Politik

Der Fall Aiwanger: Wie ein 35 Jahre altes Flugblatt die Bayern-Wahl entscheiden könnte

Es sind dramatische 24 Stunden im politischen Bayern: Ein altes Flugblatt bringt Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger vorübergehend ins Wanken, sechs Wochen vor der Wahl. Die Folgen sind noch unabsehbar. Der CSU könnte der Fall Aiwanger mehr schaden als dem Freie-Wähler-Chef persönlich.
27.08.2023 19:14
Lesezeit: 3 min
Der Fall Aiwanger: Wie ein 35 Jahre altes Flugblatt die Bayern-Wahl entscheiden könnte
Könnte Hubert Aiwanger vom Flugblatt-Skandal mehr profitieren als seine politischen Gegner? (Foto: dpa) Foto: Peter Kneffel

Am Tag nach dem bislang wohl schwersten Sturm seiner politischen Karriere steht Hubert Aiwanger in einer Halle im mittelfränkischen Ansbach. In der Mitte treiben Kinder kleine Kälber bei einem Rennen im Kreis, der Rinderzuchtverband Franken feiert sein 125-jähriges Bestehen. Aiwanger soll ein Grußwort sprechen. Auf dem Weg zur Tribüne schüttelt er Hände, macht mit Verbandsvertretern Selfies. Als er vor seiner Rede wartet, schaut Aiwanger häufig auf sein Handy, tippt. Zehn Minuten spricht er dann. Zum Sturm vom Vortag sagt er kein Wort. Und nach 30 Minuten ist er auch schon wieder weg.

Von Freitag- bis Samstagabend schienen Aiwanger und die Freien Wähler urplötzlich vor einem Trümmerhaufen zu stehen – und das sechs Wochen vor der bayerischen Landtagswahl. Die „Süddeutsche Zeitung“ berichtet in ihrer Wochenendausgabe, die am Freitagabend publik wird, über Vorwürfe an Aiwanger wegen eines antisemitischen Flugblatts, das vor mehr als 30 Jahren an dessen Schule verteilt worden sein soll. Ein Sprecher Aiwangers wird dort zwar mir den Worten zitiert, dieser habe „so etwas nicht produziert“ – und beklagt eine „Schmutzkampagne“.

Oktober-Überraschung

Doch für 24 Stunden steht das politische Bayern urplötzlich Kopf. Ist das so eine Art „October Surprise“ (Oktober-Überraschung) wie in den USA? Eine plötzliche, überraschende Wendung unmittelbar vor einer Präsidentschaftswahl, die die Wahl massiv beeinflussen könnte?

In diesem Fall: einer Landtagswahl, die eigentlich gelaufen schien. So stabil liegt die amtierende Koalition aus CSU und Freien Wählern in allen Umfragen, dass an einer Fortsetzung bis dato kein Zweifel bestand. Zumal beide Seiten immer wieder erklärt haben, das Bündnis auch nach der Wahl am 8. Oktober fortsetzen zu wollen. Und jetzt das.

Ministerpräsident Markus Söder (CSU), die Opposition, aber auch mehrere Mitglieder der Bundesregierung fordern Aufklärung. Die Vorwürfe wiegen so schwer, dass die politische Zukunft Aiwangers und die Zukunft der Koalition mit der CSU quasi am seidenen Faden hängen. Und was würde dann – sollte Aiwanger über die Affäre stürzen – aus den Freien Wählern, die quasi eine reine One-Man-Show sind? Sie sind auf ihren Frontmann mit dem polternden Auftreten und dem unverkennbaren Dialekt, dem in der Vergangenheit immer wieder Populismus vorgeworfen wurde, bayern- und auch bundesweit angewiesen.

Aiwanger dementiert

Dann die Wendung am Samstagabend. Der Freie-Wähler-Chef teilt in einer schriftlichen Erklärung mit: „Ich habe das fragliche Papier nicht verfasst und erachte den Inhalt als ekelhaft und menschenverachtend.“ Der Verfasser sei jemand anderes, es sei aber noch nie seine Art gewesen, „andere Menschen zu verpfeifen“. Kurz darauf räumt dann der ein Jahr ältere Bruder Aiwangers ein: „Ich bin der Verfasser des in der Presse wiedergegebenen Flugblattes.“ Andere Freie Wähler kommen aus der Deckung, verteidigen Aiwanger. Und wähnen einen gezielten Angriff auf die Partei kurz vor der Wahl.

Andererseits: Aiwanger räumt in seiner Erklärung ja auch ein, dass bei ihm „ein oder wenige Exemplare“ des abstoßenden Pamphlets in der Schultasche gefunden worden seien. Ob er „einzelne Exemplare“ weitergegeben habe, daran kann er sich nach eigenen Angaben heute aber nicht mehr erinnern.

Klar ist also, das sagen nicht nur Aiwanger-Kritiker: Er wird mit dem Flugblatt weiter in Verbindung gebracht werden – auch wenn er es vielleicht nicht selbst verfasst hat. Schon das ist für einen Spitzenpolitiker ein Makel. Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, mahnt: „Das Flugblatt darf (...) nicht einfach als Jugendsünde abgetan werden, da es die für unser Land so wichtige Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus regelrecht mit Füßen tritt.“ Inwiefern Aiwanger für die Verbreitung zumindest mitverantwortlich sei, werde in Gänze aber nicht aufzuklären sein.

Tatsächlich sind die Folgen der dramatischen 24 Stunden auch mit etwas Abstand noch unabsehbar. Welche Folgen könnte es für den Wahlausgang geben, insbesondere für Aiwanger? Und wackelt vielleicht doch die klare CSU-Koalitionsaussage zugunsten der Freien Wähler?

„Das wird Aiwanger nicht schaden“, prognostiziert die Politologin Jasmin Riedl von der Universität der Bundeswehr in München. „Denn meine Beobachtung ist: Er hat eine fast schon eingeschworene Unterstützerschaft. Und die wird auch weiter fest zu ihm halten.“ An seinen Zustimmungswerten werde sich sicher nichts ändern. „Die unterstützen Aiwanger, weil er so ist, wie er ist“, sagt Riedl.

Aiwanger als Profiteur?

Beim Koalitionspartner CSU fürchten einige sogar, dass Aiwanger am Ende profitieren könnte, dass es ein, zwei Prozentpunkte mehr werden. Weil das mit dem Flugblatt so lange her sei. Weil derart in seiner Vergangenheit gewühlt werde, das empfänden manche als unfair. Und weil er den eigenen Bruder bis zuletzt nicht verraten habe.

Ohnehin ist das Ganze ein Problem für die CSU und Söder – der bei Auftritten am Sonntag zur Causa Aiwanger schweigt. Nachdem er am Samstag vehement Aufklärung gefordert hatte, lässt der Regierungschef erst einmal offen, ob ihm Aiwangers Erklärungen reichen.

Es ist eine verzwickte Lage für Söder: Er hat sich so fest auf die Freien Wähler festgelegt und ein Bündnis mit den Grünen unter viel Jubel seiner eigenen Partei so oft und so klar ausgeschlossen, dass er politisch quasi an Aiwanger gekettet ist. „Das ist Söders Problem: Aiwanger kann fast machen, was er will“, sagt Politologin Riedl.

Auch wenn das Verhältnis zum Freie-Wähler-Chef spätestens seit dessen umstrittener Rede auf einer Kundgebung („Demokratie zurückholen“) als abgekühlt gilt und nun noch weiter erkalten dürfte: Eine Fortsetzung der Zusammenarbeit Söder-Aiwanger nach der Wahl gilt auch weiterhin als höchstwahrscheinlich. Manche in der CSU halten, wenn es gar nicht anders gehen und rechnerisch möglich sein sollte, noch eher ein Bündnis mit der SPD für denkbar als mit den Grünen.

Noch aber sind es sechs Wochen bis zum Wahltag - und in der Zeit wird die Opposition nicht locker lassen. Auch eine mögliche Sondersitzung im Landtag steht weiter im Raum. Der Sturm ist noch nicht zu Ende.

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