Weltwirtschaft

Europa schlittert in die Rezession

Lesezeit: 3 min
23.06.2023 12:07  Aktualisiert: 23.06.2023 12:07
Die Volkswirtschaften Europas geraten in schweres Fahrwasser, aktuelle Indizes sprechen eine deutliche Sprache.
Europa schlittert in die Rezession
Europa steckt in der Rezession. (Foto: istockphoto.com/KanawatTH)
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In Deutschland und der Euro-Zone bremsen Inflation, steigende Zinsen, Klima-Vorschriften und die maue Weltwirtschaft die Konjunktur zusehends aus. Dies geht aus dem am Freitag vorgelegten Einkaufsmanagerindex (PMI) für die hiesige Privatwirtschaft und die des Euroraums hervor. Angesichts der stärker schrumpfenden Industrie erlahmen die Wachstumskräfte, wie aus den Firmen-Umfragen des Finanzdienstleisters S&P Global abzulesen ist. Dies auch, weil der noch wachsende Servicesektor an Zugkraft verliert.

Der PMI für die Gesamtwirtschaft in Deutschland ging überraschend deutlich um 3,1 auf 50,8 Punkte zurück und signalisiert das schwächste Wirtschaftswachstum seit vier Monaten. Nun liegt das Barometer nur noch knapp über der Wachstumsschwelle von 50 Zählern. Dazu passt, dass immer mehr Bond-Anleger auf eine tiefgreifende Rezession wetten. Zwar deuten die Anleiherenditen seit längerem darauf hin, am Freitag allerdings so deutlich wie zuletzt 1992. "Die Signale sind nicht zu übersehen, dass die Zentralbanken bereit sind, die Zinsen auf ein Niveau anzuheben, bei dem etwas kaputt gehen könnte oder zumindest ein stärkerer Konjunktureinbruch folgt", sagte Commerzbank-Anlagestratege Christoph Rieger.

Die Europäische Zentralbank (EZB) hatte im vergangenen Sommer mit ihrer geldpolitischen Straffungsserie begonnen und jüngst die achte Zinserhöhung in Folge vollzogen. Im Juli dürfte sie nachlegen. Laut Bundesbankchef Joachim Nagel könnten die Zinsen auch nach der Sommerpause womöglich noch steigen. Aus seiner Sicht wäre es ein Kardinalfehler, den Kampf gegen die hohe Inflation zu früh zu beenden. Es sei mit Blick auf die ausufernde Teuerung zudem richtig gewesen, dass die EZB die Konjunkturentwicklung mit ihrem strafferen Kurs gebremst habe.

Die Industrie in Deutschland, der größten Volkswirtschaft der Euro-Zone, hat längst den Rückwärtsgang eingelegt: "Im Verarbeitenden Gewerbe stehen im zweiten Quartal alle Zeichen auf Rezession, während sich im Dienstleistungssektor eine Wachstumsverlangsamung bemerkbar macht", sagte Chefvolkswirt Cyrus de la Rubia von der Hamburg Commercial Bank (HCOB), die die S&P Global-Umfrage sponsert. Für den Servicesektor fiel der PMI im Juni auf 54,1 Punkte nach 57,2 Zählern im Mai. In der Industrie sackte das Barometer auf 41,0 Punkte von 43,2 Zählern im Vormonat - der tiefste Wert seit 37 Monaten.

"Im Verarbeitenden Gewerbe führt das Grauen immer mehr Regie", so die Einschätzung von Chefvolkswirt Alexander Krüger von der Hauck Aufhäuser Lampe Privatbank. Der Servicesektor stehe einem Wachstumsabsturz weiter entgegen: "Wirklich vorwärts kommen wird die deutsche Wirtschaft vorerst aber nicht." Die Chefin der Wirtschaftsweisen, Monika Schnitzer, rechnet im laufenden Jahr weitgehend mit einer Stagnation. Die hiesige Wirtschaft war Ende 2022 und Anfang 2023 jeweils zum Vorquartal geschrumpft. Sie befindet sich damit in einer sogenannten technischen Rezession.

Zinserhöhungen fordern Tribut

Das gleiche gilt für die Euro-Zone, auch wenn das Bruttoinlandsprodukt (BIP) dort zwei Quartale in Folge nur leicht schrumpfte. Der PMI für Juni zeigt, dass auch der Wirtschaft im Euroraum zum Ende des zweiten Quartals die Puste ausgeht: "Nach der kurzen Belebung im Frühjahr ist das Wirtschaftswachstum im Juni nahezu zum Stillstand gekommen", konstatierten die Organisatoren der Umfrage. Das Barometer sank im Juni auf 50,3 Punkte von 52,8 Zählern im Mai.

Experte Jörg Angelé von der Bantleon AG verweist darauf, dass Auftragsbestand, Aufträge und Produktion im Juni auf einem Niveau angelangt sind, das in der Vergangenheit nur während Abschwungs- beziehungsweise Rezessionsphasen erreicht wurde: "Die massiven Zinsanhebungen der EZB und die sich weiter abkühlende globale Konjunktur fordern ihren Tribut."

Commerzbank-Ökonom Christoph Weil sieht es als Warnsignal, dass auch der Dienstleistungssektor deutlich an Schwung verlor. Abzulesen ist dies am PMI für den Sektor, der auf 52,4 Punkte von 55,1 Zählern abrutschte: "Dies spricht gegen eine von vielen erwartete Erholung der Konjunktur in den kommenden Monaten. Wir sehen uns dagegen in der Einschätzung bestätigt, dass die Wirtschaft im Euroraum in der zweiten Jahreshälfte erneut schrumpfen wird", erklärte der Volkswirt.

Große Probleme in Großbritannien

Die Stimmung in den britischen Unternehmen hat sich im Juni weiter eingetrübt. Nach dem Dämpfer im Vormonat fiel der Einkaufsmanagerindex von S&P Global gegenüber Mai um 1,2 Punkte auf 52,8 Punkte, wie S&P am Freitag in London mitteilte. Dies ist der tiefste Stand seit drei Monaten. Analysten hatten im Schnitt lediglich mit einem Rückgang auf 53,6 Punkte gerechnet.

Dabei gaben sowohl der Indikator für den Dienstleistungssektor als auch der für die Industrie deutlicher nach als erwartet. Unverändert deutet die Industriestimmung mit weniger als 50 Punkten auf eine Schrumpfung hin, wohingegen die Service-Kennzahl über der Schwelle liegt und damit weiterhin eine Expansion nahelegt.

"Die britische Wirtschaft hat nach einem kurzen Wachstumsschub im Frühjahr wieder an Schwung verloren und dürfte sich in den kommenden Monaten weiter abschwächen", schrieb S&P-Global-Chefvolkswirt Chris Williamson. Vor allem die Verbraucherausgaben für Dienstleistungen, die im Frühjahr eine wichtige Wachstumsstütze gewesen seien, zeigten jetzt Anzeichen für ein Nachlassen. Die Realität höherer Zinsen, gestiegener Lebenshaltungskosten und düsterer Aussichten überlagere den kurzzeitigen Rückenwind durch die Pandemie.


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