bei dieser Gruppe handelt es sich nicht um die Bewohner des Westjordanlands und des Gazastreifens, sondern um Israelis, die sich aber von der Politik im Stich gelassen fühlen.

Bei dem nun von der neuen Netanjahu-Regierung abgelösten Kabinett waren mit der „Vereinigten Arabischen Liste“ erstmals die arabischen Israelis in einer Regierung vertreten. Dieses Ereignis war möglich geworden, weil die in Israel selbst lebenden Palästinenser den Staat nicht mehr wie früher kategorisch ablehnen und erkennen, dass die beiden Regime in den besetzten Gebieten keine konstruktive Politik betreiben. Allerdings brachte die Beteiligung an der Regierung nicht die erhofften Verbesserungen für die israelischen Muslime, sodass die Spannungen wieder größer geworden sind.

Das Wahlrecht begünstigt das Auftreten zahlloser Kleinparteien

In diesem von Feinden bedrohten Land mit einer Gesellschaft, in der zahlreiche Spannungen wirken, wäre eine große Koalition die angemessene Regierungsform. Naheliegend wäre eine Zusammenarbeit der 30 Mandate des rechtskonservativen Likud mit den 17 Abgeordneten der sozialliberalen Atid als Kern des Kabinetts, womit das Spektrum der israelischen Gesellschaft in etwa abgebildet wäre.

Benötigt werden mindestens 61. Allerdings haben sich alle Liberalen auf einen Anti-Netanjahu-Kurs eingeschworen. Auch sind Kooperationen generell schwer möglich, wenn in der Knesset 13 Parteien Mandate haben. Einige der 13 sind zudem nur Wahlbündnisse, die gebildet wurden, um Mini-Partien die Überwindung der Hürde für den Eintritt in das Parlament zu ermöglichen. Auch Ben Gvir ist von einem derartigen Bündnis abhängig. Man braucht 3,25 Prozent der Stimmen, um in die Knesset zu kommen, ein angesichts der Parteienanzahl offenkundig viel zu niedriger Satz.

                                                                            ***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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