Thomas Wolf, Inhaber des beliebten Lokals „Keyser Soze“ in Berlin-Mitte winkt ab: „Ach, die Mehrwertsteuer, hören sie doch auf damit, seit wann verzichtet der Staat schon auf Steuereinahmen. Wir haben völlig andere Probleme.“
Wolf, Bezirksbeauftragter des Hotel- und Gastronomieverbandes Berlin und zuständig für die Restaurants und Lokale im touristischen Herzen der deutschen Hauptstadt, verweist auf unzählige Kollegen, die sich „mit Bußgeldern von 7000 Euro pro Betrieb konfrontiert“ sehen. „Und wenn es zwei Inhaber gibt, verdoppelt sich die Summe auch gerne mal“, ärgert sich Wolf und wähnt „eine gezielte Kampagne, auf die sich Innenstadt-Verwaltungen verständigt haben“.
In Brandenburg und NRW Vorschriften weniger streng
Seit 25 Jahren betreibt Wolf sein Lokal im Szenekiez rund um die Große Synagoge Oranienburger Straße. „Ich habe wirklich versucht, die Eskalation abzuwenden, bin bis vor das Oberverwaltungsgericht gezogen, erfolglos. Die Lage für uns Gastronomen ist immer bedrohlicher.“ Die Ursache fängt zumeist harmlos mit einer Anzeige wegen Ruhestörung an. Kein isoliertes Problem in Berlin natürlich. Auch Wirte in München, Stuttgart oder Hamburg wissen ein Lied davon zu singen. In solchen Fällen haben es die Inhaber bisher zumeist mit freundlichen Ermahnungen an die Kundschaft versucht. Und mit Aushängen und der inständigen Bitte an die Gäste, Rücksicht zu nehmen nach 22 Uhr abends.
Diese Strategie ist aus Sicht der Dehoga in Berlin gescheitert. Die Sache sei durchgeurteilt, das wissen die Ordnungsämter - und auch die Anwohner. Die Ordnungsämter sind am Zug. Dabei erwartet Wolf Fingerspitzengefühl und eine grundlegende Kompromissbereitschaft, um die belebten Innenstädte in ihrer Lebendigkeit und Attraktivität zu schützen. Die meisten innerstädtischen Bewohner genießen das bunte Treiben in ihren Kiezen, glaubt er.
Gut möglich freilich, dass durch die Corona-Epidemie so mancher empfindlich reagiert auf Lautstärke und Stress. Lars Nickel zum Beispiel, der im Berliner Szene-Viertel Prenzlauer Berg an der Ecke Oderberger Straße/Kastanienallee lebt. 550 Meter ist die beschauliche Oderberger Straße lang und hat sich seit der Wiedervereinigung verändert wie kaum eine andere Straße im beliebtesten Wohnquartier der Hauptstadt. Mehr als 30 Bars und Restaurants gibt es da inzwischen, Tür an Tür. „Früher war hier nur die Feuerwache laut", sagt Nickel. „Lärm an sieben Tagen die Woche“ will er nicht länger hinnehmen.
Polizei kann nicht nachts von Kneipe zu Kneipe ziehen
Die Ordnungsämter sollten laut Nickel restriktiver durchgreifen, durch präzise Auflagen bei der Genehmigung der Schankterrassen etwa. Doch nachts ist da niemand für Beschwerden erreichbar. Nickel hat schon oft extra die Polizei gerufen. Die kann freilich nicht von Kneipe zu Kneipe ziehen. Wenn die endlich kommen, „erst eine Stunde später, sind die Gäste dann auch mal weg“, weiß Nickel zu berichten. Inzwischen haben er und weitere Nachbarn die Bürgerinitiative „Mach mal halblaut“ im Kiez gegründet und Anwälte in die Spur gesetzt.
„Meistens sind es nur eine Handvoll von Querulanten, die ursächlich sind für die Auseinandersetzungen“, weiß hingegen Thomas Wolf in Berlin-Mitte. Seiner Meinung nach seien die Bezirksämter trotzdem „dabei, hart durchzugreifen". Er fragt: „Wie kann das sein, in einer Stadt wie Berlin, die vom Tourismus lebt und Besuchern, die nach ihren Streifzügen gerne abends noch auf ein Bier im Freien sitzen?“ Verlässliche Zahlen, wie viele Wirte in ihrer wirtschaftlichen Existenz gefährdet sind, hat die Dehoga Berlin zwar nicht erhoben. Wolf ahnt: „Es sind viele von uns, denen derzeit die Bußgeld-Bescheide für letzten Sommer ins Kontor flattern.“ Forderungen mit bis zu fünfstelligen Summen.
Das es auch anders geht, sieht man in Bundesländern wie Brandenburg oder Nordrhein-Westfalen. Dort gibt es verlängerte Zeiten an Wochenenden bis 23 oder auch 24 Uhr. Die Dehoga Berlin hat deshalb auch einen Vorstoß in Richtung des Senats unternommen, die Rechtslage zu verändern. Ohne Erfolg, das Thema ist konfliktträchtig, da will offenbar niemand ran in der Politik.
Extra Schankgärten im Straßenraum zu Corona-Zeiten
Es ist noch nicht lange her, dass ausgerechnet Rot-Rot-Grün in der Corona-Zeit, den Wirten öffentliches Straßenland als Schankterrassen freigeräumt hat – rein aus epidemiologischen Gründen offenbar. Ausgerechnet die von grünen Kommunalpolitikern geführten Bezirksämter von Mitte sowie Friedrichshain-Kreuzberg gerierten sich neuerdings als Lust- und genussfeindliche Spaßverderber.
Was bleibt? Die „Berliner Morgenpost" hat einen Restaurant-Gipfel ins Gespräch gebracht, um die geballten Problem der Gastronomen zu lösen. Das nötige Fingerspitzengefühl und eine grundlegende Kompromissbereitschaft auf allen Seiten wären erforderlich, um die belebten Innenstädte in ihrer Lebendigkeit und Attraktivität zu schützen. Gut möglich allerdings auch, dass durch die Corona-Epidemie so mancher empfindlicher reagiert auf Lautstärke und Stress.
Statt Schallmessungen nun einfach Prognosegutachten
Entsprechend sind alle Seiten über das behördliche Vorgehen unglücklich. „Normalerweise würde man erwarten dürfen, dass nach einer Anzeige überprüft werde, ob die überhaupt berechtigt ist", sagt Thomas Wolf. Zum Beispiel durch Lärmpegelmessungen. Das Verfahren würde inzwischen „aber einseitig abgekürzt", indem mit Hilfe so genannter Prognosegutachten Aussagen über die Lärmbelästigung extrapoliert würden. Normale Immissionsrichtwerte für Gewerbelärm. also technische Geräte wie Musikanlagen oder auch Lüfter, gibt es obendrein. Der Richtwert liegt hier bei 60 Dezibel, in etwa so laut wie ein normales Gespräch. Nach 22 Uhr sollte er bis morgens um sechs Uhr die Schwelle von 45 Dezibel nicht überschreiten - die Wohnungslautstärke. Ausnahmen sind „nicht mehr als an zehn Tagen im Jahr“ erlaubt, heißt es laut Verordnung.
An der Oderberger Straße und auch in Friedrichshain an der Simon-Dach-Straße sind selbst diese Werte illusorisch. Vor ein paar Jahren waren dort sogar Pantomimen als Gästebändiger im Einsatz. Ein Engagement ohne großen Applaus. Der Bezirk hat daraufhin 2018 eine Allgemeinverfügung erlassen, seither war der Ausschank hier nur bis immerhin 23 Uhr erlaubt. Beide Seiten sind frustriert: Gestörte Anwohner blieben genervt, die Gastronomen unzufrieden.
In Kreuzberg wiederum, wo die Nächte bekanntlich lang sind, lief bis Ende Oktober das „Modellprojekt Lärmomat“. Ein Display glimmte dort den Sommer über nachts rot, wenn es zu feierlich (oder gar nicht mehr feierlich) wurde. Gut möglich, dass die betrübliche Auswertung nun zu einem harten und abgestimmten Kurs der zuständigen Ordnungsämter geführt hat.
In den Rathäusern bestreitet man dies. Im Prinzip müss ten Anwohner den verstärkten Lärm ertragen, ließ Manuela Anders-Granitzki (CDU), die für Prenzlauer Berg zuständige Bezirksstadträtin, die Bürgerinitiative wissen. Lars Nickel musste sich Bezirks-Parlament BVV belehren lassen, dass die Ämter im Streitfall „nur geringfügigen Lärm festgestellt“ hätten.
Thomas Wolf wünscht sich eine klare Regelung für alle Stadtteile. Er stellt die Frage, wie viele Wirte erst aufgeben müssen, bevor die Wirtschaftsverwaltung die ökonomischen Konsequenzen endlich beziffert und im Sinne der Unternehmen handelt. Das Thema dräut und köchelt in vielen Städten bundesweit. In Berlin scheint nun der Punkt erreicht, dass sich die Gastronomen beginnen, zur Wehr zu setzen. Bislang waren dies eher die hochsensiblen Betroffenen.