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Studie: Über 1.600 getötete Journalisten in den letzten 20 Jahren

Lesezeit: 4 min
23.04.2023 08:41  Aktualisiert: 23.04.2023 08:41
Seit 2003 wurden weltweit 1657 Journalisten im Zusammenhang mit ihrer Arbeit getötet. Die heißesten Pflaster der letzten Jahre waren überraschenderweise keine Kriegsgebiete. Auch in Europa kann es für kritische Reporter gefährlich werden.
Studie: Über 1.600 getötete Journalisten in den letzten 20 Jahren
Die Ermordung der maltesischen Journalistin Daphne Caruana Galizia sorgte für großes Aufsehen. (Foto: dpa)
Foto: Lena Klimkeit

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Die vergangenen zwei Jahrzehnte waren laut der NGO Reporter ohne Grenzen (RSF) „besonders tödlich” für Journalisten: 1657 Medienschaffende kamen seit 2003 bei oder wegen ihrer Arbeit ums Leben. Die Arbeit in Kriegsgebieten stellt das größte Risiko dar, aber auch abseits davon seien Journalisten heutzutage gefährdet.

Bereits seit 1995 veröffentlicht RSF eine Jahresbilanz der Pressefreiheit, in der auch die Zahl der weltweit inhaftierten und getöteten Reporter dokumentiert wird. Damit ein Fall in der Kategorie „getötet“ gelistet wird, muss eindeutig nachweisbar sein, dass der Tod des Opfers in direktem Zusammenhang mit seiner journalistischen Tätigkeit steht. Das „Barometer für Pressefreiheit“ zeigt für 2023 bisher sechs Tötungen an. 540 Journalisten befinden sich lauf RSF aktuell in Gefangenschaft.

Berichterstatter im Nahen Osten leben gefährlich

Das mit Abstand gefährlichste Land der letzten zwei Jahrzehnte war der Irak, wo Ende März 2003 die US-geführte Invasion startete. Am 7. April 2003 kamen dort der Focus-Reporter Christian Liebig sowie sein Kollege Julio Anguita Parrado von der spanischen Zeitung El Mundo ums Leben. Diesen Jahrestag nahm Reporter ohne Grenzen nun zum Anlass, um auf die hohe Zahl der getöteten Medienschaffenden in den vergangenen 20 Jahren hinzuweisen.

Laut Aufzählung der NGO sind in diesem Zeitraum 1657 Journalisten infolge ihrer Arbeit durch Fremdeinwirkung ums Leben gekommen. Im Schnitt sind das mehr als 80 pro Jahr. Manche wurden gezielt ermordet, andere starben bei Überfällen, durch Angriffe in Kriegsgebieten oder nach schweren Verletzungen.

„Hinter jeder nackten Zahl steht ein unermesslicher Verlust für die Angehörigen, und ein Verlust im Kampf um die Pressefreiheit weltweit”, sagt RSF-Geschäftsführer Christian Mihr.

Im Irak sind seit Frühjahr 2003 insgesamt 300 Reporter gewaltsam verstorben. Das macht es in den letzten zwei Dekaden zum gefährlichsten Land für Pressevertreter – noch vor Syrien, wo die Organisation 280 Getötete dokumentiert hat. Auf der Liste folgen Afghanistan, Jemen, die Palästinensischen Gebiete und Somalia.

Auch (Ost-)Europa ist kein sicheres Pflaster

In Europa werden Journalisten am häufigsten in Russland getötet: Seit dem Amtsantritt Wladimir Putins im Jahr 2001 sind dort laut RSF mindestens 37 Zeitungs-Redakteure ums Leben gekommen. Am berüchtigtsten dürfte der Fall der 2006 in ihrem Moskauer Wohnhaus erschossenen investigativen Reporterin Anna Politkowskaja sein, die über Menschenrechtsverletzungen durch die russische Armee und lokale Milizen im Tschetschenien-Krieg berichtet hatte. Sie arbeitete für die unabhängige Zeitung „Nowaja Gaseta“, die mehrfach von der Regierung verboten wurde (zuletzt im Rahmen der Berichterstattung über den Ukraine-Krieg) und wo im Laufe der Jahre mehrere Journalisten ihren Aufklärungsmut mit dem Tode bezahlten.

2017 wurde der prominente Journalist Nikolai Andruschtschenko so schwer verprügelt, dass er später den Folgen seiner Verletzungen im Krankenhaus erlag. Das jüngste russische Todesopfer ist der Militär-Blogger Wladlen Tatarsky, der vermutlich das primäre Ziel eines Bombenanschlags auf ein Café in St. Petersburg war. Bei der Explosion am 2. April 2023 wurden außerdem 25 Menschen verletzt. Tatarsky hatte ab 2014 zunächst als Aufständischer für die Unabhängigkeit des russisch kontrollierten Donbass gekämpft, ehe er sich dem Journalismus zuwandte. Er verbreitete in seinem Blog Videos vom Frontgeschehen in der Ukraine und gab zuletzt jungen russischen Soldaten Tipps, wie sie sich in den vordersten Linien verhalten sollten.

In der Ukraine wurden in den vergangenen zwei Jahrzehnten 20 Medienschaffende getötet. Acht von ihnen kamen seit Beginn des russischen Angriffskriegs im Februar 2022 ums Leben. Die meisten anderen starben in den seit 2014 umkämpften Donbass-Gebieten.

Berichterstatter in Osteuropa trifft es auch in ruhigeren Zeiten. So etwa im Februar 2018 den slowakischen Journalisten Jan Kuciak und seine Verlobte. Mutmaßlich soll die italienische Mafiaorganisation „Ndrangheta“ hinter dem Auftragsmord stehen. 2008 wurde auf einen der damals renommiertesten Journalisten Kroatiens, Ivo Pukanic, ein Attentat verübt.

Weiter östlich in der Türkei wurden seit 2003 acht Journalisten ermordet. Diesselbe Zahl gilt für Frankreich, wobei es sich hier ausschließlich um die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo handelt, die 2015 einem islamistischen Terroranschlag zum Opfer fiel. In Saudi Arabien sorgte 2018 die bestialische Ermordung des Regime-kritischen Journalisten Jamal Khashoggi für großes Aufsehen.

Russland oder die Türkei sind seit jeder dafür bekannt, das dort die Pressefreiheit de facto nicht vorhanden ist. Aber auch in angeblich freien Ländern passiert es, dass Journalisten ermordet werden. Der niederländische Fernsehmoderator Peter de Fries, der sich selbst viel mit ungeklärten Mordfällen befasst hatte, wurde 2021 erschossen. 2017 wurde die investigative Reporterin Daphne Caruana Galizia in Malta durch eine Autobombe getötet. Galizia hatte viele Jahre lang zu den (Geldwäsche-)Verbindungen der Regierung mit dem organisierten Verbrechen recherchiert.

Malta gilt traditionell als gefährliches Pflaster für kritische Journalisten. Genauso wie Italien, wo es aber seit langem keine Tötungen mehr gab. Das liegt wohl unter anderem am guten staatlichen Polizeischutz, den auf der Abschussliste der Mafia stehende Publizisten wie Roberto Saviano Tag und Nacht bekommen. Italien ist auch bekannt dafür, dass es immer wieder mutige Richter gibt, die bereit sind, sich mit den Verbrecher-Syndikaten anzulegen und sich dafür in Lebensgefahr begeben.

Reporter ohne Grenzen zufolge war 2012 das tödlichste Jahr der vergangenen zwei Dekaden. Damals waren in einem Jahr 143 Medienschaffende ums Leben gekommen – die meisten im syrischen Bürgerkrieg. Im Jahr 2013 hatte RSF 136 Todesfälle verzeichnet. Danach sind die Zahlen stark rückläufig, ab dem Jahr 2019 sogar „historisch niedrig”. Im Jahr 2021 starben weltweit 51 Journalisten, im vergangenen Jahr waren es 60.

Die Zahl der jährlich in Kriegsgebieten getöteten Reporter sinkt, unter anderem weil die Intensität einiger Kriege abgenommen hat. Nach Einschätzung der NGO reflektieren die sinkenden Todeszahlen aber auch die Wirksamkeit von neuen Maßnahmen, die von den Medienbetreibern ergriffen wurden, um ihre prominentesten Angestellten zu schützen.

Mexiko aktuell der tödlichste Arbeitsplatz für kritische Journalisten

Seit 2003 wurden mehr Reporter in offiziell friedlichen Gebieten getötet als bei der Kriegsberichterstattung. In Südamerika zum Beispiel schnellen die Todeszahlen senkrecht nach oben. Für Journalisten war der Doppelkontinent 2022 mit einem Anteil von 47 Prozent an allen Medien-Toten weltweit gefährlicher als jede andere Region. Das heißeste Pflaster der letzten Jahre ist Mexiko. Alleine in den letzten vier Jahren wurden hier laut RSF 36 Journalisten umgebracht. Recherchieren zum organisierten Verbrechen und zu Korruption sei „extrem gefährlich“. Das gilt ganz besonders im von Drogenkartellen dominierten Mexiko. Auch Brasilien, Kolumbien und Honduras sind für kritische Berichterstatter alles andere als sichere Orte.

Auch in einigen asiatischen Ländern ist investigativer Journalismus brandgefährlich. Auf den Philippinen hat RSF in den vergangenen 20 Jahren den Tod von 107 Medienschaffenden dokumentiert. In Pakistan kamen im selben Zeitraum 94 Reporter ums Leben, im Nachbarland Indien 59.

Rund 95 Prozent aller Getöteten, die von Reporter ohne Grenzen erfasst werden, sind Männer. In den vergangenen 20 Jahren kamen „nur“ 79 Frauen im Zusammenhang mit ihrer journalistischen Arbeit ums Leben. Dazu sollte man jedoch erwähnen, dass der gefährliche Investigativ-Journalismus noch eine männlich dominierte Domäne ist.


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