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AfD-Aufstieg: Etablierte Parteien haben ihre Chancen verpasst

Lesezeit: 3 min
26.06.2023 21:07  Aktualisiert: 26.06.2023 21:07
Nach der klaren Wahl des AfD-Kandidaten bei der Landrats-Stichwahl in Sonneberg steht die Republik vor einer parteipolitischen Zeitenwende. Über die Ursachen des Wahlerfolges der AfD und verpasste Chancen der etablierten Parteien sprachen die Deutschen Wirtschaftsnachrichten mit dem Meinungsforscher Hermann Binkert.
AfD-Aufstieg: Etablierte Parteien haben ihre Chancen verpasst
Wahlplakate von AfD und CDU in Sonneberg. (Foto: dpa)

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Nach der überraschend klaren Wahl des AFD-Kandidaten Robert Sesselmann bei der Landrats-Stichwahl in Sonneberg in Thüringen steht die Republik vor einer parteipolitischen Zeitenwende. Erstmals in der zehnjährigen Geschichte dieser Partei ist es einem ihrer Kandidaten gelungen, in ein Amt gewählt worden zu sein. Über die Ursachen des Wahlerfolges der AfD und verpasste Chancen sprachen die Deutschen Wirtschaftsnachrichten (DWN) mit dem Meinungsforscher Hermann Binkert.

DWN: Was war der Grund für den Erfolg des AfD-Kandidaten bei der Stichwahl in Sonneberg?

Hermann Binkert: Zum einen liegt das an der Beschaffenheit des Landkreises selbst. Sonneberg ist ein deutlich konservativ geprägter Landkreis. Hier hat die AfD auch schon in den Wahlen zuvor immer überdurchschnittlich gute Ergebnisse einfahren können. Das Überraschende am Ausgang dieser Wahl lag eigentlich woanders.

DWN: Nämlich?

Hermann Binkert: Dass die AfD ganz offenkundig noch einmal im Lager der Nichtwähler mobilisieren konnte. Anders ist ja das Ergebnis gar nicht erklärbar. Denn im Vergleich zum ersten Wahlgang haben beide Seiten in der Stichwahl noch einmal zulegen können. Das heißt, in Sonneberg gab es offenkundig eine Reserve im AfD-Wählerpotential, die die Partei dann in der Stichwahl abrufen konnte.

DWN: Wie setzt sich in Ost und West die Wählerschaft der AfD zusammen?

Hermann Binkert: Das Erstaunliche ist, dass eigentlich die Ost-West-Unterschiede in der Struktur gar nicht so groß sind. In Ost und West hat die AfD ihr demografisch stärkstes Potential bei Männern und bei den Wählern im Alter von 30 bis 60. Auch die Vorstellung, dass es sich bei den AfD-Wählern um sozial Abgehängte handeln würde, ist schlicht nicht haltbar, wie schon ein Blick auf Sonneberg zeigt, denn Sonneberg ist ein eher wohlhabender Landkreis. Das heißt logischerweise im Umkehrschluss: Alleine Maßnahmen zur Erhöhung der sozialen Leistungen werden also am Aufkommen der AfD letztlich nichts ändern.

DWN: Was sind die Motivationen für Menschen, die AfD zu wählen, welche Unterschiede gibt es da zwischen Ost und West?

Hermann Binkert: Ich würde die Frage nach der Motivation nicht an der Herkunft der Wähler festmachen. Natürlich schneidet die AfD in den Neuen Ländern besser ab. Doch wenn die AfD inzwischen bundesweit in den Umfragen bei etwa 20 Prozent liegt, dann muss es auch einen deutlichen Schub für diese Partei im Westen gegeben haben. Anders sind bundesweite 20 Prozent in den Umfragen nicht zu erzielen.

DWN: Nun ist es ja so, dass mit der Wahl in Sonneberg erstmals ein Allparteien-Bündnis von der Linkspartei bis hin zur CDU gegen einen Kandidaten der AfD gescheitert ist. Widersprechen solche Allparteien-Bündnisse nicht den Gedanken eines demokratischen Wettbewerbs.

Hermann Binkert: Nun hat eine Stichwahl immer eigene Besonderheiten. Es liegt in der Natur einer Stichwahl, dass sich zwei gegenüberstehende Blöcke bilden. Etwas Anderes ist es, wenn sich bei normalen Wahlen der Eindruck verfestigt, dass alle Parteien gegen eine sind – und damit der Wettbewerb zwischen den Parteien einschläft. Das hilft am Ende nur der Partei, die ausgegrenzt wird.

DWN: Warum?

Hermann Binkert: Weil die Unterscheidbarkeit verloren geht – und damit die Identitäten von Parteien verwischen.

DWN: Warum kommt am Ende die fehlendende Unterscheidbarkeit der AfD zugute?

Hermann Binkert: Weil durch die fehlende Unterscheidbarkeit sogenannte Repräsentationslücken entstehen, in die dann die AfD hineinstößt. Etwas überspitzt formuliert, zeigt im Grunde genommen das Aufkommen der AfD nur, dass die parlamentarische Demokratie funktioniert.

DWN: Das müssen Sie erklären.

Hermann Binkert: Wenn Parteien gewisse Themen – aus welchen Gründen auch immer – nicht aufgreifen, dann suchen sich Bürger, denen genau diese Themen wichtig sind, neue Repräsentanten. Eigentlich ein so simpler wie logischer Vorgang. Und die Geschichte des Aufstiegs der AfD zeigt es ja ganz deutlich: Die etablierten Parteien hätten ja mehrfach die Möglichkeit gehabt, den AfD-Aufstieg zu verhindern – wenn sie sich nur um die Themen gekümmert hätten.

DWN: Was waren denn die entscheidenden Wegmarken?

Hermann Binkert: Es begann schon mit der Gründung der AfD, die ja ursprünglich eine Partei war, die sich aus Protest gegen die Euro-Rettung gebildet hatte. Eigentlich wäre das Thema der Euro-Rettung ein klassisches Thema für die Wirtschafts- und Rechtsstaatspartei FDP gewesen, doch die Liberalen ließen das Thema liegen und schufen so eine Repräsentationslücke, in die die AfD gestoßen war. Hätten die wirtschaftspolitischen Reflexe der FDP funktioniert und hätte sie sich dieses Themas angenommen, wäre es möglicherweise gar nicht zur Gründung der AfD gekommen.

Die zweite verpasste Chance war natürlich die Einwanderungsfrage. Zu dieser Zeit lag die AfD am Boden. Wesentliche Teile des Wirtschaftsflügels um den Parteigründer Bernd Lucke hatten die AfD verlassen, in den Umfragen lag die Partei bei gerade drei Prozent. Dass die CDU, die ja immer eine Partei war, die bei der Zuwanderung eher auf der Bremse stand, den Merkel-Öffnungskurs mitgetragen hat, wurde ein weiterer wesentlicher Baustein für den Aufstieg der AfD. Hätte die CDU sich der Politik Merkels verweigert, wäre die AfD wahrscheinlich im Umfragekeller geblieben und – so vermute ich – dann früher oder später auseinandergefallen.

Infos zur Person:

Hermann Binkert begann seine Laufbahn in der Politik in Thüringen war unter anderem Persönlicher Referent des früheren Ministerpräsidenten Bernhard Vogel (CDU) und war später Staatssekretär in der Thüringer Staatskanzlei und Bevollmächtigter des Freistaats in Berlin. Nach seinem Ausscheiden aus der Politik gründete Binkert in Erfurt das Meinungsforschungsinstitut INSA, das heute das profilierteste Institut für die politische Meinungsforschung in den Neuen Ländern ist.


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