Die weltweite Knappheit an Nahrungsmitteln hält weiter an, was das Risiko von akuten Nahrungskrisen und sozialen Verwerfungen kontinuierlich erhöht. Obwohl sich die Preise von Weizen und Kunstdünger (Ammonium-Nitrat) schon in der zweiten Jahreshälfte 2022 normalisiert hatten, sind die Lebensmittelpreise – ganzheitlich und global betrachtet – immer noch auf historischen Höchstständen, wie der „FAO World Food Price Index“ zeigt. 2023 startete auf etwas niedrigeren Niveaus, jedoch müssen die aggregierten Werte vom letzten Jahr ein Grund zur Sorge sein, denn diese waren geradezu erschreckend. Im Sommer 2022 erreichten die Nahrungsmittelpreise ein Rekordhoch, selbst bei einer inflationsbereinigten Betrachtung.
Das hat entsprechende Auswirkungen in Entwicklungsländern. Beispielsweise sind auf den Philippinen mehrere Personen in eine Schule eingedrungen, um dort einen Raum der Lehrer-Eltern-Vereinigung auszurauben. An der Tafel hinterließen sie eine Botschaft, dass sie zu der Tat gezwungen wurden, weil sie kein Geld mehr zum Kauf von Reis für ihre Familien hatten. Dies berichtete die Nachrichtenseite „cebudailynews“.
Eskalation in Pakistan
Ägypter mussten aufgrund einer extremen Weizenknappheit zwischenzeitlich das 20-fache der Weltmarktpreise für das beliebteste Mehlgetreide bezahlen. In Pakistan, das wie die Philippinen gar nicht zu den ärmsten Ländern der Welt gehört, rangelten sich neulich hunderte Menschen um einige Kilo subventioniertes Weizenmehl, wobei ein Mann starb und mehrere Personen verletzt wurden. Im letzten Sommer wurden durch verheerende Fluten rund 80 Prozent der Anbauflächen in dem asiatischen Entwicklungsland geschädigt, weshalb man stark auf Importe angewiesen ist.
Obwohl die Weltmarktpreise für Weizen seit den Spitzenständen mehr als 50 Prozent nachgegeben haben, sind Nahrungsmittel für viele Pakistaner – insbesondere in ländlichen Gebieten – immer noch zu teuer, weil die hohe Inflation die Kaufkraft in der breiten Bevölkerung pulverisiert hat. „In den letzten vier Jahren haben die Arbeiter in Pakistan rund 30 Prozent ihrer Kaufkraft verloren“, erklärt Uzair Younus, Direktor der Pakistan-Initiative des Atlantic, gegenüber dem Time-Magazin. „Das sind die Bürger der unteren Mittelklasse und der Unterschicht, die im Grunde 2 Dollar pro Tag verdienen.“
Nur 2 US-Dollar am Tag, also rund 60 Dollar im Monat. 2,15 Dollar pro Tag ist die Einkommensgrenze, unter der die Weltbank extreme Armut definiert. Ein signifikanter Teil der pakistanischen Bevölkerung liegt also darunter. Im Nachbarland Indien ist es ähnlich schlimm, hier befindet sich rund ein Zehntel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze der Weltbank. Rekord-Weizenpreise haben die Regierung des bevölkerungsreichen Landes zu neuen Maßnahmen veranlasst, nachdem letztes Jahr bereits ein Exportverbot für die heimischen Landwirte beschlossen wurde. Großverbrauchern wie Mehlmühlen wurde drei Millionen Tonnen Weizen aus Notbeständen zugeteilt und der Weizenpreis in Indien ist infolgedessen um 13 Prozent zurückgelaufen.
Ernährungskrise konzentriert sich in Afrika
Besonders akut ist die Nahrungsmittel-Knappheit auf dem afrikanischen Kontinent und dort insbesondere in Ländern wie Nigeria, Somalia, Südsudan, Mozambique, Ghana und Kenia. Selbst Namibia, eines der stabilsten Länder Afrikas, ist erheblich von der Ernährungskrise betroffen. Staaten wie Ägypten, Tunesien und Algerien schlagen sich im relativen Vergleich gut, leiden aber immer noch unter den Nachwirkungen der temporär vollständig ausbleibenden und aktuell nur schleppend wieder anlaufenden Getreide-Lieferungen aus der Ukraine.
Russland und die Ukraine sind die weltweit größten Getreide-Lieferanten und zugleich bedeutende Exporteure von Düngemittel. Insbesondere für Entwicklungsländer im Nahen Osten und Afrika sind die beiden Kriegsparteien unverzichtbare Kornkammern. Schon vor Kriegsbeginn hatten Klimakatastrophen und die Coronakrise das Hungerproblem in ärmeren Regionen der Welt verstärkt.
Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) spricht von 828 Millionen Menschen, deren nächste Mahlzeit unsicher ist. Davon leiden 349 Millionen Menschen in 79 Ländern unter akutem Hunger, wobei diese Zahl seit Anfang 2020 um bedenkliche 150 Prozent gestiegen ist (damals „nur“ 135 Millionen).
Der Generaldirektor des WFP, David Beasley, äußerte sich zum Jahresauftakt gegenüber der Time mit warnenden Worten: „Vielleicht haben wir im Jahr 2023 nicht genug Nahrung für alle. Es besteht kein Zweifel daran, dass wir genug Nahrungsmittel für die Weltbevölkerung produzieren können […] Die Frage ist nur, ob wir das - aufgrund von Kriegen und Konflikten, Korruption und Destabilisierung - auch tun. Sehen Sie, vor 200 Jahren gab es 1,1 Milliarden Menschen auf dem Planeten Erde, und 95 Prozent von ihnen lebten in extremer Armut. Heute leben weniger als 10 Prozent in extremer Armut. Aber in den letzten fünf Jahren haben wir uns absolut rückwärts entwickelt - und das nicht nur ein kleines bisschen. Das sollte jedem einen gehörigen Schrecken einjagen.“
Und weiter: „Wenn Sie wissen wollen, in welchen Ländern es in den nächsten 12 bis 18 Monaten zu Destabilisierung und Massenmigration kommen könnte, beginnen Sie mit den 49 Ländern, die gerade an der Schwelle zur Hungersnot stehen. Und die neuen Zahlen zur Weizenproduktion, zur Getreideproduktion, in Indien, Argentinien, Brasilien, sind rückläufig, rückläufig, rückläufig. Die Frage ist nun, wie wir das ändern können. Denn es gibt keine schnelle Lösung.“
Gemäß Welternährungsprogramm ist die Zahl der Menschen in Ostafrika, deren Ernährungssicherheit stark gefährdet ist, allein im letzten Jahr um 60 Prozent und in Westafrika um 40 Prozent gestiegen. Jedoch hat nicht ganz Afrika die Folgen der Ukraine-Krise einfach so hingenommen. Äthiopien zum Beispiel begann nach dem russischen Angriff auf die Ukraine, den eigenen Getreideanbau zu forcieren. Ein knappes Jahr später hat sich das ostafrikanische Land zu einem Getreideexporteur entwickelt, wie die Agrarkommissarin der Afrikanischen Union, Josefa Sacko, gegenüber dem Nachrichtenportal Euractiv betont.
Die Politikerin erklärt weiter, was für ein großes Potential für ganz Afrika besteht, wo derzeit 60 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche nicht genutzt werden. „Wir haben das Ökosystem, um Afrika und die Welt zu ernähren“, so Sacko. 45 Milliarden Dollar jährlich gebe Afrika für Nahrungsmittel-Importe aus – eine gewaltige Summe, die man stattdessen in die heimische Landwirtschaft stecken könnte. Diese wiederum könnten zu weitaus günstigeren Preisen anbieten als die Importeure, sobald eine große Industrie entstanden sei.
Hunger führt zu sozialer Instabilität
Sacko warnte auch vor sozialem Sprengstoff, der sich aus der angespannten Lage ergebe und viele afrikanische Länder bedrohe. Das Risiko von sozialen Verwerfungen und möglicherweise sogar Völkerwanderungen infolge von Hungerkrisen konzentriert sich in Afrika, findet sich aber auch in Teilen Asiens, des Nahen Ostens und Südamerikas. Kriege und innere Konflikte sind dabei nach wie vor das Hauptproblem: 60 Prozent der hungernden Menschen auf der Welt leben in Gebieten, die von Krieg und Gewalt betroffen sind.
Hinzu kommt, dass die Nahrungskrisen in den betroffenen Ländern mit großen wirtschaftlichen Problemen korrelieren. Soziale Unruhen sind da vorprogrammiert. Die asiatische Entwicklungsbank schätzt, dass sich der weltweite Anteil der Menschheit in extremer Armut von 2020 bis 2022 fast verdoppelt hat. Laut Weltbank befinden sich weltweit 70 Länder in einer problematischen Verschuldungs-Situation. 12 Entwicklungsländer sind akut gefährdet, weisen also ein erhöhtes Risiko eines Staatsbankrotts auf.
Welche das sind, lässt sich dem „Bloomberg Sovereign Debt Vulnerability Ranking“ entnehmen, welches die Finanzseite Visualcapitalist im Sommer 2022 (also auf dem absoluten Hochpunkt der globalen Nahrungspreise) aufbereitet hat. Das Ranking kategorisiert anhand von Finanz-Kennzahlen wie den Zinsen auf Staatsanleihen, der Zinslast und den Staatsschulden im Verhältnis zum BIP, bei welchen Ländern das Ausfallrisiko am höchsten ist.
Anmerkung: Länder ohne klassischen Anschluss an das globale Finanzsystem können auf diese Weise nicht bewertet werden und deshalb nicht auf der Bloomberg-Liste auftauchen.
Zahlreiche in diesem Artikel genannte Länder tauchen unter den ersten 12 auf, unter anderem Ghana, Kenia, Ägypten, Pakistan und etwas überraschend auch Namibia. Wenig überraschend sind die Ukraine und Argentinien vertreten. Nicht so weit oben erwarten würden die meisten vermutlich Bahrain (Platz 9) und Brasilien (Platz 11).
Dort wo ein hoher Anteil von Menschen in extremer Armut mit akuten Nahrungsproblemen und äußerst wackeligen Staatsfinanzen zusammenkommt, besteht das größte Risiko von gewaltigen sozialen Unruhen und gesellschaftlichen Umwälzungen. Entsprechend sollte man die Entwicklungen in zum Beispiel Ghana und Kenia genauestens verfolgen. Auch in Pakistan und Ägypten brodelt es gewaltig, obwohl deren Bevölkerung – relativ gesehen – gar nicht so arm ist wie bei anderen Ländern auf der Liste.