Politik

Eitle Demokraten bereiten Diktatoren den Weg zur Macht

Lesezeit: 6 min
08.04.2023 09:23  Aktualisiert: 08.04.2023 09:23
In Israel könnte das Zeitalter von Demokratie und Rechtsstaat bald wieder vorbei sein. Das Land befindet sich in der ärgsten Krise seit seiner Gründung. Ein Einzelfall?
Eitle Demokraten bereiten Diktatoren den Weg zur Macht
Hatte der Philosoph Platon Recht damit, dass auf Demokratien stets Diktaturen folgen? (Foto: dpa)

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Die israelische Bevölkerung ist entsetzt über ihre neue Regierung, die die Demokratie in Frage stellt, das Höchstgericht entmachten will und dem vorbestraften Innenminister eine Art Privatarmee unter der Bezeichnung „Nationalgarde“ zugesteht. Teil der Regierung sind auch die Ultraorthodoxen, die den Staat in Frage stellen, den Wehrdienst verweigern und die Rechte der Frauen einschränken wollen. Die Palästinenser möchte das neue Kabinett aktiv bekämpfen und nicht erst nach Attentaten zurückschlagen. Dass Hunderttausende seit Wochen protestieren, ist nachvollziehbar. Doch wie kam es zu dieser Regierung? Die demokratischen Parteien lehnten es ab, mit dem Gewinner der Wahl, dem immer wieder auf die politische Bühne zurückkehrenden Benjamin Netanjahu, zu koalieren. Nur. Mit dieser Entscheidung ebneten sie erst den Weg zur Bildung der aktuellen Regierung, die das Land in die ärgste Krise seit Gründung des Staates im Jahr 1948 stürzt. Die Demokraten tragen somit eine beträchtliche Mitverantwortung für die aktuelle Gefährdung der Demokratie, des Rechtsstaats und der Marktwirtschaft, ein Phänomen, das weltweit immer wieder zu beobachten ist.

In Israel bemühen sich mehr als 40 Parteien um den Einzug in das Parlament

Netanjahus Likud kam auf 23,41 Prozent. Die liberale Jesch Atid – Es gibt eine Zukunft – unter Jair Lapid erreichte 17,79 Prozent und HaMahame Ha Mamlachti – Partei der Nationalen Einheit – von Benny Gantz auf 9,08, zusammen also komfortable 50,28 Prozent. Lapid und Gantz schlugen das Koalitionsangebot von Netanjahu aus, weil sie dessen rechte Politik kritisieren und auch mit seinem Korruptionsverfahren nichts zu tun haben wollen. Also suchte sich Netanjahu Partner aus dem rechten Lager, die nun die Regierung bilden.

Israel zählt über 40 Parteien, die bei Wahlen antreten. In der Folge entsteht eine Zersplitterung, die die Bildung von Mehrheiten erschwert. Die meisten Kandidaten sind nicht bereit, sich größeren Bewegungen anzuschließen, jeder und jede ist vom eigenen Triumph überzeugt. Zu Verbindungen kommt es nur zwischen Kleinparteien, um gemeinsam die Hürde von 3,25 Prozent Stimmen für den Einzug ins Parlament zu übertreffen. Durch diese Wahlbündnisse erobern auch Vertreter von Miniparteien Abgeordnetensitze, so auch der nunmehrige Innenminister Itamar Ben Gvir, der wegen seiner extrem rassistische Aktivitäten bereits im Gefängnis saß und nun der Haupttreiber der radikalen, antidemokratischen Politik ist.

Wahlerfolge sind keine Legitimation zur Beseitigung der Demokratie

Eine beliebte Rechtfertigung undemokratischer Parteien besteht im Hinweis auf einen Wahlerfolg. Man sei durch die Wähler demokratisch legitimiert, die Demokratie zu beseitigen. Leider gehen viele dieser Verdrehung der Dinge auf den Leim. Die Demokratie ist aber nur zu beseitigen, wenn tatsächlich die gesamte Bevölkerung eine andere Staatsform will. Nachdem dies nie der Fall ist, gibt es keine Legitimation für die Zerstörung der Demokratie. Es sind auch nur autoritäre Herrscher wie Wladimir Putin in Russland oder Viktor Orban in Ungarn, die ausdrücklich und offen den liberalen Verfassungsstaat in Frage stellen.

In den meisten Fällen kommen die Anti-Demokraten nicht über eine Unterstützung von mehr als 30 Prozent der Wähler hinaus, sodass 70 Prozent für den Erhalt der liberalen Staatsform sind. Angesichts dieser Prozentsätze ist es unverständlich, dass die Demokratie jemals untergraben werde. Die Antwort liegt im Verhalten der 70 Prozent. Oft entsteht bei den Demokraten der Eindruck, man könne sich nach Belieben artikulieren, ungehemmt Parteien gründen und die Freiheit uneingeschränkt ausleben. Das Ergebnis dieser Verhaltensweise ist eine chaotische, politische Landschaft, in der keine konstruktive Arbeit für das Land möglich ist.

Die Wut über das Versagen der Demokraten treibt die Menschen zu den Autokraten

In dieser Situation wächst die Wut der Bevölkerung über das Versagen der Politik. Die Anti-Demokraten sind schon in ruhigen und wirtschaftlich stabilen Zeiten das Auffangbecken der Unzufriedenen, die zumeist etwa 30 Prozent der Bevölkerung umfassen. Versagt die demokratische Politik, wächst auch der Ärger bei den 70 Prozent und der Zulauf zu den Radikalen wird stärker. Die chaotischen Zustände im Deutschland der Weimarer Republik von 1918 bis 1933 mit zahllosen Parteien, Gruppen und Grüppchen verschiedenster Prägung mündeten in der Diktatur der Nationalsozialisten. Es bedarf aber nicht eines so welthistorisch dramatischen Beispiels, um den Weg aus der Demokratie zu schildern.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden die früheren Mitglieder des Imperiums zu demokratischen Staaten. Die plötzliche Freiheit verführte viele Politiker zur hemmungslosen Selbstdarstellung. Eines der prominenten Beispielländer, wo der Egoismus und die Eitelkeit der Demokratie dominierten, war Ungern. In diesem Umfeld konnte der Anti-Demokrat Viktor Orban punkten. Der Ärger über die zerstrittenen Demokraten hielt an, Kooperationsversuche der Liberalen wurden von der Bevölkerung nicht geglaubt, und so wurde Orban immer stärker, verfügt heute über eine Zweidrittelmehrheit und regiert autoritär. Die EU, die versucht, den Mitgliedstaat auf die Basis einer demokratischen Verfassung zurückzuführen, wird verhöhnt.

Auch im demokratischen Frankreich schaden die Demokraten der Demokratie

Dass zuerst die Demokratie geschützt werden muss und erst in zweiter Linie die eigene Eitelkeit befriedigt werden darf, übersehen viele Demokraten und bereiten den Anti-Demokraten den Weg. Die Beispiele gibt es in den verschiedensten Dimensionen. In Frankreich kann man getrost davon ausgehen, dass die Demokratie stark verankert ist. Doch wie sieht die Realität aus? Bei den letzten Wahlen hat die Partei von Präsident Emmanuel Macron die absolute Mehrheit im Parlament verloren und muss nun bei jedem Gesetz um die Zustimmung anderer Parteien buhlen, sodass eine konstruktive Regierungsarbeit schwer möglich ist.

Letztlich stimmt die Partei der „Republikaner“, die Nachfolger der Gaullisten, doch mit der Regierungspartei. Für Stabilität würde eine Koalitionsregierung sorgen, die auch zur Debatte stand, aber von den Republikanern vehement abgelehnt wurde. Man wollte die Möglichkeit nicht aus der Hand geben, die Regierung vor sich her zu treiben. Wieder einmal wird von Demokraten das Chaos verursacht und nicht die Demokratie geschützt. Wer profitiert? Die extremen Rechten und die extremen Linken, die beide im Parlament stark vertreten sind. Aus Angst, die Republikaner könnten die umstrittene Rentenreform nicht unterstützen, nützte Macron für die Rentenreform eine Ausnahmeregel in der Verfassung, die dem Präsidenten erlaubt, am Parlament vorbei ein Gesetz durchzusetzen. Auch im liberalen Verfassungsstaat wird diktatorisch regiert, wenn die Demokraten die Demokratie verraten.

Wieso konnte Putin Russland zurück in sowjetische Verhältnisse führen?

Eine globale Dimension bekam das üble Phänomen in Russland. Nach dem Zusammenbruch des Sowjetregimes rückte die Errichtung einer echten Demokratie in greifbare Nähe. In den ersten neunziger Jahren entwickelte sich eine beeindruckende Aufbruchsstimmung. Allerdings landete das Land sehr bald im Chaos, weil die meisten Politiker, Manager und Intellektuellen in einem Freiheitstaumel nicht am Aufbau eines funktionierenden Staates und einer soliden Marktwirtschaft interessiert waren. Man glaubte vielmehr, alles würde im freien Spiel der Kräfte von selbst zu blühen beginnen und ein zweites Amerika entstehen lassen. Das Ergebnis waren 1.000 Prozent Inflation zur Jahrtausendwende.

Wladimir Putin gewann die Präsidentenwahlen und sorgte innerhalb kurzer Zeit für stabile Verhältnisse und wurde so zum Helden der Nation. In den ersten 2000er Jahren schien sich die Demokratie noch durchzusetzen, doch bald schlug Putin einen anderen Kurs ein und beseitigte Schritt für Schritt jeden Freiraum von der Entmachtung der Gouverneure in den Regionen und der Militärs bis zur Knebelung des Parlaments und zur Gängelung der Unternehmen. Oppositionspolitiker haben keine Chance mehr, der Staat ist omnipräsent und erstickt jede Initiative, die der Regierung nicht genehm ist. Naturgemäß wird jetzt Putin als der Schuldige an dieser Entwicklung kritisiert. Übersehen wird meist, dass die Rückkehr Russlands in sowjetähnliche Verhältnisse von den Demokraten in den neunziger Jahren ausgelöst wurde.

Auch die Ukraine-Krise wurde durch verantwortungslose Demokraten verursacht

Auch die Ukraine-Krise ist ein Produkt des hemmungslosen Egoismus der Demokraten. Die Ukraine befreite sich erst spät aus den Klauen der Sowjetunion, weil das Land noch lange nach dem Zusammenbruch des Sowjetreichs von einem kommunistischen Autokraten regiert wurde. 2004 gelang endlich die Wende. Allerdings: Eine Regierung nach der anderen hatte nur im Sinn, Geld von der EU und Waffen von der NATO zu bekommen, um sich an Russland für die jahrzehntelange Unterdrückung und den Tod von Millionen Opfern zu rächen. Diese Politik erwies sich als ständige Provokation Moskaus, die 2014 zur Annexion der Krim und 2022 zum russischen Überfall geführt hat. Der Aufbau von Demokratie und Marktwirtschaft geschah in dem wirtschaftlich extrem schwachen und von Korruption geplagten Land kaum und so ist es eine Art Treppenwitz, wenn Präsident Wolodymyr Selenskij die westlichen Spitzenpolitiker überzeugt, im russisch-ukrainischen Krieg würde sich das Schicksal der Demokratie auf dem Globus entscheiden. Dieser Rückblick auf die Entwicklung rechtfertigt selbstverständlich nicht die russische Invasion, macht aber die Ursachen dieses sinnlosen Krieges deutlich.

In das Bild passt auch die enge Zusammenarbeit der Ukraine mit Polen. In Polen haben die Demokraten das Feld der autoritären Gruppierung überlassen, die entscheidend Jaroslaw Kaczynski steuert, nach außen aber von Präsident Andrzej Duda vertreten wird. Ähnlich wie in Ungarn wurde die Verfassung geändert, wodurch der Einfluss der Regierung auf die Justiz gesichert werden konnte, die Kontrolle der Medien ermöglicht wurde und die Historiker alle negativen Ereignisse aus der polnischen Geschichtsschreibung entfernen müssen. Wie in Budapest schert man sich in Warschau wenig um die Proteste der EU. Das EU-Mitglied Polen agiert nun innerhalb der EU und gegenüber den USA als Anwalt des Nicht-EU-Mitglieds Ukraine und als Treiber der Bekämpfung Russlands. Auch im eigenen Interesse, weil man sich, wie die Ukraine, an Russland für den Terror in der Sowjetzeit rächen möchte und dafür die NATO verwenden will.

Welchen Segen würden doch ein demokratisches Polen und eine demokratische Ukraine für Europa und die Welt bedeuten?! Hätten diese Länder die Vergangenheit ruhen lassen und den Aufbau freier und wirtschaftlich tüchtiger Gesellschaften betrieben, sähe die Welt anders aus.

                                                                            ***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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