In der jüngeren Vergangenheit war es eine so sichere wie langweilige Angelegenheit. Vor jeder Sitzung des Rates der EZB war sich die übergroße Mehrheit der Geldexperten einig, dass es zu einer weiteren Erhöhung des Euro-Leitzinses kommen werde. Und so geschah es dann auch. In neun Schritten verabschiedete sich die EZB von ihrer Nullzins-Politik und schraubte den Leitzins auf jetzt 4,25 Prozent hoch.
Doch jetzt stehen die Spitzengremien der Zentralbank vor einer kniffligen Entscheidung – für eine zehnte Erhöhung des Leitzins-Satzes oder für ein Innehalten und eine Zinspause. Für beide Schritte gibt es gegenwärtig gute Argumente – und das spiegelt sich auch in den völlig unterschiedlichen Einschätzungen der wichtigen Marktbeobachter und -teilnehmer wider.
Argumente für beide Seiten
So gibt sich der Präsident der Deutschen Bundesbank, Joachim Nagel, in öffentlichen Stellungnahmen recht bedeckt: Es sei erforderlich, erklärt Nagel, die Zinsen so lange auf einem Niveau zu halten, „dass die Inflation eindämmt“. Diese verklausulierte Formulierung dürfte eher auf eine weitere vorsichtige Anhebung des Zinssatzes hindeuten, da die Eurozone insgesamt mit einer Inflationsrate von gegenwärtig 5,3 Prozent noch weit von dem selbstgesteckten Zwei-Prozent-Ziel der EZB entfernt ist. Auch die Zentralbankpräsidenten der Slowakei und der Niederlande, Kazimir und Knot, haben sich für einen weiteren Zinsschritt ausgesprochen. Knot bezeichnete es als das „absolute Minimum“, dass man das Inflationsziel bis 2025 erreiche, und er würde sich mit jeder Entwicklung, die diese Frist hinausschieben würde, unwohl fühlen.
Demgegenüber stehen aber im Zentralrat die Vertreter der südlichen Länder – zuweilen spöttisch auch Club Med genannt – die einer weiteren Erhöhung des Zinssatzes sehr skeptisch gegenüberstehen. Zum einen sieht ein Land wie Spanien mit einer gegenwärtigen Inflation von gerade 2,1 Prozent keinen Grund, an der Zinsschraube zu drehen. Andere Länder, wie beispielsweise Italien, haben aber mit einer Staatsverschuldungsquote von rund 160 Prozent des Bruttoinlandproduktes reale Befürchtungen, bei weiter steigenden Zinsen, ihre Schulden nicht bedienen zu können. Zudem leiden die Bevölkerungen fast aller südlichen Länder deutlich weniger unter einer Geldentwertung als die Deutschen. In all diesen Ländern ist nämlich die Quote an Immobilienbesitz deutlich höher als in Deutschland. Ein eigenes Heim ist – gerade im Alter – der verlässlichste Schutz gegen Inflation.
Die Geburtsfehler der Währung
So ist – wieder einmal – der Rat der EZB in einem Zielkonflikt gefangen. Dieser Zielkonflikt ist letztlich das Ergebnis einer Fehlkonstruktion der Gemeinschaftswährung selbst. Indem die Väter des Euros versäumt hatten, Geld- und Fiskalpolitik zusammenzuführen, entstehen innerhalb der Eurozone verlässlich unterschiedliche Konjunkturzyklen. Auf unterschiedliche Zyklen kann aber die Europäische Zentralbank, die selbst nur einen Zinssatz zur Verfügung hat, immer nur unzureichend antworten. Ergebnis: Für die einen – meist die Länder im Süden – ist der Zinssatz zu hoch, für den Rest oft zu niedrig.
Dabei gibt es vor der neuerlichen Zinsentscheidung ein weiteres Problem – die EZB steht vor der Herausforderung, den Zinsabstand zum US-Dollar nicht zu groß werden zu lassen. Gegenwärtig beträgt der Leitzins des US-Dollars 5,5 Prozent. Die amerikanische Federal Reserve hatte zwar auch relativ langsam auf die anziehende Inflation reagiert, war aber dennoch deutlich schneller als EZB-Präsidentin Christine Lagarde, die die Entwicklung vollkommen unterschätzt hatte. Das Ergebnis: nicht nur sind die Zinsen in den USA (noch) höher, auch die Inflation ist mit 3,4 Prozent niedriger. Das heißt aber, dass aber die Geldanlage in den USA deutlich rentierlicher ist als in der Eurozone. Die Folge: Das Kapital wandert aus der Eurozone aus – und zwar in die USA. So verzeichnete nach einer Studie des Instituts für Wirtschaft Deutschland allein im vergangenen Jahr einen Kapitalabfluss von 132 Milliarden Euro – Geld, das im Lande selbst für Investitionen fehlt. Einen dauerhaften Kapitalabfluss kann sich aber die Eurozone kaum leisten, da dies unweigerlich mit einem Rückgang der Investitionstätigkeit einhergeht, mit der Folge, dass Europa vor allem gegenüber den USA noch weiter zurückfällt. Hinzu kommt die Befürchtung, dass die nun wieder anziehenden Ölpreisen, die Inflation erneut anheizen.
Die Lehren der 70er-Jahre
Und noch eine andere Sorge treibt nicht wenige Zentralbanker um – die Sorge vor einer „Stagflation“. Die „Stagflation“ war ein Phänomen, das in den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Volkswirtschaften fast aller westlichen Industrienationen über ein Jahrzehnt hinweg belastete. Die Bekämpfung der „Stagflation“ – ökonomische Stagnation bei gleichzeitig hoher Inflation – erwies sich in diesen Jahren deshalb so schwierig, weil sich damals die Zentralbanken und Politik nicht dazu durchringen wollten, zuerst mit aller Macht die Inflation zu bekämpfen. Die politische Klasse stand damals in ihrem ökonomischen Denken noch unter dem nachhaltigen Einfluss der Theorien von James Maynard Keynes und suchte immer wieder ihr Heil in einer defizitfinanzierten Stimulierung der Nachfrage. Das Ergebnis war über ein Jahrzehnt hinweg ernüchternd: Die Haushaltsdefizite stiegen massiv, die wiederum die Inflation befeuerte und die schließlich jede Belebung der Wirtschaft erstickte.
Dieser Teufelskreis wurde erst Ende der 70-er und Anfang der 80er-Jahre durchbrochen, als die amerikanische Zentralbank unter ihrem Chef Paul Volcker sich ganz und gar dem Ziel der Inflationsbekämpfung verschrieb. Unerbittlich trieb er den Leitzins für den US-Dollar nach oben – auf für heutige Verhältnisse unvorstellbare 20 Prozent. Aber: Nach einer relativ kurzen, wiewohl scharfen Rezession erholte sich die amerikanische Wirtschaft wieder, die durch diese Rosskur den Inflationsvirus ausgeschwitzt hatte und setzte zu einem beinahe ein Jahrzehnt währenden Wirtschaftsaufschwung an.