Mit den jüngsten gewaltsamen Ausschreitungen, bei denen etwa 30 Soldaten der Nato-Schutztruppe Kfor und rund 50 serbische Demonstranten zum Teil schwer verletzt wurden, wurde die kleine Balkanprovinz mit einem Schlag wieder in das Zentrum der Weltöffentlichkeit gerückt. Dabei kam der Ausbruch der Gewalt keineswegs überraschend, ihm lag zwar einerseits ein aktueller Anlass zugrunde, doch schwerer wiegen alte Fehler und Versäumnisse des Westens, die mit der Gründung des Staates Kosovo begangen wurden.
Der Anlass der jüngsten Gewaltausbrüche waren die Kommunalwahlen im Kosovo am 23. April. Diese Wahlen wurden von den überwiegend im Norden lebenden Serben des Kosovos boykottiert. Das war absehbar. Seit der Gründung des Staates haben die Serben wiederholt deutlich gemacht, dass sie sich nach wie vor dem Staate Serbien zugehörig fühlen und sich nie und nimmer unter eine kosovarische Verwaltung stellen lassen. Ergebnis: Die Wahlbeteiligung im Norden Kosovos lag dann auch nur bei 3,4 Prozent. Als dann die kosovarischen Behörden darangingen, kosovarisch-albanische Bürgermeister in den Gemeinden unter Polizeischutz in die Bürgermeisterämter einzusetzen, geschah genau das, was jeder, der nur einigermaßen die Situation kannte, vorhergesehen hatte: Die serbische Mehrheit im Norden Kosovos wehrte sich gegen das, was sie als Zumutung empfand.
Tatsächlich wurde dies auch von Frankreich und den USA so gesehen. Frankreichs Präsident Emanuel Macron sagte, dass er die Verantwortung für die jüngsten Unruhen „ganz klar“ bei der Regierung des Kosovos sehe. Und der amerikanische Botschafter in Pristina, Jeffrey Hovernier, erklärte, dass die Maßnahmen der kosovarischen Regierung die jüngste Krise im Norden des Landes geschaffen hätten. Als Folge schlossen die USA Truppen des Kosovo von einer geplanten gemeinsamen Militärübung aus. Gleichzeitig wurden weitere 700 Soldaten der Nato in den Kosovo entsandt, um die Kfor-Schutztruppe zu verstärken.
Derweil hatte Serbiens Präsident Aleksandar Vucic seine Armee in Alarmbereitschaft versetzt und sowohl Russland als auch China ihre Solidarität mit Serbien bekundet. Jedoch dürfte Pristina – nachdem sowohl die USA als auch Frankreich ihre Missbilligung deutlich gemacht haben – kaum länger auf die Einsetzung kosovarischer Bürgermeister im Norden des Landes bestehen. Doch damit ist das grundlegende Problem des Kosovos wie das des Balkans insgesamt nicht gelöst.
Das Erbe von Rambouillet
Für die serbische Sicht auf die Lage im Kosovo kann der Rückblick auf die Konferenz von Rambouillet im Jahre 1999 in seiner Bedeutung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Auf dieser Konferenz im Schloss von Rambouillet bei Paris wurden der noch existierenden Bundesrepublik Jugoslawien (sie bestand aus den Teilrepubliken Serbien und Montenegro) Bedingungen in einer geradezu entwürdigenden Weise diktiert, die diese beim besten Willen nicht akzeptieren konnte. Rambouillet hat sich bis zum heutigen Tag tief in das kollektive Gedächtnis der Serben eingegraben.
Hintergrund der Konferenz waren die Kämpfe zwischen der kosovo-albanischen Untergrundbewegung UCK und serbisch-jugoslawischen Sicherheitskräften. Sie hatten ihren Ursprung in den 80er-Jahren als die Spannungen zwischen Serben und Kosovo-Albanern im Kosovo, das Teil der Republik Serbiens war, ständig zunahmen. Seit 1996 ging dann die UCK dazu über, serbische Mitbewohner und Sicherheitskräfte anzugreifen und zu ermorden, was wiederum Repressalien auf serbischer Seite zur Folge hatte. Für Serbien war die Forderung nach vollständiger Autonomie ihrer Provinz Kosovo nur schwer zu akzeptieren, denn das Kosovo ist in vielerlei Hinsicht Kernland Serbiens. Auf dem Boden des Kosovo stehen bedeutende Klöster der serbisch-orthodoxen Kirche und dort fand auch 1396 die Schlacht auf dem Amselfeld statt, die im Selbstverständnis der Serben eine Art Geburtsstunde ihrer Nation darstellt.
Im Zuge der blutigen Balkankriege hatten vor allem die USA ihre Position in der Kosovofrage grundlegend verändert. Hatten die USA bis dahin die kosovo-albanische Untergrundorganisation UCK noch als Terrororganisation eingestuft, wandelte sich diese in ihren Augen plötzlich zu einer unterstützungswerten Freiheitsbewegung. Zudem schlossen sich die USA und dann die Nato-Staaten der Forderung nach einer Unabhängigkeit des Kosovo an.
„Diktat des Westens“
Auf der Konferenz von Rambouillet hatte dann 1999 die Nato die Forderungen der Bundesrepublik Jugoslawien diktiert. Das Kosovo hatte, so der Vertrag, ohne Wenn und Aber unabhängig zu sein, alternative Vorschläge der jugoslawischen Delegation nach weitreichender Autonomie des Kosovos innerhalb des jugoslawischen Bundes wurden vom Tisch gefegt. Besonders entwürdigend waren dabei die Teile, die die militärische Implementierung des Vertrages regelten. So wurden den Nato-Truppen in den Kapiteln 7 und 8 komplette Durchmarschrechte und die freie Beweglichkeit in ganz Jugoslawien inklusive des Luftraums zugestanden. Zudem sollte das gesamte Nato-Personal vollkommene Immunität gegenüber jugoslawischen Behörden genießen.
Der frühere US-Außenminister Henry Kissinger, nannte diesen Vertragstext für Serbien auch „völlig unakzeptabel“. Dieser Text, der dazu aufrief, den Durchmarsch von Nato-Truppen durch Jugoslawien zu genehmigen war seiner Meinung nach „eine Provokation, eine Entschuldigung dafür, mit den Bombardierungen zu beginnen. Kein Serbe mit Verstand hätte Rambouillet akzeptieren können. Es war ein ungeheuerliches diplomatisches Dokument.“
Am Tag nachdem die Bundesrepublik Jugoslawien dieses Diktat zurückgewiesen hatte, begann folglich die Nato mit den Bombardierungen im Kosovo und in Jugoslawien – ohne jemals dafür ein Mandat des UN-Sicherheitsrates gehabt zu haben.
Die Krise auf dem Balkan
Dieses Verhalten des Westens wirkt bis zum heutigen Tage nach - in vielerlei Hinsicht. Zum einen haben die Serben nicht vergessen, wie ein Kernstück ihres Landes abgetrennt wurde – und das unter Umständen, die die meisten Serben bis zum heutigen Tage als entwürdigend empfinden. Zudem kam hinzu, dass der Westen auch noch darauf bestanden hatte, dass der serbisch besiedelte Norden dem Kosovo zugeschlagen wurde, obwohl jeder wissen musste, dass dies neue Auseinandersetzungen zwangsläufig zur Folge hat. Das Ergebnis ist, dass der Westen bis zum heutigen Tage vollauf damit beschäftigt ist, im Kosovo eine Situation unter Kontrolle zu halten, die er selbst geschaffen hat.
Dringend müsste der Westen seine bisherige Balkanpolitik überdenken, zumal die Situation in Bosnien eine Ähnliche ist. Auch dort wurde – mit maßgeblicher politischer und ökonomischer Unterstützung des Westens ein politisches Gebilde geschaffen, das weder die Unterstützung eines wesentlichen Teils der Bevölkerung, nämlich der Serben, hat, noch ökonomisch lebensfähig wäre. Es wäre also hohe Zeit einzugestehen, dass eine dauerhafte Lösung auf dem Balkan ohne Serbien nicht möglich ist.
Und noch in anderer Hinsicht wirkt das Beispiel des Kosovo bis zum heutigen Tage nach. Indem die Nato 1999 die Bundesrepublik Jugoslawien ohne Mandat des UN-Sicherheitsrates angegriffen und bombardiert hatte; indem es durch die Aufteilung Serbiens Grenzen gewaltsam verschoben hatte, tat sie letztlich das, was sie heute Russland in der Ukraine vorwirft.