Politik

Ukraine-Krieg: „Folgen westlichen Waffen bald westliche Soldaten?“

Lesezeit: 6 min
12.02.2023 00:12
Nach Ansicht des Generals a. D. Harald Kujat befindet sich das westliche Bündnis in einer Eskalationsspirale mit potentiell verheerenden Konsequenzen. Kujat war Generalinspekteurs der Bundeswehr und Vorsitzender des NATO- Militärausschusses, NATO-Russland-Rates und der NATO-Ukraine-Kommission der Generalstabschefs.
Ukraine-Krieg: „Folgen westlichen Waffen bald westliche Soldaten?“
Harald Kujat war von 2002 bis 2005 Vorsitzender des NATO- Militärausschusses, NATO-Russland-Rates und der NATO-Ukraine-Kommission der Generalstabschefs sowie als Vorsitzender des Nato-Militärausschusses der ranghöchste Nato-General. Das Bild zeigt ihn im Februar 2004 bei der Inspektion der Ehrengarde vor dem Verteidigungsministerium in Kiew. (Foto: dpa)

Mehr zum Thema:  
Benachrichtigung über neue Artikel:  

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Welche militärische Bedeutung hat die Lieferung westlicher Panzer, darunter solche vom Typ Leopard, für den Krieg in der Ukraine?

Harald Kujat: Die ukrainischen Streitkräfte sind personell und materiell in einer äußerst kritischen Lage. Sie haben tapfer gekämpft und mehr erreicht als man ihnen zugetraut hat. Deshalb wäre es jetzt vernünftig, noch vor der erwarteten großen Offensive Russlands einen Verhandlungsfrieden anzustreben. Selenskyi ist dazu jedoch nicht bereit und möchte alle besetzten Gebiete und die Krim erobern. Der ukrainische Oberbefehlshaber General Saluschnyi sagt dagegen, wenn er nicht mindestens 300 moderne Kampfpanzer, 600-700 Schützenpanzer und 500 Haubitzen erhält, sei er nicht einmal in der Lage, die seit dem 24. Februar 2022 von Russland eroberten Gebiete zu befreien.

Der Westen wird die geforderten Stückzahlen nicht liefern und der Einsatzwert moderner westlicher Panzer ist in der gegenwärtigen militärischen Lage relativ niedrig. Denn die ukrainischen Streitkräfte sind nicht fähig, das Gefecht der verbundenen Waffen zu führen, in dem die Stärken des einen Waffensystems die Schwächen eines anderen ausgleicht. Ein hoher Einsatzwert wird nur durch diese dynamische Operationsführung in einer langen Ausbildung und in Übungen auf allen Führungsebenen erreicht und setzt das synergetische Zusammenwirken aller dafür notwendigen Waffensysteme - wie die Instrumente eines Orchesters - voraus. Ohne diese Fähigkeit ist das Risiko hoch, dass die Waffen frühzeitig ausgeschaltet werden oder in russische Hände fallen.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Welche außenpolitischen Folgen könnte die Lieferung der Panzer Ihrer Ansicht nach sich ziehen?

Harald Kujat: Bundeskanzler Scholz hat sich angesichts des gezielt aufgebauten Drucks einiger weniger Verbündeter und deutscher Medien doch recht standhaft verhalten und klug und besonnen gehandelt. Das hat ihm bei der amerikanischen Regierung keine Sympathien eingebracht, die noch beim Besuch Selenskyjs im Dezember die Lieferung moderner Kampfpanzer strikt abgelehnt hat. Man wird abwarten müssen, ob die USA die M 1 Abrams-Panzer etwa zeitgleich mit den deutschen Leoparden liefern oder ob die amerikanische Regierung auf Zeit spielt, um Deutschland doch noch gegenüber Russland zu exponieren.

Ich halte es für äußerst bedenklich, dass sich durch die Lieferung westlicher Panzer die Eskalationsschraube weiter und schneller dreht. Bereits als sich eine positive Entscheidung abzeichnete, forderte die Ukraine zusätzlich Kampfflugzeuge, Kriegsschiffe, U-Boote und weitreichende Raketen. Jetzt müsste eigentlich jeder verstehen, dass die ukrainische Regierung ihre Möglichkeiten weit überschätzt, diese Waffensysteme selbst einzusetzen. Sie hat offensichtlich den Versuch nicht aufgegeben, die Nato in den Krieg hineinzuziehen. Folgen den westlichen Waffen bald westliche Soldaten? Der Bundeskanzler betont seine Entschlossenheit, einen Krieg zwischen Russland und der Nato zu verhindern. Aber mit welcher Strategie die Bundesregierung dies angesichts der sich immer schneller drehenden Eskalationsschraube erreichen will, ist nicht erkennbar. Sie kann dem Friedensgebot des Grundgesetzes nur gerecht werden, wenn sie alles in ihrer Macht Stehende für einen Verhandlungsfrieden unternimmt. Wir dürfen die Entscheidung über unsere Sicherheit und die Zukunft des europäischen Kontinents nicht der ukrainischen Regierung überlassen.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Ist Ihnen bekannt, ob es eine „Exit- Strategie“ auf Seiten der NATO gibt? Oder stehen wir von einer unkontrollierbaren Eskalation der Krise?

Harald Kujat: Die Bundesregierung könnte in der Nato und gegenüber den USA auf einer Strategie zur Beendigung des Krieges bestehen. Zumal die Lage der Ukraine immer kritischer wird. Etwa indem die USA entweder direkt mit Russland über eine Beendigung des Krieges sprechen, was wohl die größte Aussicht auf Erfolg hätte, oder die Ukraine zu einem Verhandlungsfrieden gedrängt wird. Die Hauptakteure in diesem Krieg sind Russland und die USA. Von ihnen hängt das Schicksal der Ukraine und möglicherweise die Zukunft Europas ab. Sollte der ukrainische Präsident weiter nicht zu Verhandlungen bereit sein, müssten ihm die Grenzen der westlichen Unterstützung aufgezeigt werden.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Welche Länder des Westens profitieren von der aktuellen Entwicklung? Und welche müssen Opfer bringen, um den Konfrontationskurs beizubehalten?

Harald Kujat: Offensichtlich bringen schon jetzt die Ukraine und danach Deutschland die größten Opfer. Wirtschaftliche Vorteile sind bisher lediglich für die USA entstanden. Welche verheerenden Folgen dieser Krieg haben wird, wenn er einmal endet, ist bisher überhaupt nicht abzusehen.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Hätte die deutsche Diplomatie etwas tun können, um den Krieg zu vermeiden? Und wenn ja: Was?

Harald Kujat: Man kann nicht mit Bestimmtheit sagen, ob der Krieg hätte verhindert werden können. Aber zweifellos hätten ernsthafte Verhandlungen die Aussicht darauf deutlich verbessert: Im Wesentlichen wäre es um einen Verzicht der Ukraine auf die Nato-Mitgliedschaft und auf die Stationierung amerikanischer und anderer westlicher Streitkräfte auf ukrainischem Territorium, die Bereitschaft zu größerer Transparenz bei den amerikanischen Systemen des Nato-Raketenabwehrsystems und um größere Minderheitsrechte für die russischsprachige Bevölkerung im Donbass, also die Realisierung des Minsk II-Abkommens, gegangen. Ich bin fest davon überzeugt, dass Deutschland konstruktive Verhandlungen in der Nato und gegenüber den USA - notfalls mit eigenen Vorschlägen - hätte durchsetzen können.

Eine wesentliche Ursache für diesen Krieg ist die Tatsache, dass die Ukraine ihre Verpflichtung aus dem Minsk II-Abkommen nicht erfüllt hat. Vereinbart war, dass die ukrainische Regierung der russischsprachigen Minderheit im Donbass bis Ende 2015 durch eine Verfassungsänderung größere Autonomie gewährt und ihnen Minderheitsrechte zugesteht, die in der Europäischen Union die Regel sind. Diese Vereinbarung war durch die Vermittlung Deutschlands und Frankreichs zustande gekommen. In einer Resolution der UN-Generalversammlung sowie in einer Zusatzerklärung hatten sich die Vertragspartner ausdrücklich zur Realisierung verpflichtet. Deutschland und Frankreich haben jedoch sieben Jahre nichts unternommen, um die Vereinbarung durchzusetzen. In dieser Zeit sind nach offiziellen Angaben der OSZE durch ständige Scharmützel an der Kontaktlinie viele Ukrainer, die meisten russischsprachige ukrainische Bürger, getötet worden. Heute wissen wir, weshalb Deutschland und Frankreich stillgehalten haben. Frau Merkel hat kürzlich erklärt, und Herr Hollande hat das bestätigt, dass sie diese Vereinbarung vermittelt hätten, um der Ukraine Zeit zu verschaffen, die diese für die Aufrüstung der ukrainischen Streitkräfte genutzt hat. In der Zeit bis zum Beginn des Krieges ist die Ukraine von den Vereinigten Staaten massiv mit Waffensystemen beliefert worden, ihre Soldaten wurden daran ausgebildet und haben an einer Reihe von Manövern unter Beteiligung von NATO-Streitkräften teilgenommen.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Die Sprengung der Nordstream-Pipelines bringt Deutschland in eine prekäre wirtschaftliche Situation, dem Land droht eine massive De-Industrialisierung. In wessen Interesse kann dies sein?

Harald Kujat: Viele waren daran interessiert, dass kein Gas mehr von Russland geliefert wird. Aus geopolitischen, wirtschaftlichen oder finanziellen Gründen. Es gibt Indizien, aber keine Beweise und kein Täterbekenntnis. Jedenfalls ist mir weder das eine noch das andere bekannt. Aber ich bin ganz sicher: Die Sonne bringt es an den Tag, und zwar in nicht allzu langer Zeit.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Welche geopolitischen Perspektiven sehen Sie für Deutschland, sollte es dauerhaft von der Zufuhr billiger Energie abgeschnitten bleiben, seine Beziehungen zu Russland irreparabel zerstört sein und sich mit dem „Intermarum“, angeführt von Polen, ein Sperrriegel zwischen Deutschland und dem eurasischen Wirtschaftsraum herausbilden?

Harald Kujat: Das Intermarum ist ein strategisches Konzept aus den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts, mit dem der damalige polnische Präsident Marschall Pilsudski ein Staatenbündnis innerhalb des Dreiecks anstrebte, das aus der Ostsee, dem Schwarzen Meer und der Adria gebildet wird. Damit sollte in der Tat ein Sperrriegel zwischen Deutschland und Russland errichtet werden. Seit einigen Jahren fördert die polnische Regierung eine Renaissance dieses Projekts, das durch den Ukrainekrieg zusätzliche Aktualität erlangt. Präsident Duda hat zwar 2016 in einer Rede in Kiew erklärt, dass Polen dieses Projekt innerhalb der Integration in die EU und die Nato verfolgt. Eine wichtige Rolle spielt dabei wirtschaftliche Zusammenarbeit. Der Ukrainekrieg könnte allerdings Anlass sein, auch die militärische Zusammenarbeit zu verstärken. Dann würde das Intermarum durchaus Sprengkraft sowohl für die EU als auch für die NATO entwickeln. Es ist kein Zufall, dass die polnischen Bestrebungen von einigen konservativen Kräften in den USA geteilt werden. Der amerikanische Politologe und Geostratege George Friedman hat erklärt, dass es in den USA erhebliche Bedenken gegen die deutsch-russischen Beziehungen gibt. Die USA seien immer in Sorge gewesen, durch die Verbindung deutscher Technologie und deutschen Kapitals mit russischen Rohstoffen und russischem Produktionspotential könnte in Europa ein Machtfaktor entstehen, der unbedingt verhindert werden muss.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Entsteht gerade eine Achse Washington-London-Warschau-Kiew, wie es Oskar Lafontaine formuliert hat?

Harald Kujat: Die Bundesregierung hat sich in den 90er Jahren mehr als jeder andere Nato-Mitgliedsstaat dafür eingesetzt, Polen den Weg in die Allianz zu öffnen. Es gab auch längere Zeit gemeinsam mit Frankreich eine sehr vertrauensvolle sicherheitspolitische Abstimmung im Weimarer Dreieck und eine enge bilaterale militärische Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Polen, die sich auch positiv auf die NATO ausgewirkt hat. Ein Beispiel dafür ist das deutsch-polnisch-dänische Korps in Stettin. Ich finde es außerordentlich bedauerlich, dass sich das polnisch-deutsche Verhältnis in den letzten Jahren so negativ entwickelt hat. Ich glaube auch nicht, dass es langfristig im wohlverstanden polnischen Interesse ist, ausschließlich auf die Vereinigten Staaten zu setzen und Deutschland zu brüskieren. Dagegen spricht sowohl die geostrategische Lage beider Staaten als auch die Funktionalität der NATO-Strategie.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wie bewerten Sie vor diesem Hintergrund die immensen Reparationsforderungen Polens gegenüber Deutschland?

Harald Kujat: Ich kann nicht auf die völkerrechtlichen Aspekte eingehen, zumal ich die polnischen Motive für eher politischer Natur halte. ich denke jedoch, es wäre auch für Polen an der Zeit zu akzeptieren, dass dieses Kapitel abgeschlossen ist und Polen nach vorn schauen sollte. Die enge Freundschaft zwischen Deutschland und Frankreich ist dafür ein positives Beispiel und ein großer Gewinn für Europa.

Info zur Person: Harald Kujat (Jg. 1942), General a. D., war von 2000 bis 2002 als Generalinspekteur der Bundeswehr der ranghöchste deutsche Soldat. Von 2002 bis 2005 war er Vorsitzender des NATO- Militärausschusses, NATO-Russland-Rates und der NATO-Ukraine-Kommission der Generalstabschefs sowie als Vorsitzender des Nato-Militärausschusses der ranghöchste Nato-General.


Mehr zum Thema:  

DWN
Politik
Politik Gruselkabinett oder „The Apprentice“-Show? Wie Trumps Regierung aussehen könnte
08.11.2024

Tech-Milliardär, Impfgegner, Migrations-Hardliner: „Präsident-Elekt“ Trump hat eine Reihe von Verbündeten, die sich wichtige Posten...

DWN
Politik
Politik Habeck ist Kanzlerkandidat der Grünen - Wahlkampfmodus nach dem Ampel-Aus
08.11.2024

Robert Habeck ist der Kanzlerkandidat der Grünen. Das melden verschiedene Medien am Freitagvormittag. Nach dem Ampel-Aus ist spätestens...

DWN
Politik
Politik Bundestag beschließt Antrag zu Bekämpfung von Antisemitismus
08.11.2024

Erste Plenarsitzung nach dem Ampel-Aus: Ein Antrag zum Schutz jüdischen Lebens findet eine große Mehrheit im Bundestag. Es geht darum, wo...

DWN
Weltwirtschaft
Weltwirtschaft Nach US-Wahl: EU stärkt Wettbewerbsfähigkeit - kommt die Steuer auf Kryptowährungen?
08.11.2024

Nach dem deutlichen Wahlsieg von Donald Trump bei der US-Präsidentschaftswahl beraten die Regierungschefs der Europäischen Union an...

DWN
Politik
Politik Selenskyj: Waffenstillstand in der Ukraine nur mit Sicherheitsgarantien möglich
08.11.2024

Ein Waffenstillstand im Konflikt mit Russland ist laut dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ohne Sicherheitsgarantien für die...

DWN
Weltwirtschaft
Weltwirtschaft Aktie der Munich Re: Katastrophen kosten global über 100 Milliarden
08.11.2024

Unwetterschäden kosten die Versicherer viel Geld. Die Tendenz im mehrjährigen Schnitt: steigend.

DWN
Politik
Politik Neuwahltermin weiter unklar - setzt die Minderheitsregierung noch eine Rentenreform um?
08.11.2024

Wann wird Deutschland neu wählen? Nach dem Zerfall der Ampel-Koalition fordert Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU) einen raschen...

DWN
Politik
Politik Nach Trump-Wahl: Nato will höhere Verteidigungsausgaben - Europa sonst ungeschützt
08.11.2024

In Europa reichen Verteidigungsausgaben von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts nicht aus, um ohne den Schutzschirm der USA...