Wirtschaft

Erdgas aus Aserbaidschan: Die Lösung für Mitteleuropas Energieversorgung?

Mitteleuropäische Staaten wie Ungarn haben in Aserbaidschan einen Lieferanten für günstiges Erdgas gefunden, um einer Abhängigkeit von Russland und den USA zu entgehen. Doch kann die Versorgung aus dem kleinen Staat am Kaspischen Meer den Bedarf decken?
24.06.2023 09:17
Aktualisiert: 24.06.2023 09:17
Lesezeit: 4 min
Erdgas aus Aserbaidschan: Die Lösung für Mitteleuropas Energieversorgung?
Ist Gas aus Aserbaidschan eine tragfähige Alternative zu Gas aus Russland? (Foto: dpa) Foto: -

Wann wird Erdgas billiger? Und wer exportiert Erdgas überhaupt? Seit dem Beginn des Ukrainekrieges beendeten viele europäische Länder ihre Kooperation mit der Russischen Föderation und suchen seither nach neuen Lieferanten günstigen Erdgases.

Zuletzt schloss sich Europa zu einem Gaskartell zusammen, um bessere Preise bei potenziellen Lieferanten in Nahost, den USA oder Afrika auszuhandeln. Dieses Unterfangen gilt als der erste gemeinsame Gaseinkauf der EU, bei dem Unternehmen und Länder geschlossen als Kunden auftreten. Um Preisspitzen zu vermeiden, wird auf der EU Energy Platform die Nachfrage gebündelt und die Kunden treten geschlossen bei ihren Lieferanten auf. So jedenfalls die Theorie.

Bisher konnte sich das Gespann aus industriellen Erdgasgroßverbrauchern und Regierungen ganz Europas jedoch nicht durchsetzen. Die ambitionierte Planung wird derzeit von etlichen nationalen Alleingängen und, wie zu erwarten, einem deutschen Sonderweg konterkariert. Länder Ost- und Mitteleuropas schlossen sich infolge dieser Unsicherheit zusammen und unterzeichneten im April 2023 in Sofia ein Memorandum, wonach die Lieferung aserbaidschanischen Erdgases über den „Solidaritätsring“ nach Europa gesichert werden soll. Zu den Unterzeichnern zählten Aserbaidschan selbst, Bulgarien, Rumänien, Ungarn und die Slowakei.

„Pflicht der EU“

„Die beste Lösung für die aktuelle Energiekrise wäre, mehr Gas aus mehr Quellen und über mehr Routen nach Europa zu bringen, sagte Ungarns Außenminister Péter Szijjártó. Je weniger Zugänge zum Meer vorhanden seien, desto abhängiger wären Länder von der sie umgebenden Energieinfrastruktur. Die Entwicklung einer solchen Infrastruktur in Mittel- und Südosteuropa sei deshalb eine europäische Aufgabe, um wettbewerbsfähig zu bleiben, und die EU müsse diese Aufgabe endlich angehen. Andernfalls würde die Glaubwürdigkeit der europäischen Energiepolitik endgültig verloren gehen. Ungarn selbst könnte dann alle nötigen Maßnahmen ergreifen, um die Kapazität der inländischen Sektion im Solidaritätsring auf fünf Milliarden Kubikmeter pro Jahr zu erhöhen.

Szijjártó verkündete in Chișinău am 25. Mai, Ungarn werde noch in diesem Jahr 100 Millionen Kubikmeter Erdgas aus Aserbaidschan beziehen. Dies sei zwar eine kleine Menge im Verhältnis zu dem Bedarf des Landes, würde aber einen ersten Schritt hin zu größeren und langfristigen Lieferungen bedeuten.

Die Energieinfrastruktur in Südosteuropa müsse allerdings ausgebaut werden, da die Kapazität derzeit nicht ausreiche, um Aserbaidschans Gas zu einer echten Diversifikationslösung in Mitteleuropa zu machen, so der Minister. Tatsächlich könnte das Projekt schon bis zum Jahr 2026 abgeschlossen werden, wenn die EU die notwendigen finanziellen Mittel von insgesamt 730 Millionen Euro dafür aufbringt.

„Das ist eine EU-Angelegenheit, eine EU-Aufgabe. Wir erwarten zu Recht, dass die Europäische Union Entwicklungen finanziert, die die Kapazität der Gastransportinfrastruktur in Südosteuropa erhöhen werden. Das Erdgas Aserbaidschans sei derzeit die realistischste Alternative für Ungarn und Moldawien, um die Sicherheit ihrer Gasversorgung zu gewährleisten, betonte der Minister.

Gas aus Russland — gekauft in Aserbaidschan?

Doch die Idee, Gas aus Aserbaidschan zu beziehen, besteht schon länger. Bereits im Juli 2022 hatte die EU ein Memorandum mit Aserbaidschan unterzeichnet, wonach das Land am Kaspischen Meer Gas in die Union liefern sollte. Doch Experten schätzen, dass Aserbaidschan zu langsam und zu wenig Gas produziert, um die Nachfrage der EU zu decken. Der Bedarf des Landes selbst wachse so schnell, dass ein Großteil des Gases wohl in Aserbaidschans Besitz bliebe, selbst wenn alle vier großen Gasfelder des Landes genutzt würden.

Ebenfalls gegen die Versorgung Europas spräche die hohe Nachfrage vonseiten der Türkei, die mit importiertem Gas aus ihrem Nachbarland sogar die gesamte Region versorgen wolle. Wo blieben da noch Kapazitäten zur Versorgung Südost- und Mitteleuropas oder gar der gesamten EU?

Besonders irritierende wirkte zudem der Vertragsabschluss zwischen Russlands staatlichem Produzenten Gazprom und Aserbaidschans Gasfirma SOCAR im November 2022. Kurz nach dem Versprechen, die Gaslieferungen nach Europa hochzufahren, kaufte Aserbaidschan 100 Milliarden Kubikmeter in Moskau ein. Es stellt sich nun die Frage, ist der Einkauf von Aserbaidschans Gas nur ein Etikettenschwindel, der die Abhängigkeit von Russland verdecken soll? Und wäre das nicht passend für einen Politiker wie Péter Szijjártó, der noch 2021 einen Orden der Freundschaft von Amtskollegen Sergej Lawrow erhielt, als Dank für die beständigen Wirtschaftsbeziehungen zur russischen Regierung?

Gas für ein Binnengebiet ohne Häfen

Die geografische und politische Nähe Bakus zu Moskau dürfte durchaus ein Grund dafür sein, dass Südost- und Mitteleuropas Interesse an Aserbaidschans Erdgas so hoch ist. So wird derzeit ein Großteil des Erdgases aus Russland bezogen, einerseits aufgrund alter Verträge, die etwa Ländern wie Polen und Estland extrem hohe Fördermengen aus Moskau vorschreiben, andererseits aus Kostengründen. Die Umstellung auf Erdgas aus Aserbaidschan ist da ein simpler Schachzug, um sich scheinbar unabhängig von Moskau zu machen.

Hier ist weniger Zynismus als pure Notwendigkeit ausschlaggebend. Denn während die Wortführer der EU Flüssiggas aus den USA und Norwegen und Gas aus Algerien und Libyen importieren, die zusammengenommen rund 60 Prozent des gesamten Importes ausmachen, ist der Osten Europas auf Pipeline-Lieferungen und die nationale Gasförderung angewiesen.

Es ist daher nicht überraschend, dass die Initiative von diesen Ländern vorangetrieben wird, um Erdgas aus der Region des Kaspischen Meeres zu beziehen. Zwar stammen nur zwei Prozent des Erdgases in der EU aus diesem Gebiet, aber Mittel- und Südosteuropa sind mit ihrer Binnenlage und durch ihre fehlenden Zugänge zu gut erreichbaren Meerengen prädestiniert für Importe aus der Region. Der Solidarity Ring basiert zudem auf einem älteren, dem Eastring, sodass viele der notwendigen Leitungen schon gelegt und einsatzbereit sind.

Diversifizierung statt totale Abhängigkeit

Wo Erdgas kaufen, wenn man also über keine Zugänge zum Meer und beinahe ausschließlich veraltete Pipelines nach Moskau verfügt? Südost- und Mitteleuropa haben das Konzept, auf mehrere Lieferanten zu setzen und sich nicht von einer einzelnen Stelle abhängig zu machen. So gilt nach wie vor: Russisches Erdgas ist die wichtigste Energiequelle Ungarns, doch, so die Justizministerin Judit Varga, das Land arbeite intensiv daran, seine Importe zu diversifizieren.

„[Die ungarische Regierung] hat nicht die Absicht, ihre Abhängigkeit von Russland gegen eine Abhängigkeit von den USA einzutauschen, es ist zudem im Interesse Ungarns und Europas, mindestens fünf oder sechs Erdgaslieferanten zu haben“, so die Ministerin.

Die Versorgung Mittel- und Südosteuropas wird mit Aserbaidschans Erdgas allein nicht gedeckt werden können.

Die eigentliche Idee hinter der Diversifizierung der Gaslieferanten ist es, einer totalen Abhängigkeit von einem Lieferanten zu entgehen. So täte die EU gut daran, sich nicht gänzlich auf die USA als Lieferant von LNG Gas zu verlassen, sondern sich an mehrere Versorger zu wenden. Andernfalls kommt es zum Preiskampf zwischen der EU und Asien um LNG, welches zuletzt eine enorme Preissteigerung erfuhr.

Szijjártó, der zurzeit in Turkmenistan ist und dort über Erdgaslieferungen berät, die später über Baku nach Ungarn gelangen sollen, schrieb am 09. Juni 2023: „Heute findet hier ein Gipfel zwischen zwei Ländern statt, die stolz ihre nationale Souveränität verteidigen und für Frieden stehen. Turkmenistan weiß wie Ungarn auch, dass bei einem Konflikt zwischen Ost und West nichts Gutes passiert. Heute stärken wir den Klang des globalen Friedenslagers.“

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Virgil Zólyom

                                                                            ***

Virgil Zólyom, Jahrgang 1992, lebt in Meißen und arbeitet dort als freier Autor. Sein besonderes Interesse gilt geopolitischen Entwicklungen in Europa und Russland. Aber auch alltagsnahe Themen wie Existenzgründung, Sport und Weinbau fließen in seine Arbeit ein.

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