Eine Million Menschen werden im Jahr 2023 laut Prognosen des Fachkräftemonitorings für das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) Deutschland den Rücken kehren. Dem gegenüber steht eine Zahl von 1,3 Millionen Zuwanderern, die erwartet werden. Damit bleibt Deutschland ein Einwanderungsland. Zugleich wird die Rekrutierung von Fachkräften zunehmend schwerer. Das stellt die Wirtschaft und die Arbeit vor einen Umbruch und vor enorme Herausforderungen. Laut dem Fachkräftemonitoring der BMAS gehören zu den Engpassberufen aus Arbeitgebersicht IT-Berufe, Erziehungs- und Gesundheitsberufe, Hotellerie und viele technische Berufe wie zum Beispiel aus dem Baugewerbe. Mit einem langfristigen Beschäftigungswachstum ist erstmal nicht zu rechnen. Im Gegenteil; zwischen 2022 und 2040 werden über die Hälfte, der in den produzierenden Berufen ausgebildeten Personen, in den Ruhestand gehen. Das Ausscheiden der Babyboomer-Generation aus dem Erwerbsleben hinterlässt vor allem seine Spuren in produzierenden Bereichen. Denn neuere Generationen qualifizieren sich verstärkt im Dienstleistungssektor. Das zeigt sich auch in den aktuellen Besetzungsproblemen am dualen Ausbildungsmarkt. Handwerksbetriebe und traditionelle Berufe gelten bei vielen Schulabsolventen eher als unattraktiv. Schlechte Arbeitszeiten, ein körperlich hoher Einsatz und eine geringe Entlohnung machen diese Berufe zunehmend zu Ladenhütern.
Fachkräftebedarf in Deutschland steigt an
Immer länger suchen Betriebe dementsprechend nach geeignetem Nachwuchs. Aktuelle Analysen der IAB-Stellenerhebung zeigen, dass ein Anstieg der Suchdauer um ein Prozent das Risiko eines erfolglosen Suchabbruchs nahezu verdreifacht. Dauert eine Personalsuche länger als drei Monate an, steigt somit das Risiko die Stelle unbesetzt zu lassen. Im Durchschnitt und über alle Berufe hinweg, lag im Jahr 2021 die mittlere Suchdauer bei 79 Tagen. Tendenz steigend. Es wird erwartet, dass in 87 von 140 relevanten Berufsgruppen der Neubedarf bis 2026 stärker als das Neuangebot wachsen wird. Verstärkt wird das Problem durch die Migration von deutschen Fachkräften ins Ausland.
Deutsche zieht es in Nachbarländer
Mit einer Auswanderungsrate von 5,1 Prozent liegt Deutschland auf Platz drei im internationalen Vergleich, das zeigt die repräsentative German Emigration and Remigration Panel Study (GERPS). Durchschnittlich 180.000 Menschen mit deutscher Nationalität haben in der vergangenen Dekade im Schnitt jedes Jahr Deutschland verlassen. Vergleicht man die Zeiträume, kehrten durchschnittlich aber nur 129.000 jährlich wieder zurück. Laut destatis ist seit 2004 eine Nettoabwanderung festzustellen. 2021 betrug der Abwanderungsverlust deutscher Staatsbürgerinnen und Staatsbürger gegenüber dem Ausland 64.000 Personen.
Die meisten unter ihnen wanderten nach Österreich (11.000), in die USA (8.000) oder der Schweiz (17.000) aus. Kein Wunder, lockt letzteres Land allein durch die höchsten Pro-Kopf-Löhne in Europa. Besonders in den Sektoren Technologie, Finanzen und Wissenschaft finden sich in den Nachbarländern bessere Arbeitsmarktchancen und höhere Löhne. Der Wechsel über die Grenze fällt nicht allzu schwer; die kulturelle und sprachliche Nähe verbindet die Menschen und erleichtert die Integration. Nicht zu vergessen, verfügen insbesondere Österreich und die Schweiz über eine hohe Lebensqualität, einer sehr gut ausgebauten Infrastruktur und beste Freizeit- und Erholungsmöglichkeiten, die die Attraktivität der Standorte steigern.
Deutsche Expats sind jung und gut ausgebildet
Vor allem junge, gut ausgebildete Akademiker, verlassen das Heimatland für eine Weile. Überproportional häufig ist darunter die Bildungselite mit einem Masterabschluss oder einer Promotion. Es sind verschiedene Gründe, die dazu führen, dass qualifizierte Arbeitskräfte Deutschland für eine Weile oder ganz den Rücken kehren. Viele junge deutsche Fachkräfte sehen im Ausland bessere Karrierechancen und ein höheres Gehalt. Vor allem in Ländern wie den USA, Kanada und Australien sind sie gefragt und können hier oft mehr verdienen als in Deutschland. Im Schnitt gaben sie 2019 an, monatlich im Ausland über 1.186 Euro mehr zu verdienen. Zugleich spielen Arbeitskultur und Lebenshaltungskosten keine unwesentliche Rolle. Trotz dieser Gründe bleiben die sogenannten Expats nicht im Ausland. Sie kehren nach einigen Jahren wieder zurück. Daher spricht der Politologe Dr. Andreas Ette vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung eher von „brain circulation“ und meint damit, eine weitgehend ausgeglichene Qualifikationsstruktur der Aus- und Rückkehrer. Kollege und Migrationsforscher Nils Witte kann dies nur bestätigen sieht aber dennoch einen Unterschied: „Einzig für IT-Berufe und Naturwissenschaften konnten wir feststellen, dass sie bei der Auswanderung stärker vertreten sind als bei der Rückwanderung.“ Beliebt sind hier insbesondere Länder wie die USA oder die Schweiz, die laut der Codingame-Studie die höchsten Gehälter zahlen. Hinzu profitieren die Experten von einer Innovationskultur in den Ländern, die Deutschland noch ein Stück weit fehlt.
Rentner bleiben oft im Ausland
Im Gegensatz zu den Wiederkehrern der Arbeitsmigration, verzeichnet der Rentenatlas der Deutschen Rentenversicherung im Jahr 2021 einen neuen Rekord. Rund 251.000 Ruheständler ließen ihre Rente ins Ausland überweisen. Das sind knapp 18 Prozent mehr als noch vor zehn Jahren. Im Angesicht der steigenden Preise von Mieten und Lebenshaltungskosten bleibt vielen älteren Mitbürgern fast keine Alternative, wenn sie mit ihrer geringen Rente würdevoll leben möchten. Südostasien, Mittelamerika oder Südeuropa bieten ihnen aktuell noch für deutlich weniger Geld einen besseren Lebensstandard.
Unübersehbar nehmen die Probleme im eigenen Land zu. Auch die Corona-Politik hat in den letzten Jahren bei vielen Menschen zu Überlegungen über das Auswandern geführt. So nahmen gegenüber dem Zeitraum vor der Pandemie (2019) die Fortzüge Deutscher nach Paraguay (+900) und Schweden (+700) laut destatis am meisten zu. Inflation, Bürokratiehürden und hohe Steuerabgaben sind weitere Gründe für die Flucht ins Ausland.
Die Politik und Wirtschaft ist mit zunehmenden Fachkräftemangel gefordert, die Auswanderung qualifizierter Fachkräfte gering zu halten und zugleich die Zuwanderung ausländischer Fachkräfte zu erleichtern. Gleichzeitig wird für Betriebe eine vorausplanende Rekrutierung für die zukünftige ökonomische Entwicklung immer mehr eine entscheidende Rolle spielen, zumal die Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter bis zum Jahr 2040 um rund 3,5 Millionen zurückgehen wird. Einen positiven Aspekt gibt es bei der Betrachtung für die Arbeitssuchenden: Der angespannte Arbeitsmarkt in Bezug auf Fachkräftemangel verbessert die Verhandlungsmöglichkeiten der Arbeitnehmer.