Corona ist vermeintlich an allen derzeit auftretenden negativen Entwicklungen schuld. Nicht zuletzt an den weit verbreiteten psychischen Problemen, die zwischen 30 und 40 Prozent der Bevölkerung und dabei vor allem die Jungen plagen.
Zahlreiche Studien sollen diese Meinung untermauern. Nur ganz selten blitzt in den Elaboraten ein Hinweis auf, dass die psychische Verfassung der Bevölkerung auch schon vor Corona nicht ideal war. In den letzten Monaten kamen noch der Ukraine-Krieg, die Teuerung und die Spannungen zwischen den Weltmächten hinzu.
Die Pandemie und all diese Faktoren belasten die Menschen und verstärken bestehende psychische Probleme, sie lösen sie aber nicht aus. Zudem wird selten gefragt, wieso viele Menschen mit diesen Herausforderungen nicht umgehen können, wieso man sich einer depressiven Stimmung hingibt, vielleicht sogar in eine echte Depression verfällt. Kurzum, wieso die psychische Widerstandsfähigkeit fehlt, um Krisen zu bewältigen.
Wie jemand in der Lage ist, auf die verschiedenen Attacken zu reagieren, denen man im Laufe des Lebens begegnet, entscheidet sich in der Kindheit und Jugend. Somit ist ein Blick auf diese Periode angebracht.
Das Falsche nicht zu tun, bedeutet nicht automatisch das Richtige zu tun
Die gegenwärtigen und auch schon die vorangegangenen Elterngenerationen haben eine wichtige Lektion gelernt: Man darf die Kinder nicht einsperren, sie nicht unterdrücken, man muss sie sich frei entwickeln lassen. Der Rohrstock gehört endgültig der Vergangenheit an.
Leider haftet dieser Einsicht der unvermeidliche Fehler der simplen Negation an: Etwas Falsches nicht zu tun, bedeutet noch lange nicht das Richtige zu tun. Offen bleibt die Alternative, der angemessene Umgang mit den Kindern.
Da haben die Eltern eine tatsächlich enorm schwierige Herausforderung zu bewältigen. Es genügt nicht, die Kinder einfach sich selbst zu überlassen. Die Kleinen haben eine weit größere Denkkapazität als die Erwachsenen, da sie über ein Vielfaches an Synapsen im Gehirn verfügen. Diese Fähigkeit lässt sie rasch sehr viel verstehen, animiert sie zur Erforschung ihrer Umgebung, ermöglicht ihnen leicht Sprachen zu lernen und andere Fertigkeiten zu entwickeln. Allerdings brauchen sie dabei eine Begleitung und die Betreuungspersonen müssen den schmalen Grat zwischen „in Freiheit lassen“ und „lenken“ gehen.
Diese Aufgabe ist unendlich viel schwieriger als die früher üblichen Befehle und die neuerdings zu beobachtende Neigung, die kleinen Kinder als lebende Puppen zu behandeln. Auch ist es eine Aufgabe, die beide Eltern in die Pflicht nimmt und nicht einem zugewiesen werden kann. Das alte Prinzip, die Mutter kümmert sich um die Kinder, der Vater ist in der Arbeit, führt zu einer einseitigen Entwicklung der Sprösslinge. In diesen ersten Jahren wird bereits der Grundstein für einen souveränen Umgang mit Herausforderungen gelegt oder die Gelegenheit versäumt, die entsprechenden Weichen zu stellen.
Die Jungen auf dem Weg in die Verwahrlosung
In den folgenden Etappen wird es noch heikler. In aller Freiheit den Kindern ein Handy in die Hand zu drücken, sie vor den Fernseher zu setzen, eine Play-Station zu kaufen und selbstverständlich einen Computer mit Internet-Zugang zu liefern, gehört zum Alltag. Manchmal wird sogar ein Buch bereitgestellt, das aber vielleicht wenig Beachtung findet.
Und dann werden die Sprösslinge sich selbst überlassen, schließlich darf man sie doch nicht einengen, gar unterdrücken. Das hat für die Erwachsenen auch den angenehmen Effekt, dass man sich nicht um die Kinder kümmern muss und die eigene Freiheit genießen kann. Dieses Bild des Zusammenlebens von Eltern und Kindern ist für viele Familien charakteristisch und beginnt sich durchzusetzen, wenn die Kleinen nicht mehr als lebendige Puppen zum Knutschen taugen.
Auf diese Weise findet jedoch keine selbstständige Entwicklung statt. Man treibt die Kinder und Jugendlichen in die Verwahrlosung. Die Irrwege, die vor allem das Internet anbietet, werden ohne weitere Überlegung von vielen Jungen aufgenommen.
Da fordern soziale Netzwerke auf, die Schule zu verwüsten, den Vandalismus zu filmen und das Video für eine Prämierung einzureichen. Laufend wird zu unsinnigen Mutproben eingeladen, bei denen auch Kinder sterben, weil sie beispielsweise zu lange unter einem Plastiksack ausharren. Die Internet-Spiele zeigen, wie massenweise Menschen getötet werden, die allerdings Sekunden später wieder aufstehen und selbst andere erstechen oder erschießen, womit das Töten als Spiel erlebt wird.
In Kampffilmen werden die brutalsten Teilnehmer zu Helden hochgejubelt. Die zahllosen Pornofilme lehren die Kinder eine sexualisierte Sprache und machen Sex zu einer billigen Übung, die man auf dem Klo in der Schule oder im Park vollzieht.
Viele Kinder können zwischen Recht und Unrecht nicht unterscheiden
In dieser Atmosphäre ist es nicht erstaunlich, wenn Kinder andere mobben, Klassenkameraden drohen, sie in WhatsApp-Runden lächerlich zu machen, und von den Opfern das Taschengeld kassieren, damit die Gemeinheiten nicht stattfinden. Wenn man die Täter zur Rede stellt, antworten sie unbekümmert „Ich wollte das Geld“. Gegenüber Alterskollegen brüstet man sich sogar stolz mit der erfolgreichen Erpressung.
In das gleiche Kapitel gehört das Anheuern einer Bande, die einen verhassten Mitschüler krankenhausreif prügeln. Und das mit 11 oder 13. Das ist der Alltag für zu viele Kinder und Jugendliche.
Erst als vor kurzem zwei Mädchen eine frühere Freundin mit zahllosen Messerstichen ermordeten, weil das Opfer die Dreiergemeinschaft verlassen hatte, ging ein Entsetzen durch Mitteleuropa. In der Folge wurde aber nicht die Szene beleuchtet und analysiert, nein, das Deutsche Jugendinstitut und die Psychiatrie der Charité beeilten sich sogar zu betonen, dass Morde unter Kindern eine absolute Seltenheit seien. Wie auch Psychologen immer wieder die Meinung vertreten, der Konsum von Brutalität im Internet sei nicht bedenklich und würde sogar zum Abbau von Aggressionen beitragen.
Was soll die Bagatellisierung? Tröstet man sich mit dem Umstand, dass nicht alle Kinder und Jugendliche in diesen Sog gezogen werden? Dass vielleicht „nur“ 30 Prozent der Kinder und Jugendlichen von dieser Form der Verwahrlosung betroffen sind? Redet man das Thema klein, weil man keine Lösung weiß? Der Mord der Mädchen ist die Spitze des Eisbergs, die nun auf die gesamte Internet-Szene der Jugend aufmerksam machen müsste.
Die einfache Reaktion, das Strafmündigkeitsalter auf 10 zu senken, wie dies die Schweiz schon gemacht hat, ist sehr problematisch. Die Kinder würden im Gefängnis nur von den anderen Insassen lernen, noch ärgere Verbrecher zu werden. Fraglich ist auch, ob eine andere Variante, das Strafrecht zu bemühen, die Probleme lösen könnte: Wenn die Eltern für die Taten ihrer strafunmündigen Kinder zur Rechenschaft gezogen werden und im Extremfall im Gefängnis landen können, kümmern sie sich dann in entsprechender Weise um ihren Nachwuchs?
Corona-Lockdowns waren eine gute Gelegenheit für ein Seelenbad
Was schon für die Kleinsten gilt, trifft auch bei den Älteren zu: Die Erwachsenen sind gefordert, ihre Kinder zwar in Freiheit aufwachsen zu lassen, aber sie dabei zu begleiten. Das ist in keinem Alter leicht. Es gibt auch kein Patent-Rezept, der einzige Weg besteht in gemeinsamen Aktivitäten.
Hilfreich sind das Gespräch, das Essen, das Spielen im Familienverband. Von größter Bedeutung ist die Auseinandersetzung mit den Themen, die im Internet breitgetreten werden und jedes Sozialverhalten in Frage stellen. Das selbstverständliche Gebot der Ethik, dass man seinen Mitmenschen mit Respekt und Empathie zu begegnen hat, wird durch Filme und Botschaften in Frage gestellt, die Vandalismus feiern und erfolgreiche Betrüger als Helden darstellen. Zu erwarten, dass die Lehrer, die Psychologen oder Psychiater Wunder wirken, ist illusorisch, die Begleitung der Kinder ist Sache von Vater und Mutter.
Besonders eigenartig ist die allgemein verbreitete Tendenz, die Covid-Lockdowns zur Quelle allen Übels zu machen. In funktionierenden Familien – in welcher Rechtsform auch immer sie leben mögen – war der erzwungene Aufenthalt zu Hause eine willkommene Gelegenheit, gemeinsam zu spielen, zu basteln und über viele Themen zu diskutieren, ein Buch zu besprechen und im Internet nicht dubiose Filme, sondern interessante Informationen abzurufen.
Nicht zuletzt konnte man sich einem für die Entwicklung der Jugend so wichtigen Bereich widmen: Die derzeitige Übung, ein Essen von einer Fast-Food-Kette oder eine traditionelle, auch nicht besonders gesunde Stulle zwischendurch zu verschlingen, trägt generell nicht zur Gesundheit bei und belastet auch das Denkvermögen. Im Lockdown war es naheliegend, gesundes Essen zu Hause zu kochen. Corona hat also für viele Familien eine Stärkung des Zusammenhalts und somit des Halts für die Jungen gebracht.
Wenn allerdings im Corona-freien Alltag die Erwachsenen froh waren, wenn sie morgens in rettende Betriebe flüchten konnten, und die Kinder in der Schule die Erholung von der Hölle zu Hause genossen, dann war natürlich Corona eine schwere Belastung für die Psyche der im Lockdown Eingeschlossenen.
Auf dem Weg in den Rosenkrieg der Eltern
In Deutschland und im übrigen Mitteleuropa bekommen die Frauen im Schnitt das erste Kind im Alter von 30 Jahren. Ehen werden in der Regel geschlossen, wenn die Frauen 32 und die Männer 34 Jahre alt sind. Im Schnitt halten Ehen 12,5 Jahre, in der Corona-Zeit stieg die Periode auf 14,5 Jahre, weil Anwaltskanzleien und Gerichte geschlossen waren. Diese Daten sind für die Kindheit und Jugend der Mitteleuropäer entscheidend.
Der Start ins Leben erfolgt in einer Zeit, in der die Eltern zwar nicht mehr ganz jung, aber doch relativ jung sind. Das Kind bekommt zu Beginn eine hohe Aufmerksamkeit. Der Eifer lässt naturgemäß im Laufe der Jahre nach. Allerdings lässt auch die Zuneigung der Partner nach. Die Statistik weist, wie gesagt, aus, dass die Ehen 12,5 Jahre dauern. Nun eilt man nicht beim ersten Auftreten einer Krise zum Rechtsanwalt.
Die Spannungen treten im viel zitierten „verflixten siebten Jahr“, also zwischen dem sechsten und neunten Jahr auf. Da sind die Ehe und somit auch das erste Kind, das in vielen Familien das einzige ist, zwischen 6 und 9 Jahre alt. Die nicht selten geradezu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen zerstrittenen Eltern machen den Kindern das Leben zur Hölle
Die Scheidung wirkt wie ein Bombeneinschlag in der Psyche der Kinder
Die Scheidung der Eltern wird vollzogen, wenn das Kind zwischen 12 und 14 ist, also in einer Phase, in der die Pubertät voll wirkt und die Jugendlichen schwer belastet. Wenn also die gerade dem Kindesalter entwachsenen Jugendlichen unter dem tobenden, sich verändernden Hormonhaushalt leiden und daher besonders dringend Halt benötigen, wird ihnen der Halt der Familie entzogen. Sie müssen die entscheidenden, folgenden, schwierigen Jahre und den weiteren Lebensweg ohne diesen Halt gehen.
Dieses Erlebnis prägt die Betroffenen auf Dauer und erschwert naturgemäß den Umgang mit Krisen nachhaltig. Die Scheidung gleicht einem Bombeneinschlag in die Psyche und krönt die vorangegangenen Auseinandersetzungen, sie wirkt im Moment als Befreiung, doch der Bombentrichter bleibt in der Seele. Der Effekt wird auch durch eine gelegentlich stattfindende, betuliche Betreuung der Scheidungswaisen nicht entscheidend korrigiert. Der totale seelische Scherbenhaufen entsteht, wenn sich ein Elternteil vollends absentiert oder gar beide verschwinden.
Das Zusammentreffen der Pubertät der Kinder mit der Midlife-Krise der Eltern
Erschreckend ist zudem der Umstand, dass vielfach Eltern in die Midlife-Krise stürzen, genau dann, wenn ihre Kinder die Pubertät erreichen. Man rechne nach: Die Kinder kommen zur Welt, wenn die Eltern Anfang 30 sind, sie durchleben die Pubertät, wenn die Eltern Mitte vierzig sind. Da begegnen einander zwei sehr ähnliche Welten, beide ziemlich halt- und orientierungslos.
Womit eine weitere Herausforderung für die Eltern deutlich wird. Sie sind nicht nur gefordert, ihre Kinder klug zu begleiten, sie müssten auch ihre Midlife-Krise in kultivierter Weise meistern. Diese Krise ist eine Tatsache, die nicht alle, aber sehr viele trifft.
Da wird die aktuelle Beziehung als Gefängnis empfunden, der einst geliebte Partner, die einst geliebte Partnerin als Bremsklotz auf dem Weg zu einem erfüllten Leben gesehen. In dieser Stimmung flammt bei jeder Gelegenheit ein wilder Streit auf, die Auseinandersetzungen eskalieren zu dem bereits angesprochenen Rosenkrieg, der die Kinder extrem belastet, weil sie beide Eltern lieben und zumeist nicht Partei ergreifen wollen. Da könnte nur ein gegenseitiges Verständnis für die gerade ausgebrochene Erwachsenen-Pubertät des oder der jeweils anderen helfen. Ob Beziehungen jemals dieses Niveau erreichen?