Politik

Ein Jahr Krieg gegen die Ukraine: Europa kann sich nur selbst retten

Lesezeit: 7 min
25.02.2023 09:03  Aktualisiert: 25.02.2023 09:03
Die Welt ist durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine eine andere geworden. Allerorten herrschen Verwirrung und falsche Vorstellungen, schreibt Ronald Barazon.
Ein Jahr Krieg gegen die Ukraine: Europa kann sich nur selbst retten
Ukrainische Soldaten der 3. Separat-Panzerbrigade nehmen an einer Militärübung im Raum Charkiw teil. Am 24. Februar 2023 jährt sich der Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. (Foto: dpa)

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Die meist verbreitete Reaktion auf den Ukraine-Krieg ist das Kriechen unter den militärischen Schutzschirm der NATO. Das heißt im Klartext unter den Schutzschirm der USA. Onkel Sam wird helfen, wenn es brennt. Allerdings ist dieses Verhalten erstaunlich.

Die USA haben zwar die stärksten Streitkräfte weltweit, aber ein Blick hinter die Kulissen erschreckt. Im vergangenen Jahr 2022 konnte die Armee 25 Prozent der gesuchten 60.000 neuen Rekruten nicht einstellen. Über 70 Prozent der theoretisch möglichen Kandidaten zwischen 17 und 28 sind aus Gesundheitsgründen nicht tauglich. An erster Stelle steht die Fettleibigkeit, an zweiter die Drogenabhängigkeit.

Auch für 2023 zeigt das laufende Verfahren ähnliche Ergebnisse. Etwas besser geht es der Marine und der Luftwaffe. Die beiden attraktiveren Sparten haben in der Regel aus dem jeweiligen Vorjahr schon viele Anmeldungen, die etwa den halben Bedarf des kommenden Jahres decken. Heuer gingen sie mit einem bescheidenen Sockel von 10 Prozent in das Einstellungsverfahren. Es gibt keine Pflicht zur Ableistung des Militärdienstes. Erschwert wird die Rekrutierung durch die derzeit sehr starke Nachfrage auf dem zivilen Arbeitsmarkt.

Bei einem Überfall wären europäische Soldaten gefordert, nicht amerikanische

Besonders eindrucksvoll ist die Maschinerie der USA. Die Air Force der Vereinigten Staaten hat 5.217 Flugzeuge, Russland nur 3.863 und China gar nur 1.991. Außerdem kann man davon ausgehen, dass die amerikanischen Bomber auf dem letzten Stand der Technik sind.

Die 280 Schiffe der Navy haben die weltweit stärkste Kampfkraft. Kein Wunder, dass Regierungen im Westen und im Osten die USA mit der Filmfigur „Superman“ identifizieren. Allerdings ist das Gefahrenpotenzial nicht überall gleich auf der Welt. Im Pazifik betreibt China ein lautes Säbelgerassel, im Nahen Osten möchte der Iran gerne zur Weltmacht aufsteigen. Die Europäer fürchten sich aber vor einem russischen Angriff wie in der Ukraine und wären also mit einem Krieg um jeden Zentimeter Bodens konfrontiert. Und da wären schon die eigenen Soldaten gefordert und nicht die GI aus Amerika. Europaweit hat das Interesse für die Armee unter den Jungen stark zugenommen, also sollte die EU in der Lage sein, eine starke Bodentruppe aufzustellen. Ganz ohne Amerika. Die Realisierung einer EU-Armee ist aber bei 27 Staaten mit 27 Armeen nicht möglich.

Europa braucht einen „Iron Dome“ nach israelischem Vorbild

Nachdem man sich in Europa vor einem Angriff nach dem Muster des Überfalls auf die Ukraine fürchtet, sollte der Alltag dieser Auseinandersetzung als Orientierungsmaß dienen. Neben dem Vordringen in das Land bilden der Beschuss mit Raketen und der Einsatz von Drohnen die größten Gefahren.

Wie mit Luftangriffen umzugehen ist, studiert man am besten in Israel, das mit einer unter dem Namen „Iron Dome“ bekannten Raketenabwehr die Bevölkerung schützt. Es wäre also das Gebot der Stunde, europaweit einen engmaschigen Raketenschild zu errichten. Auch diese Aufgabe kann nicht an die USA delegiert werden, sondern ist hier und jetzt zu erledigen. Mehr noch: Der europäische „Iron Dome“ wird nur funktionieren, wenn er als europäische Infrastruktur gemeinsam errichtet und betrieben wird. Da wäre endlich etwas von der viel zitierten aber inexistenten „europäischen Verteidigung“ zu spüren. Nicht genügen kann die von der NATO, also von den USA, errichtete Kette von Raketenabwehrstationen an der EU-Ostgrenze.

Raketenabwehr-Anlagen allein reichen nicht aus. Es braucht ein perfekt funktionierendes Überwachungssystem, das den Start von Raketen prompt registriert, damit die Abwehr rasch informiert wird und die Neutralisierung rechtzeitig erfolgt. Vor allem bei Raketen mit Atombomben ist die Abwehr nur hilfreich, wenn es gelingt das Fluggerät vom Himmel zu holen, bevor der Sprengstoff gezündet wird.

Der Krieg ist kein Theaterstück und auch kein Internet-Spiel

Die vergangenen zwölf Monate seit Beginn des Ukraine-Krieges haben gezeigt, dass man die Ereignisse nicht ernst nimmt. Man agierte nicht im Bewusstsein, dass einige Kilometer entfernt tausende Menschen elend im Dreck krepieren oder für ihr restliches Leben zu Krüppeln werden, dass Millionen ihr Heim verlieren und flüchten müssen.

Vielmehr wurde die Brutalität dieses an den Ersten Weltkrieg gemahnenden Stellungskriegs wie ein Videospiel zur Kenntnis genommen. Eine Reise nach Kiew wurde zum beliebten Ausflug für Politiker, bei dem man die eigenen Sorgen vergessen und Selenskyj publikumswirksam auf die Schulter klopfen konnte. Die Krönung bildete diese Woche der Besuch des US-Präsidenten Joe Biden, der vermutlich an die vielen amerikanischen Immigranten aus Osteuropa dachte, die ihn kommendes Jahr wiederwählen sollen. Tatsächlich goss er mit seinem Auftritt nur Öl ins Feuer. Offenbar ist im Westen immer noch nicht klar, dass es diesen Krieg nicht gäbe ohne den Versuch der NATO, über die Ukraine bis an die russische Grenze vorzudringen.

Im Ukraine-Krieg wirken tausend Jahre Geschichte nach

Warum haben sich die westlichen Regierungen nicht damit begnügt, der Ukraine Waffen zu liefern und im Übrigen den Krieg als regionale Auseinandersetzung belassen. Es ist nichts Anderes gewesen: In der Ukraine hat mit dem „Kiewer Rus“ vor tausend Jahren die Geschichte Russlands begonnen, die meisten Bewohner haben sich stets als Russen gefühlt, der Name „u kraina“ bedeutet „an der Grenze“.

Erst mit dem Nationalismus des 19. Jahrhunderts entstand die Vorstellung von einem eigenen Staat, die lange nicht in der gesellschaftlichen Realität angekommen ist. In der Sowjetunion war das Land ein Vasall von Moskau und wurde mit Millionen Hungertoten das größte Opfer von Stalins absurder Agrarpolitik. Es galt also nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion viel aufzuarbeiten. Dazu war man in Kiew nicht bereit, man wollte Geld von der EU und Waffen von der NATO um sich an Russland zu rächen. Und in diese tief sitzenden Traumata hat sich der Westen hineinziehen lassen. Der historische Fehler, dessen Konsequenzen noch nicht absehbar sind, hat viele Ursachen. Nicht nur die Unkenntnis der Geschichte Osteuropas.

Frustration und Aggression in den Wohlstandsgesellschaften

Die Regierungen der wirtschaftlich erfolgreichen, westlichen Demokratien sehen sich unter dem Druck einer frustrierten Bevölkerung. Zum einen sind für die meisten Menschen die banalen Ziele erreicht: Man isst mehr als man sollte, die Wohnung hat mit Bad und WC einen Komfort, den es in der Geschichte nie gab, auch nicht in Schlössern wie Versailles oder Charlottenburg, das Auto steht vor der Türe und die nächste Urlaubsreise ist gesichert.

Und was jetzt? Ein größeres Auto, ein schöneres Zuhause? Mag schon schön sein, regt aber nicht wirklich auf. Im Beruf ödet die Routine. Und den Reiz neuer, attraktiver Herausforderungen, die etwa die Digitalisierung, die Künstliche Intelligenz, der Umweltschutz und eine andere Ernährung bieten, erkennen nur wenige. Für zu Viele wird die neue Welt als Belästigung empfunden.

Das Ergebnis ist eine weit verbreitete Unzufriedenheit, die die Wähler zu den Extremisten und Parolen-Dreschern treibt. In diesem Umfeld entsteht Aggression, die zu einem wichtigen Faktor in der Gesellschaft wurde. Dieser Faktor erklärt auch, warum die Friedensbewegung an Dynamik verloren hat.

In diesem Umfeld bietet sich für die Politik ein kriegerisches Gehabe an. Da kann man Muskeln zeigen und gleichzeitig vorgeben, die bedrohte Bevölkerung vor Gefahren zu schützen. Auch lenkt die Wiederentdeckung der Armee von der Unfähigkeit ab, die tatsächlichen Probleme wie etwa die Unfinanzierbarkeit des Sozialstaats zu lösen.

Es kommt dann auch zu kuriosen Situationen. Auf den Straßen Frankreichs tobt die Bevölkerung gegen eine Anhebung des Rentenantrittsalters von 62 auf 64, obwohl die Kosten des Sozialstaats die Steuern und Sozialabgaben in astronomische Höhe treiben und der Staat trotzdem permanent Schulden aufnehmen muss. Gleichzeitig meldet sich in der europäischen Verteidigungsdebatte Präsident Emmanuel Macron zu Wort und möchte die französische Atommacht zu einer europäischen Einrichtung machen. Das würde die EU als Weltmacht positionieren und – nebenbei - Frankreich bei der Finanzierung entlasten.

Das unsinnige Konzept der „Over-killing capacity“

Die Atomarmee hat nur die Funktion, im Falle einer nuklearen Attacke, bei der etwa Berlin, Paris und London vernichtet werden, zurückzuschlagen und Moskau und Petersburg zu zerstören. Im Kalten Krieg nach 1945 entstand der Begriff der „Over-killing capacity“: Wie groß ist das Arsenal an Atombomben, wie oft kann eine Atommacht die andere zerstören. Eine hohe Kapazität genüge als Abschreckung.

Diese Rechnung ist allerdings unsinnig. Wenn einmal Berlin in Trümmern liegt und sich eine radioaktive Wolke über Deutschland ausbreitet, dann ist die prompt erfolgende Zerstörung von Moskau nur ein schwacher Trost.

Wie die Politik den Sozialstaat nicht in den Griff bekommt, die Klimakrise nicht mit konkreten, fassbaren Maßnahmen bekämpft, mit der Digitalisierung wenig anzufangen weiß, wird auch keine wirksame Verteidigung aufgebaut, die Bedrohungen auf dem Boden und aus Luft erfolgreich abwehren könnte.

Xi plötzlich als Friedensengel in Osteuropa?

Wenn man den jüngsten Nachrichten glauben will, sind alle diese Überlegungen nicht notwendig. Der chinesische Diktator Xi bemüht sich, den russischen Diktator Putin zu überreden, den Krieg in der Ukraine zu beenden. Wieso Xi plötzlich zum Friedensengel von Osteuropa mutiert, ist nicht nachvollziehbar. Bisher hatte man sogar den Eindruck, dass der Ukraine-Krieg in Beijing gerne gesehen wird, weil die Aufmerksamkeit auf Kiew gelenkt wird, und die Weltöffentlichkeit weniger beachtet, dass China die Dominanz im Pazifik anstrebt. Welche Motive auch Xi treiben mögen, in seinem eigenen geographischen Umfeld ist das Gegenteil von Friedensbemühungen zu beobachten.

Es geht, wie schon oft betont, um die Eroberung der nationalchinesischen Republik Taiwan. Auch Japan sieht sich bedroht, da Xi nicht müde wird, an die Gräueltaten der japanischen Armee in den dreißiger Jahren zu erinnern. Der 13. Dezember 1937 ist unvergessen: An diesem Tag marschierte die japanische Armee in die chinesische Hauptstadt Nanking ein und ermordete in wenigen Wochen hunderttausende Chinesen. Obwohl sich Japan schon wiederholt entschuldigt hat, ist in Beijing die Wut nicht abgeebbt und der Wunsch nach Rache lebendig. Japan hat folglich seine nach 1945 in der Verfassung verankerte Friedenspolitik korrigiert und baut derzeit eine moderne Armee auf.

Vietnam als schreckliches Menetekel

Mit Taiwan und Japan sind zwei Inselstaaten bedroht, sodass sich ein teilweise anderes Szenario ergibt. Auch in diesen Regionen kommt der Abwehr von Raketen und Drohnen eine entscheidende Bedeutung zu. Die Invasion der Länder würde ebenfalls zum Einsatz von Bodentruppen auf beiden Seiten führen. Dazu käme aber die Problematik des Angriffs durch Kriegsschiffe, die versuchen, Soldaten an Land zu bringen. In einer ersten Phase dürfte sich die Auseinandersetzung als Luft- und Seekrieg entwickeln und, nur wenn China gewinnt, käme es in der Folge zu Kämpfen auf dem Boden.

China hat in den vergangenen zwanzig Jahren den Militärbereich ausgebaut und verfügt heute mit zwei Millionen Soldaten über die weltweit größte Armee. Auch die Flotte ist, gemessen an der Zahl der Schiffe, etwas größer als die US-Navy, weist allerdings eine geringere Schlagkraft auf. Die Luftwaffe wird von Experten als hoch entwickelt eingeschätzt.

Auch, wenn die beiden bedrohten Staaten jetzt kräftig aufrüsten, dürfte Hilfe von außen erforderlich werden. Die USA unterstützten die Länder, sind aber, wie im Fall der Ukraine, bemüht, nicht in einen Krieg hineingezogen zu werden. Unterstützung ist auch von den anderen Staaten der Region, insbesondere von Australien, den Philippinen und Thailand, zu erwarten. Doch, ob diese derzeit gepflegten Beziehungen im Ernstfall tatsächlich eine Waffenallianz ergeben, ist fraglich.

Somit rechnet man in Beijing mit einem Engagement der USA und daher hat der vor kurzem über den USA abgeschossene Spionage-Ballon im Besonderen die kleine Insel Guam im Pazifik beobachtet. Die Insel gehört den USA und wurde in den vergangenen Jahrzehnten zu einem starken Militärstützpunkt ausgebaut. Die Entfernung zu Japan und zu Taiwan beträgt etwa 2.500 km, ist also von der Luftwaffe rasch zu überwinden.

In den USA ist die Erinnerung an die katastrophalen Ergebnisse der Engagements in Vietnam von 1955 bis 1975 und in der jüngeren Vergangenheit im Irak und in Afghanistan präsent. Man will also nur befreundete Länder mit Waffen unterstützen, aber nicht selbst aktiv werden. Die Tatsache, dass die USA auch in Vietnam Schritt für Schritt in einen ungewollten Krieg geschlittert sind, gilt in den USA als entscheidendes Menetekel.

                                                                            ***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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