In der vergangenen Woche hat Russland angekündigt, seine Öl-Fördermenge um eine halbe Million Barrel pro Tag zu kürzen. Vizeregierungschef Alexander Nowak erklärte die Reduzierung der Fördermenge damit, dass Russland all jenen, die sich am Preisdeckel gegen russisches Öl beteiligen, "freiwillig" kein Öl mehr liefern werde, wie die Nachrichtenagentur Interfax am Freitag berichtete.
Doch westliche Beobachter äußerten Zweifel daran, ob die Reduzierung der Öl-Fördermenge durch Russland tatsächlich freiwillig geschieht oder ob das Land nicht vielmehr dazu gezwungen ist, weil den russischen Unternehmen wegen der westlichen Sanktionen die nötige Technologie fehle, die Öl-Förderung im bisherigen Maße aufrechtzuerhalten.
"Sie waren nicht freiwillig, sondern wurden ihnen aufgezwungen", sagte Kadri Simson, EU-Kommissar für Energie, in einem Interview in Kairo. "Sie sind nicht in der Lage, die Produktionsmengen aufrechtzuerhalten, weil sie keinen Zugang zur notwendigen Technologie haben. Doch die Daten sprechen eine andere Sprache, wie Bloomberg berichtet.
Russische Öl-Unternehmen bohren wie lange nicht mehr
Russische Unternehmen haben demnach im vergangenen Jahr die meisten Bohrungen auf ihren Ölfeldern seit mehr als einem Jahrzehnt durchgeführt. Und es gibt kaum Anzeichen dafür, dass die westlichen Sanktionen oder der Weggang einiger großer westlicher Firmen den so genannten Upstream-Betrieb direkt beeinträchtigt hätten.
Dass Russland die Sanktionen des Westens zumindest im Bereich Öl-Förderung scheinbar ohne Probleme wegsteckt, ist auch eine Erklärung dafür, das die russische Ölproduktion in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres wieder anstieg, obwohl der Westen zusätzliche Exportbeschränkungen gegen Russland verhängte.
"Die Industrie arbeitet im Wesentlichen weiter wie bisher", zitiert Bloomberg Vitaly Mikhalchuk, Leiter des Forschungszentrums von Business Solutions and Technologies (BST), der früheren russischen Einheit der Beratungsfirma Deloitte & Touche. "Russland konnte die meisten Kompetenzen, Vermögenswerte und Technologien im Bereich Öldienstleistungen beibehalten."
Die russische Ölindustrie macht derzeit den dramatischsten Wandel seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion durch. Denn westliche Ölkonzerne wie BP, Shell und Exxon Mobil und einige ihrer Dienstleister haben sich aus Russland zurückgezogen. Und Europa führte außerdem "umfassende Ausfuhrbeschränkungen für Ausrüstungen, Technologien und Dienstleistungen für die russische Energiewirtschaft" ein.
Dennoch bohrten russische Ölplattformen im vergangenen Jahr insgesamt mehr als 28.000 Kilometer tief, so tief wie seit über einem Jahrzehnt nicht mehr, wie aus den von Bloomberg eingesehenen Branchendaten hervorgeht. Die Gesamtzahl der begonnenen Bohrungen stieg demnach um fast 7 Prozent auf über 7.800, wobei die meisten großen Ölgesellschaften ihre Vorjahresergebnisse übertrafen.
Warum floriert Russlands Ölindustrie trotz Sanktionen?
Mehrere Faktoren haben dazu beigetragen, dass die russische Erdölindustrie weiterhin in Schwung bleibt. Erstens entfielen nach Angaben von Vygon Consulting 2021 lediglich 15 Prozent des gesamten Öldienstleistungssegments des Landes auf internationale Spitzenanbieter. Der Großteil des Marktes entfällt hingegen auf die internen Einheiten einheimischer Produzenten wie Rosneft, Surgutneftegas und Gazprom.
Laut einem Bericht des in Moskau ansässigen Beraters Consulting nutzen russische Unternehmen ausländische Auftragnehmer, wenn sie Hightech-Dienstleistungen und -Ausrüstung oder Software benötigen. Aber solche Dinge werden in der Regel nicht benötigt, um Öl aus bestehenden Feldern zu fördern.
Zweitens haben einige der bedeutendsten westlichen Öldienstleister Russland gar nicht verlassen. SLB und Weatherford International setzen ihre Tätigkeit in Russland fort, allerdings mit einigen Einschränkungen. SLB-Chef Olivier Le Peuch sagte im Juli, dass sein Unternehmen aufgrund seiner Struktur in Russland arbeiten könne, ohne dabei gegen die Sanktionen zu verstoßen.
Drittens haben die beiden Öldienstleistungsriesen Halliburton und Baker Hughes, die Russland im Zuge der westlichen Sanktionen gegen das Land verlassen haben, ihre dortigen Geschäfte an das zurückbleibende Management verkauft. Auf diese Weise konnten die Einheiten Personal und Fachwissen behalten, so Victor Katona, ein Rohölanalyst bei Kpler.
Russland kommt über Umwege an Hightech
Das Hauptproblem für Russlands Ölindustrie ist laut Business Solutions and Technologies die Beschaffung westlicher Hightech-Ausrüstung. Doch "diese Probleme werden durch Importe über Zwischenhändler in befreundeten Staaten oder durch die Suche nach alternativen Lieferanten in China gelöst", so Mikhalchuk von BST.
Nachdem die russische Ölproduktion im April letzten Jahres einen Tiefstand von 10,05 Millionen Barrel pro Tag erreicht hatte, stieg sie zum Ende des Jahres wieder auf rund 10,9 Millionen Barrel pro Tag an und blieb im Januar in der Nähe dieses Niveaus. In der Folge sind Russlands Öl-Exporte auf dem Seeweg kürzlich auf den höchsten Stand seit Juni letzten Jahres gestiegen.
Doch auch wenn die Auswirkungen der Sanktionen im vorgelagerten Bereich derzeit begrenzt sind, so steht die russische Ölindustrie vor anderen Risiken. Denn das Land verfügt nicht über die Kapazität, Öl in großem Umfang zu lagern. Wenn also die Unternehmen wegen der westlichen Beschränkungen ihr produziertes Öl einmal nicht verkaufen können, so könnte das System schnell überlastet sein.
Genau eine solche Überlastung des Systems wegen fehlender Lagerkapazitäten gab es in den Wochen unmittelbar nach dem Beginn des Ukraine-Kriegs im vergangenen Jahr. Ein Käuferstreik ließ damals die Rohölvorräte in Russland so stark anschwellen, dass das Land sich gezwungen sah, seine Produktion um etwa 500.000 Barrel pro Tag zu drosseln.
Es gibt aber bisher keine Anzeichen dafür, dass der EU-Importstopp für Rohöl vom 5. Dezember vergleichbare Probleme verursacht hätte. Denn die russische Produktion ist in den zwei Monaten seither konstant geblieben. Und die vollen Auswirkungen des am 5. Februar verhängten Verbots von raffinierten Kraftstoffen aus Russland, darunter vor allem Diesel, kann man derzeit noch nicht beurteilen.
Die Verarbeitungsraten in Russlands Raffinerien lagen in den ersten acht Februartagen mit mehr als 5,8 Millionen Barrel pro Tag etwa 2 Prozent über dem Januar-Niveau, wie aus den von Bloomberg eingesehenen Branchendaten hervorgeht. Die freien Kapazitäten in den Öllagern lagen am 10. Februar bei über 25 Millionen Barrel, verglichen mit 20 Millionen Barrel, als man die Produktion gedrosselt musste.
Langfristige Auswirkungen
Auch wenn es derzeit ganz danach aussieht, als ob die westlichen Technologiesanktionen keine kurzfristigen Auswirkungen auf die russische vorgelagerte Ölindustrie haben werden, so könnten sich die Folgen doch langfristig bemerkbar machen, sagte Swapnil Babele, Vizepräsident bei Rystad Energy.
"Die Leistung einiger Öldienstleister könnte sinken, während Verluste und Risiken zunehmen werden", sagt Vitaly Mikhalchuk von Business, Solutions and Technologies. "Ein Mangel an Technologien für die Erschließung von Offshore- und einigen schwer zu erschließenden Reserven könnte zu einem Problem werden."
Nach der Einnahme der ukrainischen Halbinsel Krim durch Moskau im Jahr 2014 wurde ein internationales Verbot für die Erbringung von Dienstleistungen für Ölprojekte in Russlands Schieferformationen, der Arktis und der Tiefsee verhängt. Diese Maßnahmen verhinderten die Pläne von Rosneft, Offshore-Felder in der nördlichen Karasee zu erschließen.
Seitdem haben russische Unternehmen jedoch gezeigt, dass sie in einigen dieser Gebiete eigenes Know-how entwickeln können, sagt Victor Katona, ein Rohölanalyst bei Kpler. Gazprom Neft habe seine Bohrungen in einer wichtigen Schieferformation in Westsibirien im vergangenen Jahr sogar ausgeweitet.
Selbst wenn technologische Sanktionen die Tätigkeit in schwierigeren Lagerstätten einschränken, verfügt Russland derzeit über genügend traditionelle Reserven, um den Ölfluss aufrechtzuerhalten. Wenn die Produktion etwa auf dem derzeitigen Niveau bleibt, dann würden Mikhalchuk zufolge bis 2027 nur 3 Prozent davon von Technologien abhängen, zu denen das Land heute nur schwer Zugang hat.