Der Krieg in der Ukraine verändert Europas Energie-Landkarte. Die Europäer kaufen zunehmend Flüssigerdgas (LNG) aus Norwegen, Katar und den USA sowie Erdgas nordafrikanischer und zentralasiatischer Produzenten; Russland ist nicht länger der zentrale Lieferant. Und nun, da die EU-Verbote für den Kauf von Rohöl und Mineralölprodukten aus Russland in Kraft getreten sind, ändert sich auch die Zusammensetzung der europäischen Ölimporte. Das betrifft rund 2,5 Millionen Barrel pro Tag.
Am stärksten dürfte von diesen Anpassungsmaßnahmen der Nahe Osten profitieren. Er dürfte dadurch die prominente Marktposition zurückerlangen, die er während des letzten Jahrzehnts aufgrund der US-Ölschieferrevolution und der globalen Wende hin zu saubereren Energieträgern teilweise verloren hatte.
In der Theorie ist es einfacher, die Öl-Landkarte neu zu zeichnen als die Gas-Landkarte. Der Ölmarkt ist global integriert und weist kaum größere Barrieren für den internationalen Fluss von Rohöllieferungen auf - anders als der Erdgasmarkt, der stärker regional fragmentiert ist, weil Gas traditionell durch Pipelines transportiert wird. Um dem LNG-Markt dieselbe räumliche Ausdehnung und Effizienz zu verschaffen wie dem Ölmarkt, bedürfte es einer enormen weltweiten Zunahme der Zahl der Verflüssigungs- und Regasifizierungsanlagen.
Verschiedene Länder, verschiedenes Öl
In der Praxis jedoch begrenzen die Unterschiede des Öls aus verschiedenen Ländern tendenziell dessen Ersetzbarkeit. Die beiden wichtigsten Eigenschaften, in denen sich eine Art Öl von einer anderen unterscheidet, sind Gewicht und „Süße“. Schweröl verdunstet langsam und enthält Stoffe, die zur Herstellung von Industrieprodukten wie Asphalt genutzt werden. Leichtes Öl erfordert weniger Verarbeitung und wird im größeren Maße zu Benzin und Diesel verarbeitet als Schweröl.
Die Süße verweist auf den Schwefelgehalt des Öls. Midstream-Unternehmen und Raffinerien, die „saures“ Öl transportieren, lagern und verarbeiten, benötigen zusätzliche Kapazitäten zur Entschwefelung ihrer Produkte. Rohöl der Sorte Urals - das früher nach Europa verschiffte russische Kernprodukt - ist eine Mischung, die sowohl süß als auch leicht sein kann. Daher eignet es sich in besonderem Maße zur Herstellung von Diesel und Flugbenzin.
Was die großen Produzenten im Nahen Osten angeht, kommt saudi-arabisches Öl dem Urals-Öl qualitativ am nächsten. Insofern könnten die 5,5 Millionen Barrel, die das Königreich täglich nach Asien verschifft, nun nach Europa umgeleitet werden, während eine entsprechend größere Menge an russischem Öl nach China und Indien gehen dürfte.
EU-Preisdeckel
Dieses Szenario steht im Einklang mit dem Ziel des EU-Preisdeckels. Dieser soll das russische Rohöl nicht vom Markt nehmen (was wirtschaftlich zu Verwerfungen führen würde), sondern die Höhe der Einnahmen, die der Kreml damit erzielen kann, begrenzen. Mehr Öl aus dem Nahen Osten, statt aus den USA zu beziehen würde den europäischen Raffinerien zudem einen Teil der Umstellungskosten ersparen, da US-Schieferöl im Allgemeinen zu leicht ist, um russisches Rohöl großmaßstäblich zu ersetzen.
Doch gibt es Hürden für die Umlenkung des Handels weg von Asien. Die wichtigsten sind die langfristigen Verträge, die asiatische Kunden an Produzenten aus dem Nahen Osten binden, sowie die im Vergleich zu Europa größere Attraktivität des asiatischen Marktes, die auf Europas strengeren Umweltstandards und geringerem Wachstumspotenzial beruht. Zudem wird mit Zunahme des globalen Wettbewerbs um das Öl aus dem Nahen Osten die Preissetzungsmacht der OPEC zunehmen.
Wachsende Rolle des Nahen Ostens
Die zunehmende Rolle des Nahen Ostens bei der Belieferung Europas mit Öl ist bereits erkennbar. Europa war bisher ein Nettoimporteur von russischen Mineralölprodukten, insbesondere dem als Treibstoff für Autos, Lastwagen, Schiffe, Bau- und Industriemaschinen usw. verwendeten Diesel. Daher waren die Anleger Anfang 2023 sehr besorgt, dass der Kontinent einen lähmenden Mangel an Diesel erleben würde, sobald im Februar das EU-Verbot in Bezug auf russische Produkte in Kraft treten würde. Bisher jedoch hat sich Europas Strategie zur Diversifizierung seiner Versorgung als wirksam erwiesen.
Diese Strategie hat viele bewegliche Teile. So unterzeichnete etwa Deutschland letztes Jahr einen Vertrag mit Abu Dhabi über die Lieferung von Diesel in Mengen, die in etwa zwei Dritteln der früheren Importe aus Russland entsprechen. Am stärksten zugenommen haben laut US Energy Information Administration jedoch die europäischen Dieselimporte aus Saudi-Arabien. Im Februar waren diese auf 202.000 Barrel pro Tag gestiegen - nach durchschnittlich 68.000 Barrel täglich von Oktober 2021 bis September 2022.
Rolle der Türkei
Die Rolle der Türkei dürfte ebenfalls zunehmen. Da sie kein EU-Mitglied ist, darf sie im Rahmen des Preisdeckelungssystems weiterhin russisches Diesel importieren. Diese Importe könnten genutzt werden, um die Binnennachfrage zu befriedigen, während türkisches Diesel nach Europa exportiert wird.
Und wenn die ökologische Wende erst einmal so richtig an Fahrt gewinnt und zu einer Verringerung des weltweiten Ölverbrauchs führt, werden Marktanteil und Preissetzungsmacht der Produzenten aus dem Nahen Osten zunehmen. Weil ihre Produktionskosten zu den niedrigsten weltweit gehören, hätte ein Rückgang der Ölnachfrage zur Folge, dass weniger kosteneffiziente Produzenten etwa aus Nordamerika preislich nicht mithalten können und aus dem Markt gedrängt werden.
Veränderte Öl-Landkarte: wichtige geopolitische Wende
Diese Veränderungen der europäischen Öl-Landkarte markieren eine wichtige geopolitische Wende. In gewisser Weise stellen sie eine Rückkehr zur Lage vor vier Jahrzehnten dar. Europa entwickelte sich in den 1980er Jahren zu einem wichtigen Erdgasverbraucher, weil es nach der durch die Ölkrisen der 1970er Jahre bedingten Instabilität sein Klumpenrisiko im Nahen Osten verringern wollte. Noch immer entfallen aus diesem Grund insgesamt nicht einmal 20 Prozent der europäischen Ölimporte auf Öl aus dem Nahen Osten.
Entsprechend wird die zunehmende Abhängigkeit vom Öl aus dem Nahen Osten Europa deutlich anfälliger für die geopolitischen Spannungen in der Region machen. Neben der Umsetzung angemessener Sicherungsstrategien - sowohl was die Diversifizierung der Bezugsquellen als auch was das diplomatische Engagement angeht - müssen sich die Europäer auch darauf einstellen, dem zunehmenden chinesischen Einfluss in der Region zu begegnen. China hat gerade erst letzten Monat eine diplomatische Annäherung zwischen dem Iran und Saudi-Arabien herbeigeführt, und als wichtiger Importeur von Öl aus dem Nahen Osten wird es versuchen, seine neue geopolitische Rolle zu nutzen, um die Marktdynamik zu seinen Gunsten zu beeinflussen.
Wandelnde Energie-Landkarte: Weltweite Auswirkungen
Europas sich wandelnde Energie-Landkarte wird daher weltweite Auswirkungen haben. Als die USA 2011 ihren strategischen „Schwenk in Richtung Asien“ verkündeten und durch Ausbeutung von Schieferöl- und -gasvorkommen größere Unabhängigkeit in Energiefragen erlangten, verringerte sich dadurch die Bedeutung des Nahen Ostens enorm. Während die OPEC in das ungemütliche Bündnis OPEC+ mit Russland gezwungen wurde, zwangen Klimabedenken die Länder des Nahen Ostens, anzufangen, ihre Wirtschaftsmodelle zu überdenken. Das hatte enorme soziale und politische Konsequenzen. Nun dürfte die Region zumindest kurz- bis mittelfristig ins Zentrum der Energie-Landkarte zurückkehren. Ob sie die Gelegenheit nutzen wird, um die Grundlagen für langfristige Stabilität zu schaffen, bleibt abzuwarten.
Aus dem Englischen von Jan Doolan
Copyright: Project Syndicate, 2023.
www.project-syndicate.org